OGH 4Ob5/04w

OGH4Ob5/04w20.1.2004

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Kodek als Vorsitzenden und durch die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Griß und Dr. Schenk sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel und Dr. Jensik als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Elisabeth S*****, geboren am *****, wegen Zuteilung der Obsorge, infolge Rekurses der Mutter Irene S*****, vertreten durch Musil & Musil Rechtsanwälte OEG in Wien, gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 12. Dezember 2003, GZ 12 Nc 61/03t-2, womit die mit Beschluss des Bezirksgerichtes Gänserndorf vom 21. November 2003, GZ 2 P 218/03b-26, ausgesprochene Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Donaustadt nicht genehmigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung folgenden

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die vom Bezirksgericht Gänserndorf verfügte Übertragung der Zuständigkeit in der Pflegschaftssache der mj Elisabeth S*****, geboren am *****, an das Bezirksgericht Donaustadt genehmigt wird.

Text

Begründung

Zwischen den Eltern der Minderjährigen, deren Ehewohnung sich in Groß Enzersdorf befindet, ist beim Bezirksgericht Gänserndorf ein Scheidungsverfahren anhängig.

Am 8. 7. 2003 stellte der nach wie vor in der Ehewohnung in Groß Enzersdorf wohnende Vater beim Bezirksgericht Gänserndorf den Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge, verbunden mit dem Antrag, ihm für die Dauer des Verfahrens die vorläufige Obsorge allein zu übertragen (ON 1) und brachte unter anderem vor, die Mutter habe die Minderjährige am 27. 6. 2003 zu ihren Eltern nach Wien 20 gebracht, wo sie sich weiterhin befinde.

Mit Schriftsatz vom 19. 8. 2003 (ON 7) begehrte die Mutter, die ihren eigenen Angaben nach damals mit der Minderjährigen in Wien 20,***** wohnte, die Übertragung der alleinigen Obsorge; sie habe am 27. 6. 2003 mit der Minderjährigen die Ehewohnung verlassen und sei vorübergehend in die Wohnung ihrer Eltern gezogen, habe jedoch die Absicht, ab September 2003 ihren ständigen Aufenthalt in Wien 22, ***** zu nehmen. Sie beantragte zugleich die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Leopoldstadt. Das Bezirksgericht Gänserndorf gab dem Übertragungsantrag statt (ON 8), das Bezirksgericht Leopoldstadt lehnte die Übernahme der Pflegschaftssache ab. Mit Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien vom 22. 9. 2003, 12 Nc 45/03i (ON 17) wurde die vom Bezirksgericht Gänserndorf gemäß § 111 Abs JN beschlossene Übertragung der Pflegschaftsssache an das Bezirksgericht Leopoldstadt im Hinblick auf den nunmehrigen Aufenthaltsort der Minderjährigen in Wien 22 nicht genehmigt.

Das Bezirksgericht Gänserndorf ersuchte mittlerweile die Eltern um nähere Auskünfte und beauftragte das Jugendamt Gänserndorf, Bericht und Stellungnahme zu den Anträgen der Eltern abzugeben (ON 18); der Bericht des Jugendamts langte am 5. 11. 2003 ein (ON 23). Der Vater beantragte, ihm ein vorläufiges Besuchsrecht einzuräumen (ON 20, ON 22).

Unter Hinweis auf den nunmehrigen ständigen Aufenthalt der Minderjährigen in Wien 22, ***** beantragte die Mutter mit Schriftsatz vom 19. 11. 2003 (ON 20) die Übertragung der Zuständigkeit gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Donaustadt. Das Bezirksgericht Gänserndorf übertrug mit Beschluss vom 21. 11. 2003 (ON 26) die Zuständigkeit zur Besorgung dieser Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Donaustadt. Die Minderjährige habe seit September 2003 ihren Wohnsitz in Wien 22 und gehe dort auch zur Schule. Der Wiener Jugendwohlfahrtsträger sei mit der Durchsetzung der Unterhaltsansprüche beauftragt. Sämtliche im Verfahren betroffenen Personen lebten in Wien, der Vater arbeite dort. Weitere Erhebungen zur Lebensituation der Minderjährigen wären ohne Übertragung im Amtshilfwege nur mit entsprechender zeitlicher Verzögerung zu pflegen. Dieser Beschluss wurde den Eltern bisher nicht zugestellt.

