OGH 4Ob1/22h

OGH4Ob1/22h20.12.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die fachkundigen Laienrichter Patentanwalt DI Dr. Martin Forsthuber und Patentanwalt DI Harald Nemec als weitere Richter in der Patentrechtssache der klagenden Partei T* GmbH, *, vertreten durch Kletzer Messner Mosing Schnider Schultes Rechtsanwälte OG in Wien und Patentanwalt Mag. DI Dr. Andreas Gehring, Puchberger & Partner Patentanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei A* AG, *, vertreten durch Schwarz Schönherr Rechtsanwälte KG in Wien und Weiser und Voith Patentanwälte Partnerschaft in Wien, wegen Unterlassung, Vernichtung, Rechnungslegung, Schadenersatz sowie Veröffentlichung (Gesamtstreitwert 64.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 16. November 2021, GZ 33 R 51/21v‑27, mit dem das Urteil des Handelsgerichts Wien vom 22. März 2021, GZ 58 Cg 37/19b‑23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0040OB00001.22H.1220.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Gewerblicher Rechtsschutz

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin ist Inhaberin des europäischen Patents „Anlage für die sichere Durchführung von Transaktionen (zwischen informationsverarbeitenden Anlagen) mittels mehrerer Authentifizierungscodes“.

[2] Die Beklagte betreibt eine Website, auf der sich ihre Kunden einwählen können. Um dies zu tun, steht dem Anwender eine Login-Maske zur Verfügung, in der Benutzername und Passwort einzugeben sind. Hat der Anwender sein Passwort vergessen, kann er ein Verfahren zur Passwortrücksetzung in Gang setzen. Er kann dann entscheiden, ob er den Code zum Zurücksetzen des Passworts per E‑Mail oder per SMS an seine Mobiltelefonnummer gesendet erhalten möchte.

[3] Die Klägerin beanstandet einen Eingriff in ihr Patent durch die Beklagte mittels der den Kunden der Beklagten angebotenen Methode zur Zurücksetzung eines vergessenen Passworts, und begehrte, diese zur Unterlassung zu verpflichten, zur Vernichtung aller Eingriffsgegenstände sowie zur Rechnungslegung und sodann zum Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens einschließlich des entgangenen Gewinns oder eines angemessenen Entgelts oder der Herausgabe des Gewinns; überdies begehrte die Klägerin eine Urteilsveröffentlichung.

[4] Die Beklagte verneinte die Patentverletzung und wendete ein, bei der Passwortrücksetzung werde insbesondere kein Zusatzcode im Sinn des Streitpatents verwendet.

[5] Das Erstgericht wies die Klage ab. Das Streitpatent beschreibe ein Verfahren, das unter anderem dadurch gekennzeichnet sei, dass die Auswerteeinheit einen zusätzlichen Codegenerator zur Erstellung eine Zusatzcodes und eine zusätzliche Sendeeinrichtung zur Übermittlung des Zusatzcodes über das primäre Netz an das Terminal und zur Ausgabe des Zusatzcodes aufweise, wobei das Terminal neben der Eingabemöglichkeit des Sicherheitscodes eine Ausgabe- und eine Eingabemöglichkeit für den Zusatzcode biete und die Auswerteeinheit derart ausgestaltet sei, dass diese den eingegebenen Zusatzcode überprüfe und bei der Gültigkeit des eingegebenen Sicherheitscodes und des Zusatzcodes die Transaktion autorisiere. Daraus und aus der Beschreibung des Streitpatents ergebe sich, dass die Auswerteeinheit sowohl den Sicherheitscode als auch den Zusatzcode überprüfe und bei positiver Prüfung beider die Transaktion autorisiere. Der Begriff „Transaktion“ des Streitpatents sei dahingehend auszulegen, dass eine einzelne Transaktion nur dann sicher sei, wenn ein einziger Sicherheitscode mit einem einzigen Zusatzcode korrespondiere und nur bei einer wechselseitig eindeutigen Übereinstimmung diese einzelne Transaktion durchgeführt werde. Jede Möglichkeit des „Experimentierens“ und jede Doppel‑ oder Mehrdeutigkeit sollten verhindert werden und führten aus dem Schutzbereich des Streitpatents hinaus. Das Merkmal M1.J des Streitpatents fordere daher, dass ein einziger Zusatzcode erstellt werde. Sei der Benutzer hingegen in der Lage, zwischen (mindestens) zwei TANs zu wählen und genauso einen von (mindestens) zwei Executive Parameter zu verwenden, um das eine angestrebte Ziel zu erreichen, sei der Anspruch des Streitpatents nicht erfüllt. Da das Passwortrücksetzungsverfahren der Beklagten eben diese Voraussetzung nicht erfülle, liege kein Eingriff in das Streitpatent vor.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung, bemaß den Wert des Entscheidungsgegenstands mit 30.000 EUR übersteigend und erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig. Die Merkmale des Streitpatents bestünden darin, dass jede einzelne Transaktion nur dann funktioniere, wenn ein einziger Sicherheitscode zu einem einzigen Zusatzcode passe. Der von der Beklagten verwendete Modus für die Transaktion „Erzeugung eines neuen Passworts“ erstelle nicht zwingend nur einen einzigen Zusatzcode (wie in M1.J des Streitpatents gefordert) und verletze daher das Streitpatent in keinem Anspruch.

