OGH 5Nc103/02w

OGH5Nc103/02w15.10.2002

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Klinger als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Floßmann und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofes Dr. Hurch als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Aleksandar M*****, geboren 24. April 1991 und Nemanja M*****, geboren 9. April 1993, beide vertreten durch Dejan M*****, alle *****, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichtes Döbling vom 27. Juli 2002, GZ 16 P 80/99w-102, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache der mj Aleksandar M*****, geboren 24. April 1991 und Nemanja M*****, geboren 9. April 1993 an das Bezirksgericht Linz-Land wird genehmigt.

Text

Begründung

Die mj Kinder Aleksandar und Nemanja M***** sind die ehelichen Kinder der Vesna M***** und des Dejan M*****. Sie sind Staatsbürger der SFR. Mit Scheidungsurteil des Gemeindegerichts Petrovac/Jugoslawien, Zl 915/97, wurde die Ehe der Kindeseltern am 17. 4. 1998 geschieden und mit dieser Entscheidung die Obsorge über die beiden Minderjährigen dem Vater Dejan M***** übertragen.

Vor der Scheidung hatten die väterlichen Großeltern im Familienverband mit den Eltern und den Kindern gemeinsam in L***** gelebt. Anlässlich der Trennung der Eltern im Oktober 1996 nahm die Mutter die beiden Kinder mit sich in ihre Wohnung in St. F***** in Oberösterreich. Anlässlich einer Besuchsrechtsausübung brachte der Vater die beiden Kinder Anfang März 1997 in die Bundesrepublik Jugoslawien. Dort lebten die Kinder in der Obsorge der väterlichen Großeltern. Das damals zuständige Pflegschaftsgericht Linz-Land stellte daraufhin das Pflegschaftsverfahren ein.

Im Jahr 1999 zogen die väterlichen Großeltern Zifka und Dragoslav M***** mit den beiden minderjährigen Kindern nach Wien. Sie beantragten am 8. 6. 1999 vor dem Bezirksgericht Döbling, ihnen die Obsorge hinsichtlich der beiden Minderjährigen zu übertragen, weil der Kindesvater unbekannten Aufenthalts sei. Daraufhin erfolgte eine Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Döbling, welches diese Übertragung annahm.

Nach Durchführung von Erhebungen übertrug das Bezirksgericht Döbling mit Beschluss vom 9. 12. 1999, 16 P 80/99w-56, die Obsorge über die mj Kinder den väterlichen Großeltern. Über Rekurs der Mutter wurde die Obsorgeentscheidung aufgehoben.

Am 4. 1. 2000 beantragte die Mutter Vesna M*****, wohnhaft in Linz*****, ihr die Obsorge über die beiden Kinder zu übertragen. Am 5. 6. 2000 folgte ein weiterer Antrag der Kindesmutter, ihr ein Besuchsrecht zu den mj Kindern einzuräumen.

Die Kinder lebten zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit ihrem Vater und den väterlichen Großeltern in Wien*****. Beide besuchten die Volksschule in Wien.

In der Folge entschied das Bezirksgericht Döbling über einen Unterhaltsfestsetzungsantrag des Vaters und verpflichtete die Mutter, für jedes der beiden Kinder monatlich einen Unterhaltsbetrag von S 663 zu Handen des Vaters zu bezahlen. Dieser Beschluss ist seit 22. 12. 2000 in Rechtskraft erwachsen. In der Folge wurde vom Bezirksgericht Döbling unter Beiziehung des Amts für Jugend und Familie, der MA 11 der Stadt Wien eine Besuchsanbahnung versucht, dies zur Vorbereitung einer Besuchsrechtsregelung. Schließlich wurde ein Sachverständiger bestellt, dessen Einladungen jedoch weder die Mutter noch der Vater folgten.

Das Bezirksgericht Döbling als Pflegschaftsgericht forderte dann die Kindeseltern auf, zu präzisieren, in welcher Form eine Besuchsrechtsregelung erfolgen könne.

Daraufhin wurde dem Bezirksgericht Döbling mitgeteilt, dass die Kinder und der Vater nunmehr nach LM in Oberösterreich gezogen seien. Beide Eltern beantragten die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Linz-Land.

Nach Stellungnahme der Mutter haben sich die Verhältnisse insofern geändert, als die Kinder nunmehr in L***** die Schule besuchen und Besuchskontakte zur Mutter hergestellt wurden.

