European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0040NC00023.20Z.1130.000
Spruch:
Die mit Beschluss des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 21. Juli 2020, *****, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung dieser Unterhaltssache an das Bezirksgericht Weiz wird gemäß § 111 Abs 2 JN nicht genehmigt.
Begründung:
[1] Die beiden Minderjährigen sind die ehelichen Kinder von H***** W*****, und der F***** W*****. Die Ehe der Eltern wurde im Jahr 2018 einvernehmlich geschieden. Im Rahmen einer Unterhaltsvereinbarung vor der Bezirkshauptmannschaft Weiz verpflichtete sich der Vater zur Leistung eines Unterhaltsbeitrags von monatlich 353 EUR für jedes der beiden Kinder.
[2] Die Kinder werden von der Mutter betreut. Bis Ende Juni 2020 wohnten sie in B*****; seit 1. 7. 2020 lebt die Mutter mit den Kindern in Deutschland.
[3] Mit Antrag vom 29. Juni 2020 stellten die Kinder noch beim Bezirksgericht St. Johann im Pongau den Antrag, den Vater zu erhöhten Unterhaltsbeiträgen von je 465 EUR vom 1. 4. 2018 bis 31. 12. 2018 und von 595 EUR ab 1. 1. 2019 zu verpflichten. In diesem Antrag ist festgehalten, dass die Mutter mit den Minderjährigen ab 1. 7. 2020 nach Deutschland übersiedeln werde, die einschreitende Bezirkshauptmannschaft bis zum Abschluss des Verfahrens aber weiterhin deren Vertreter in Unterhaltsangelegenheiten bleibe.
[4] Mit Beschluss vom 21. Juli 2020 übertrug das Bezirksgericht St. Johann im Pongau die Zuständigkeit zur Besorgung der Unterhaltssache gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Weiz; die Übertragung werde mit der Übernahme der übertragenen Geschäfte durch das Bezirksgericht Weiz wirksam. Die Kinder hielten sich seit Juli 2020 ständig in Deutschland auf. Gemäß Art 3 lit a EuUVO sei das Gericht jenes Orts zuständig, an dem der Beklagte (Verpflichtete) seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe. Dieser Beschluss wurde sowohl der Bezirkshauptmannschaft St. Johann im Pongau als auch dem Vater zugestellt; er wurde nicht angefochten.
[5] Das Bezirksgericht Weiz lehnte die Übernahme der Unterhaltssache ab und stellte den Pflegschaftsakt an das übertragende Gericht zurück. Die Voraussetzungen nach § 111 JN seien nicht gegeben; die Kinder seien zu keiner Zeit im Sprengel des Bezirksgerichts Weiz aufhältig gewesen.
[6] Das Bezirksgericht St. Johann im Pongau legt den Akt nunmehr dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.
Rechtliche Beurteilung
[7] Die Übertragung der Unterhaltssache ist nicht zu genehmigen:
[8] 1. Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen oder sonst Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird (RIS‑Justiz RS0046984; RS0046929). Ausschlaggebendes Kriterium einer Zuständigkeitsübertragung nach § 111 Abs 1 JN ist stets das Kindeswohl (RS0047074).
[9] Bei einer Delegierung nach § 111 JN handelt es sich um ein besonderes verfahrensrechtliches Instrument, das aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen eine im Interesse des Kindeswohls gelegene Abweichung von der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung ermöglicht. Für eine solche Delegierung ist allein das Kindeswohl ausschlaggebend. Sie ist aber kein Mittel zur Entscheidung von Zuständigkeitsfragen, hier über die internationale örtliche Zuständigkeit nach der EuUVO. Aus diesem Grund setzt die Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 1 JN voraus, dass das übertragende Gericht zur Besorgung der Pflegschaftssache (international) örtlich zuständig ist (4 Ob 20/19g). Andernfalls hat das angerufene Gericht in jeder Lage des Verfahrens seine Unzuständigkeit auszusprechen und die Außerstreitsache (hier Unterhaltssache) nach § 44 JN an das zuständige Gericht zu überweisen (vgl RS0107254) bzw im unionsrechtlichen Kontext die Vorgaben der EuUVO einzuhalten.
[10] 2. Richtig ist, dass für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach Art 3 EuUVO (abgesehen von weiteren, hier nicht zutreffenden Zuständigkeitstatbeständen) das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem der Beklagte (der Unterhaltspflichtige) seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (lit a), oder das Gericht des Orts, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (lit b). In diesem Zusammenhang ist für den Anlassfall jedoch zu beachten, dass der zugrunde liegende Antrag auf Unterhaltserhöhung noch vor der Übersiedlung der Kinder nach Deutschland beim angerufenen Gericht eingebracht wurde (vgl dazu Art 9 ff EuUVO), sowie dass Art 5 EuUVO eine Heilung einer allfälligen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts durch rügelose Verfahrenseinlassung des Unterhaltspflichtigen vorsieht. Dabei handelt es sich jedoch um Fragen, die die internationale örtliche Zuständigkeit betreffen, über die aber nicht in einem Verfahren nach § 111 JN zu entscheiden ist.
[11] Die angestrebte Übertragung der Zuständigkeit, der keine Zweckmäßigkeitsüberlegungen zugrunde liegen, war damit nicht zu genehmigen.
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