[7] Dagegen richtet sich die – nach erfolgter Freistellung durch die Beklagte beantwortete – außerordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, der Klage stattzugeben; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Das Berufungsgericht habe keinerlei Feststellungen zur relevanten (Durchschnitts‑)Fachperson getroffen, die aber notwendig gewesen wären, um das Klagepatent rechtsrichtig auszulegen. Die (Durchschnitts‑)Fachperson würde den Begriff der „Transaktion“ im Zusammenhang mit der Sicherheitsrelevanz nicht derart interpretieren, dass dabei bloß (pauschal) Missbrauch verhindert werden soll, sondern würde konkret auf das Angriffsszenario abstellen, bei welchem eine wechselseitig eindeutige Übereinstimmung eines einzigen Sicherheits- und eines einzigen Zusatzcodes nicht notwendig sei. Der Klage wäre daher stattzugeben gewesen.

[8] In der Folge schränkte die Klägerin aufgrund des Ablaufs der maximalen Schutzdauer des Klagspatents am 22. 4. 2022 ihr Begehren um das Unterlassungsbegehren, das akzessorische Veröffentlichungsbegehren sowie das Beseitigungsbegehren auf Kosten ein. Die übrigen Begehren (Rechnungslegung [eingeschränkt auf den Zeitraum des aufrechten Patentschutzes], Zahlung) blieben aufrecht.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

[10] 1.1. Zunächst macht die Klägerin einen Mangel des Verfahrens der zweiten Instanz wegen „widersprüchlicher Feststellungen zu Sicherheitsüberlegungen“ geltend, bringt dazu jedoch bloß vor, das Berufungsgericht habe Tatsachenfeststellungen getroffen, auf deren Basis „der Verfahrensrüge stattzugeben wäre“.

[11] 1.2. Dazu ist darauf hinzuweisen, dass angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die vom Berufungsgericht nicht als solche anerkannt worden sind, nicht nach § 503 Z 2 ZPO geltend gemacht werden können (RS0042963, RS0043086). Worin in diesem Zusammenhang ein Mangel des Berufungsverfahrens selbst liegen sollte, konnte die Klägerin nicht nachvollziehbar darlegen. Zudem traf das Berufungsgericht – das vom Vorliegen einer reinen Rechtsfrage ausging – keine Tatsachenfeststellungen.

[12] 2.1. Die Klägerin erblickt eine Aktenwidrigkeit in der Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, dass das System der Beklagten eine Auswahlmöglichkeit mindestens zweier Codes zulasse. Dies widerspreche der Beilage ./7.

[13] 2.2. Eine Aktenwidrigkeit liegt bei einem Widerspruch zwischen Prozessakten und tatsächlichen Urteilsvoraussetzungen vor, wobei dieser Widerspruch einerseits wesentlich, andererseits unmittelbar aus den Akten ersichtlich und behebbar sein muss (RS0043421). Aktenwidrigkeit ist daher bei einem Widerspruch zwischen dem Inhalt eines bestimmten Aktenstücks einerseits und dessen Zugrundelegung und Wiedergabe durch das Rechtsmittelgericht andererseits verwirklicht (RS0043397 [T2], RS0043284). Eine Schlussfolgerung kann jedoch nicht den Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit bilden (RS0043256).

[14] 2.3. Die vom Berufungsgericht aus den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts zur Möglichkeit des Startens einer zweiten Transaktion gezogenen bloßen Schlussfolgerungen können daher schon begrifflich keine Aktenwidrigkeit begründen.

[15] 3. Zutreffend sind allerdings die Revisionsausführungen in der Rechtsrüge wegen der unvertretbaren Auslegung des Schutzbereichs des Patentanspruchs aufgrund fehlender Feststellungen zum entsprechenden Verständnis einer durchschnittlichen Fachperson.