Das Bezirksgericht Donaustadt verweigerte die Übernahme (ON 27). Anträge auf Übertragung der alleinigen Obsorge und Erlassung einer einstweiligen Verfügung seien bereits im Juli 2003 beim Bezirskgericht Gänserndorf eingebracht worden, dieses habe bereits mit Erhebungen begonnen und sei auch für das Scheidungsverfahren zuständig. Es habe daher einen umfassenden Eindruck von den Parteien. Zwischen den Parteien hätte auch schon ein Schriftsatzwechsel stattgefunden.

Das Bezirksgericht Gänserndorf legte den Akt dem Oberlandesgericht Wien zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.

Das Oberlandesgericht Wien genehmigte die Übertragung der Pflegschaftssache nicht. Zwar stünden offene Anträge nur in Ausnahmefällen einer Übertragung entgegen; eine Übertragung sei jedoch vor allem dann unzweckmäßig, solange eine Entscheidung, welcher Elternteil mit der Obsorge betraut wird, nicht erfolgt sei, weil vor der Entscheidung über den Obsorgeantrag noch nicht feststehe, ob das Kind im Sprengel jenes Gerichts bleiben werde, an das die Zuständigkeit übertragen werden solle. Bleibe der eine Elternteil im Sprengel des bisher zuständigen Gerichts wohnen, könne die Übertragung der Zuständigkeit an jenes Gericht, in dessen Sprengel das Kind mit dem anderen Elternteil verziehe, bei Zuteilung der Obsorge an den verbleibenden Elternteil zu einem gleich mehrmaligen Wechsel des Pflegschaftsgerichtes führen. Auch hier hätten sowohl der Vater als auch die Mutter die Übertragung der alleinigen Obsorge beantragt. Das Bezirksgericht Gänserndorf habe dazu bereits Erhebungen gepflogen, bei ihm sei auch das Ehescheidungsverfahren der Eltern der Minderjährigen anhängig. Solange daher über diese offenen Anträge der Zuteilung der Obsorge nicht entschieden worden sei, stehe der zukünftige dauernde Aufenthalt der Minderjährigen nicht fest. Eine Übertragung der Zuständigkeit diene daher in diesem Stadium des Verfahrens nicht dem Kindeswohl.

Der Rekurs der Mutter ist jedenfalls zulässig (Mayr in Rechberger, ZPO² § 111 JN Rz 6 mwN); das Rechtsmittel ist auch berechtigt. Nach Auffassung der Mutter habe das Bezirksgericht Gänserndorf bisher keine besondere Sachkenntnis oder einen umfassenden Eindruck von den Parteien erworben, weil es weder im Pflegschafts-, noch im Scheidungsverfahren zu entsprechenden Beweisaufnahmen gekommen sei. Da der Vater seit dem Auszug der Mutter keinen Kindesunterhalt zahle, sei ein Unterhaltsverfahren anhängig zu machen, was sinnvollerweise beim Wohnsitzgericht des Kindes geschehen solle. Zwischen den Eltern bestehe Einvernehmen darüber, dass die Pflegschaftssache beim Bezirksgericht Donaustadt geführt werden solle (siehe Bekanntgabe des Vaters vom 12. 12. 2003), weil der Vater in Wien berufstätig sei. Dazu ist zu erwägen:

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das zur Besorgung der vormundschafts- oder kuratelsbehördlichen Geschäfte zuständige Gericht von Amts wegen oder auf Antrag seine Zuständigkeit zur Gänze oder die Aufsicht und Fürsorge über die Person des Pflegebefohlenen oder die Ausübung der dem Gerichte in Ansehung der Vermögensangelegenheiten des Pflegebefohlenen zukommenden Obliegenheiten ganz oder zum Teile einem anderen Gerichte übertragen, wenn dies im Interesse eines Mündels oder Pflegebefohlenen gelegen erscheint und namentlich wenn dadurch die wirksame Handhabung des dem Pflegebefohlenen zugedachten vormundschafts- oder kuratelsbehördlichen Schutzes voraussichtlich befördert wird. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Grundsatz der perpetuatio fori - wonach jedes Gericht in Rechtssachen, die rechtmäßigerweise bei ihm anhängig gemacht wurden, bis zu deren Beendigung zuständig bleibt, wenn sich auch die Umstände, die bei Einleitung des Verfahrens für die Bestimmung der Zuständigkeit maßgebend waren, während des Verfahrens geändert hätten (§ 29 JN) - durchbrochen werden (EFSlg 79.096; 4 Nc 104/02k). Diese Bestimmung bezweckt die Sicherstellung der wirksamsten Handhabung des pflegschaftsbehördlichen Schutzes (EFSlg 79.096; EFSlg 88.005; 4 Nc 104/02k). Eine Übertragung muss daher im Interesse des Pflegebefohlenen gelegen sein (Fucik in Fasching, JN² § 111 Rz 2; stRsp ua EFSlg 85.181; EFSlg 88.003).