Mit Beschluss vom 22. 7. 2002 übertrug das Bezirksgericht Döbling die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Linz-Land mit der Begründung, die Kinder hielten sich nun ständig im Sprengel dieses Gerichtes auf und es sei zweckmäßiger, dass die Pflegschaftssache von diesem Gericht geführt werde. Das Bezirksgericht Linz-Land lehnte die Übernahme der Zuständigkeit ab. Dies mit der Begründung, dass eine Übertragung der Zuständigkeit bei Vorliegen eines offenen Antrags nicht im Interesse der Pflegebefohlenen sei, wenn sich das bisher zuständige Gericht bereits eingehend - hier seit drei Jahren - mit dem offenen Antrag befasst habe und dementsprechend auch unmittelbar Vernehmungen und sonstige Erhebungen durchgeführt habe.

Daraufhin legte das Bezirksgericht Döbling den Akt gemäß § 111 Abs 2 JN dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung vor. Die Übertragung der Zuständigkeit liege im Interesse und Wohl der Kinder. Sämtliche Beteiligte, nämlich die Mutter, die Kinder und der Vater seien nunmehr dauernd im Sprengel des Bezirksgerichtes Linz-Land wohnhaft. Zwar sei die Obsorgefrage bisher nicht geklärt, doch müssten nun ergänzend die Lebensumstände der Mutter und des Vaters erhoben werden, eine Anhörung der Minderjährigen durchgeführt und ein psychologisches Gutachten eingeholt werden. Bei Weiterführung des Verfahrens durch das Bezirksgericht Döbling müssten alle diese Erhebungen im Rechtshilfeweg durchgeführt werden, was weder zweckmäßig sei, noch dem Grundsatz der Unmittelbarkeit entspreche.

Rechtliche Beurteilung

Der erkennende Senat hat dazu erwogen:

Nach § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere, wenn dadurch die wirksame Handhabung des dem Pflegebefohlenen zugedachten Schutzes voraussichtlich befördert wird. Diese Voraussetzung liegt in der Regel dann vor, wenn die Pflegschaftssache dem Gericht übertragen wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt der Lebensführung des Kindes liegt (EFSlg 66.880, 69.749, 72.819, 75.979, 85.185 uva). Offene Anträge sprechen im Allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung (stRsp ua EFSlg 75.992, 79.124 ua). Die ständige Rechtsprechung steht allerdings einer Zuständigkeitsübertragung dann ablehnend gegenüber, wenn ein Obsorgeantrag unerledigt ist (EFSlg 82.131, 75.991; RIS-Justiz RS0047027). Grund dafür ist vor allem, dass vor Entscheidung über den Obsorgeantrag noch nicht feststeht, ob das Kind überhaupt im Sprengel des Gerichtes bleiben wird, an das die Zuständigkeit übertragen werden soll (6 Nd 508/00). Ganz grundsätzlich ist eine Entscheidung über den Obsorgeantrag durch das bisher zuständige Gericht nur dann sinnvoll, wenn das Gericht bereits über entsprechende Sachkenntnisse verfügt oder jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht. Nur dann ist es für den Pflegebefohlenen von Vorteil, dass das bisher zuständige Gericht über den Obsorgeantrag entscheidet (6 Nd 508/00). Ist beispielsweise die aktuelle Lebenssituation der Mutter und ihre derzeitigen Zukunftspläne etwa unbekannt, können diese für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände effizienterweise nur vom nunmehrigen Wohnsitzgericht der Mutter und des Kindes erhoben werden (6 Nd 508/00).

Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ausschließlich daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann. Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen und Zukunftsprognosen miteinzubeziehen (EFSlg 36.020; ÖA 1992, 153; Schwimann² Rz 11 zu § 177 ABGB). Um beurteilen zu können, bei welchem Elternteil das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen die derzeitigen Lebensumstände bei beiden Elternteilen in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfeldes einander gegenübergestellt werden, unter Umständen auch der Betreuungsbeitrag der Großeltern wie im vorliegenden Fall mitberücksichtigt werden (vgl Schwimann aaO mwN). Nur wenn eine Erforschung aller maßgeblichen Lebensumstände aller Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet. An diesen Überlegungen ist auch die Zweckmäßigkeit der Übertragung zu messen.

Es kommt daher nicht entscheidend darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht, wie im vorliegenden Fall übrigens weitgehend vergeblich, um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen.

Obwohl im vorliegenden Pflegschaftsverfahren zwei Obsorgeanträge (jener der Großeltern und der der Mutter) ebenso unerledigt sind wie ein Antrag auf Besuchsrechtsregelung durch die Mutter, sprechen die dargestellten Umstände dafür, dass jenes Gericht die für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände effizienter erheben kann, in dessen Sprengel nun alle Beteiligten ihren Wohnsitz haben. Eine Beibehaltung der Zuständigkeit des bisherigen Pflegschaftsgerichts erweist sich damit als nicht im Einklang mit den in § 111 Abs 1 JN festgelegten Grundsätzen.

Die Zuständigkeitsübertragung war daher zu genehmigen.

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