[16] 3.1. Für Patente bestehen eigene Auslegungsregeln. Die Rechtsprechung, wonach Patentanmeldungen und insbesondere die Patentansprüche darin Willensklärungen sind, die nach den allgemeinen Grundsätzen über die Auslegung von Willenserklärungen auszulegen sind, geht auf die Rechtslage vor Inkrafttreten des § 22a PatG (BGBl 1984/234) zurück (RS0118278; RS0030757 [T10]). Bei einer Auslegung nach den in § 22a PatG iVm dem Protokoll über die Auslegung des Art 69 des Europäischen Patentübereinkommens festgelegten Grundsätzen ergeben sich aber keine wesentlichen Unterschiede zu einer Auslegung nach den §§ 914 ff ABGB (4 Ob 82/21v, 4 Ob 178/03k): Bei der Auslegung von Patentansprüchen sind die mit dem Patent verfolgten Ziele gegeneinander abzuwägen: ausreichender Schutz für den Patentinhaber und ausreichende Rechtssicherheit für Dritte. Für den ersten Gesichtspunkt ist die objektive Bedeutung der Erfindung, wie sie in den Patentansprüchen ihren Niederschlag gefunden hat, und nicht die subjektive Anstrengung des Erfinders maßgeblich; für den zweiten das, was der Fachmann bei objektiver Betrachtung den Patentansprüchen entnimmt (RS0118279). Der Schutzbereich des Patents muss für Außenstehende hinreichend sicher vorhersehbar sein (RS0118279 [T1]).

[17] 3.2. Bereits bei der Ermittlung des Schutzumfangs eines Patents ist also nach der Rechtsprechung des Senats (auch) auf das Erkenntnisvermögen des einschlägigen Fachmanns abzustellen. Das technische Verständnis des Fachmanns ist ein objektivierendes, der beweismäßigen Feststellung zugängliches Element (vgl 4 Ob 178/03k, zur Deckungsgleichheit der Begriffe „Gegenstand der Erfindung“ und „Schutzumfang des Patents“ siehe RS0071537). Die Behauptungs‑ und Beweislast dafür, dass der von der Beklagten verwendete Modus für die Transaktion „Erzeugung eines neuen Passworts“ nach dem technischen Verständnis des Fachmanns die Ansprüche des Klagepatents verletzt, trägt die Klägerin (vgl 4 Ob 178/03k). Nur bei klarer und unzweideutiger Fassung der Patentansprüche kann sich das Auslegungsergebnis auch bereits unmittelbar aus dem Wortlaut der Patentansprüche ergeben (vgl 4 Ob 82/21v).

[18] Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, wonach die „Kunstfigur der (Durchschnitts‑)Fachperson“ bei der Frage der Ermittlung des Schutzbereichs eines Patents grundsätzlich keine Rolle spielen könne, widerspricht daher der oben aufgezeigten Rechtsprechung.

[19] 3.3. Im vorliegenden Fall ist der Wortlaut des Patentanspruchs keineswegs so klar und unzweideutig, dass der Schutzumfang des Streitpatents ohne die „Kunstfigur der (Durchschnitts‑)Fachperson“ ermittelt werden könnte. So ist insbesondere die Auslegung des Merkmals M1.J dahingehend, dass eine wechselweise eindeutige Übereinstimmung bei Sicherheitscode und Zusatzcode vorliegen müsse und daher, wenn der Benutzer in der Lage ist, zwischen (mindestens) zwei TANs zu wählen und genauso einen von (mindestens) zwei Executive Parameter zu verwenden, um das eine angestrebte Ziel zu erreichen, der Anspruch des Streitpatents nicht erfüllt sei, nicht durch den Anspruchswortlaut gedeckt. Zu dieser Auslegung sind die Vorinstanzen bereits im Sicherungsverfahren (deren Ergebnisse im Hauptverfahren übernommen wurden) im Zusammenhang mit besonderen „Sicherheitsüberlegungen“ bei den Transaktionen, mit denen sich das Patent befasst, gekommen. Dagegen ist es aber durchaus vorstellbar, dass eine Fachperson dbeimMerkmal M1.J – selbst bei Berücksichtigung eines Bedarfs nach besonderer Sicherheit – zu einer anderen Auslegung käme.

[20] 3.4. Die Sache ist daher noch nicht spruchreif.

[21] Der Revision ist daher wegen des von der Revisionswerberin aufgezeigten sekundären Feststellungs-mangels – aufgrund fehlender Feststellungen zum technischen Verständnis einer Fachperson vom Schutzbereich des Streitpatents – im Sinn des Aufhebungsbegehrens Folge zu geben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen. Das Erstgericht wird die Patentansprüche, insbesondere unter Berücksichtigung der Merkmale M1.J, M1.L und M1.M, neuerlich zu beurteilen haben, wobei auf das Erkenntnisvermögen des einschlägigen Fachmanns abzustellen ist.

[22] 4. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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