Spruch:
Die mit Beschluss des Bezirksgerichts St. Johann/Pongau vom 23. September 2008, GZ 3 P 162/08a-S-8, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache des mj Christopher K*****, geboren am *****, an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien wird genehmigt.
Text
Begründung
Die Ehe der Eltern des Minderjährigen wurde am 28. 10. 2007 einvernehmlich geschieden. Im Scheidungsfolgenvergleich kamen die Eltern überein, dem Vater die alleinige Obsorge für den Minderjährigen zu übertragen. Diese Vereinbarung wurde auch pflegschaftsgerichtlich genehmigt. Seit August 2008 hält sich der Minderjährige mit Zustimmung des in Bad Hofgastein lebenden Vaters bis auf weiteres bei der Mutter in Wien auf, wo er seit Herbst 2008 eine HTL für Maschinenbau (Dauer der Ausbildung: fünf Jahre) besucht. Am 2. 6. 2008 stellte die Mutter den Antrag, ihr die alleinige Obsorge für den Minderjährigen zu übertragen (ON S-1). Der Vater sprach sich gegen diesen Antrag aus (ON S-3).
Das Bezirksgericht St. Johann/Pongau übertrug mit Beschluss vom 23. 9. 2008 (ON S-8) die Zuständigkeit zur Besorgung dieser Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien. Es sei zweckmäßiger, wenn das Gericht des ständigen Aufenthaltsorts des Minderjährigen die Pflegschaftssache führe.
Das Bezirksgericht Innere Stadt Wien verweigerte die Übernahme als nicht zum Wohle des Minderjährigen zweckmäßig (ON S-9) und legte den Akt sofort dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.
Der Oberste Gerichtshof stellte den Akt dem Bezirksgericht St. Johann/Pongau zurück, weil die Aktenvorlage vor Rechtskraft des Übertragungsbeschlusses und damit verfrüht erfolgt ist (ON S-11). Der Vater bekämpfte den Übertragungsbeschluss mit Rekurs (ON S-12), dem das Landesgericht Salzburg mit Beschluss vom 20. 5. 2009 (ON S-17) nicht Folge gab. Im Hinblick auf den nicht nur vorübergehenden Lebensmittelpunkt des Kindes in Wien und den Umstand, dass der mündige Minderjährige bislang noch nicht vom Gericht angehört worden sei, sei die Übertragung der Pflegschaftssache nach Wien am besten geeignet, das Kindeswohl zu fördern.
Am 28. 7. 2009 legte das Bezirksgericht St. Johann/Pongau den Akt neuerlich dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.
Rechtliche Beurteilung
Der Senat hat erwogen:
1. Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte zuständige Gericht von Amts wegen oder auf Antrag seine Zuständigkeit ganz oder zum Teile einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse eines Minderjährigen oder sonst Pflegebefohlenen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Grundsatz der perpetuatio fori - wonach jedes Gericht in Rechtssachen, die rechtmäßigerweise bei ihm anhängig gemacht wurden, bis zu deren Beendigung zuständig bleibt, wenn sich auch die Umstände, die bei Einleitung des Verfahrens für die Bestimmung der Zuständigkeit maßgebend waren, während des Verfahrens geändert hätten (§ 29 JN) - durchbrochen werden (4 Nc 104/02k; 4 Nc 22/05f; 4 Ob 5/04w). Diese Bestimmung bezweckt die Sicherstellung der wirksamsten Handhabung des pflegschaftsbehördlichen Schutzes (4 Nc 22/05f). Eine Übertragung muss daher im Interesse des Pflegebefohlenen gelegen sein (Fucik in Fasching/Konecny² I § 111 JN Rz 2).
2. § 111 JN nimmt darauf Bedacht, dass ein örtliches Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht und dem Pflegebefohlenen in der Regel zweckmäßig und von wesentlicher Bedeutung ist (Fucik aaO Rz 3), weshalb bei Kindern die Pflegschaftsaufgabe grundsätzlich von jenem Gericht wahrgenommen werden soll, in dessen Sprengel der Mittelpunkt ihrer Lebensführung liegt (RIS-Justiz RS0049144; RIS-Justiz RS0047027 [T10]).
3. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sprechen offene Anträge im Allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung nach § 111 JN (RIS-Justiz RS0046895). Offene Anträge können nur dann bedeutsam sein, wenn das Wohl des Kindes aus besonderen Gründen von dem bisher befassten Gericht wirksamer beachtet werden kann, etwa weil dem übertragenden Gericht eine besondere Sachkenntnis zukommt (4 Ob 5/04w).
4. Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ausschließlich daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann (RIS-Justiz RS0047027 [T9]). Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen; Zukunftsprognosen sind miteinzubeziehen. Um beurteilen zu können, bei welchem Elternteil das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen die derzeitigen Lebensumstände bei beiden Elternteilen in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfeldes einander gegenübergestellt werden, unter Umständen ist auch der Betreuungsbeitrag der Großeltern mitzuberücksichtigen. Nur wenn eine Erforschung der maßgeblichen Lebensumstände aller Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet (4 Ob 5/04w). Es kommt daher nicht entscheidend darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen (4 Nc 22/05f; 4 Ob 5/04w; RIS-Justiz RS0047027 [T7]).
5. Obwohl im vorliegenden Pflegschaftsverfahren der Obsorgeantrag der Mutter unerledigt ist, sprechen die dargestellten Umstände dafür, dass jenes Gericht die für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände effizienter erheben kann, in dessen Sprengel der Minderjährige und seine Mutter nun ihren Wohnsitz haben. Das Bezirksgericht St. Johann/Pongau hat zwar bereits Erhebungen durch Einholung von Stellungnahmen der beiden für die Wohnorte der Eltern zuständigen Jugendwohlfahrtsträger durchgeführt; allerdings wurde bisher weder ein Sachverständigengutachten zur Frage der Obsorgezuteilung eingeholt, noch wurden die Eltern oder der Minderjährige vom Gericht zu ihrer aktuellen Lebenssituation und ihren Zukunftsplänen einvernommen. Diese für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände können vom nunmehrigen Wohnsitzgericht der Mutter und des Kindes zweckmäßiger erhoben werden. Der bisher zuständige Pflegschaftsrichter konnte sich bisher auch nur allein vom Vater einen persönlichen Eindruck verschaffen (siehe ON S-10).
6. Eine Beibehaltung der Zuständigkeit des bisherigen Pflegschaftsgerichts erweist sich unter diesen Umständen als nicht im Einklang mit den in § 111 Abs 1 JN festgelegten Grundsätzen. Die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht des Aufenthaltsorts des Kindes war daher zu genehmigen.
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