§ 111 JN nimmt darauf Bedacht, dass ein örtliches Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht und dem Pflegebefohlenen in der Regel zweckmäßig und von wesentlicher Bedeutung ist (Fucik aaO Rz 3), weshalb bei Kindern die Pflegschaftsaufgabe grundsätzlich von jenem Gericht wahrgenommen werden soll, in dessen Sprengel sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben (EFSlg 69.750; EFSlg 79.101 ua). Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes sprechen offene Anträge im allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung nach § 111 JN (RIS-Justiz RS0046895). Offene Anträge können nur dann bedeutsam sein, wenn das Wohl des Kindes aus besonderen Gründen von dem bisher befassten Gericht wirksamer beachtet werden kann, etwa weil dem übertragenden Gericht eine besondere Sachkenntnis zukommt (vgl EFSlg 69.767; EFSlg 69.768 ua).

Die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Zuständigkeitsübertragung während eines aufrechten Obsorgestreits hat sich ausschließlich daran zu orientieren, welches Gericht die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände sachgerechter und umfassender beurteilen kann. Bei der Gesamtbeurteilung der für die Übertragung der Elternrechte maßgebenden Kriterien ist stets von der aktuellen Lage auszugehen;

Zukunftsprognosen sind miteinzubeziehen (EFSlg 36.020; ÖA 1992, 153;

Schwimann, ABGB² § 177 Rz 11). Um beurteilen zu können, bei welchem Elternteil das Wohl des Kindes besser gewährleistet ist, müssen die derzeitigen Lebensumstände bei beiden Elternteilen in ihrer Gesamtheit einschließlich des Umfeldes einander gegenübergestellt werden, unter Umständen ist auch der Betreuungsbeitrag der Großeltern mitzuberücksichtigen (Schwimann aaO mwN). Nur wenn eine Erforschung der maßgeblichen Lebensumstände aller Beteiligten möglichst vollständig und aktuell in die Entscheidung einfließen kann, ist das Wohl des Kindes gewährleistet. An diesen Überlegungen ist auch die Zweckmäßigkeit der Übertragung zu messen. Es kommt daher nicht entscheidend darauf an, ob und wie lange sich das bisher zuständige Gericht um die Ermittlung von Sachverhaltsgrundlagen bemüht hat, sondern ausschließlich darauf, welches Gericht eher in der Lage ist, die aktuelle Lebenssituation aller Beteiligten zu erforschen (5 Nc 103/02w).

Obwohl im vorliegenden Pflegschaftsverfahren zwei Obsorgeanträge ebenso unerledigt sind wie ein Antrag auf vorläufige Besuchsrechtsregelung durch den Vater, sprechen die dargestellten Umstände dafür, dass jenes Gericht die für die Obsorgeentscheidung besonders bedeutsamen Umstände effizienter erheben kann, in dessen Sprengel die Minderjährige und ihre Mutter nun ihren Wohnsitz haben. Anhaltspunkte dafür, dass das Bezirksgericht Gänserndorf im vorliegenden Fall bereits besonders intensiv mit den Persönlichkeiten der hier Beteiligten vertraut und in die Problematik der anstehenden Fragen eingearbeitet wäre, lassen sich dem bislang nicht besonders umfangreichen Akteninhalt nicht entnehmen. Erhebungen zum mütterlichen Umfeld wurden noch nicht gepflogen.

Eine Beibehaltung der Zuständigkeit des bisherigen Pflegschaftsgerichts erweist sich unter diesen Umständen als nicht im Einklang mit den in § 111 Abs 1 JN festgelegten Grundsätzen. Die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht des Aufenthaltsortes des Kindes war daher - wie dies im übrigen auch beide Elternteile wünschen - zu genehmigen.

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