European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0030OB00077.15T.0617.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden im Umfang der Abweisung des Unterhaltsbegehrens für den Zeitraum ab 1. April 2010 aufgehoben und dem Erstgericht wird auch insoweit die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Die am 19. März 2015 eingebrachte (zweite) Revisionsbeantwortung der beklagten Partei wird zurückgewiesen.
Begründung:
Die Ehe der Streitteile wurde mit Urteil des Erstgerichts vom 2. 7. 2004 aus dem überwiegenden Verschulden des Beklagten geschieden.
Die Klägerin hat ab September 2008 mehrere Strafanzeigen gegen den Beklagten erstattet, aufgrund derer von der Staatsanwaltschaft jeweils ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, dann jedoch eingestellt wurde. Im Rahmen ihrer Einvernahme zu einer der Anzeigen erhob die Klägerin am 26. 3. 2010 gegen den Beklagten auch den Vorwurf, er habe sie während aufrechter Ehe mehrfach, nämlich in den Zeiträumen „Winter 1996, Frühling/Sommer 1998, Sommer 1999 oder 2000, eine Woche vor Weihnachten 2001 und zu Silvester 2001“, vergewaltigt. Der Beklagte habe sie außerdem am 14. 3. 2004 dazu aufgefordert, eine Bestätigung zu unterschreiben, wonach sie ihn niemals wegen Vergewaltigung anzeigen werde. Auch das wegen des Verdachts der Vergewaltigung eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft Graz am 5. 10. 2010 gemäß § 190 Z 2 StPO eingestellt. Dies wurde damit begründet, dass die letzte Vergewaltigung noch während aufrechter Ehe im Jahr 2001 passiert sein solle, dies aber im Scheidungsverfahren nicht thematisiert worden sei und der Vorwurf gegenüber den Strafverfolgungsbehörden erstmals im Zuge einer Einvernahme im Jahr 2010 geäußert worden sei. Ein Fortführungsantrag der Klägerin wurde mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 9. 2. 2011 abgewiesen.
Die Klägerin begehrte zuletzt (im vierten Rechtsgang) die Zahlung rückständigen Unterhalts von insgesamt 56.000 EUR sA für den Zeitraum 1. 10. 2008 bis 31. 5. 2013 sowie laufenden Unterhalt in Höhe von 1.000 EUR monatlich beginnend mit 1. 6. 2013. Eine Verwirkung ihres Unterhaltsanspruchs sei nicht eingetreten.
Der Beklagte wendete zusammengefasst ein, die Klägerin habe ihren Unterhaltsanspruch beginnend mit Oktober 2008 insbesondere aufgrund der zahlreichen Strafanzeigen, die sie gegen ihn erstattet habe, verwirkt.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren (im vierten Rechtsgang neuerlich) ab. Die Klägerin habe mehrere Verhaltensweisen gesetzt, die die Verwirkung ihres Unterhaltsanspruchs nach § 74 EheG zur Folge hätten. So habe sie mehrfach Anzeigen erstattet, die allesamt nicht zu einer Verurteilung des Beklagten geführt hätten. Vielmehr seien alle Ermittlungsverfahren eingestellt worden. Neben weiteren (im Einzelnen angeführten) Verfehlungen sei auch die Anschuldigung der Klägerin, der Beklagte habe sie während aufrechter Ehe mehrfach vergewaltigt, eine dermaßen schwere, dass das Bekanntwerden solcher Vorwürfe in der Öffentlichkeit selbst dann, wenn es niemals zu einer Verurteilung komme, geeignet sei, den Ruf einer Person immens zu schädigen. Die Delikte gegen die sexuelle Integrität fielen nämlich in einen der gesellschaftlich sensibelsten Bereiche und die Klägerin habe den Beklagten durch diesen Vorwurf nicht nur der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt, sondern ihn auch in Gefahr gebracht, öffentlich stigmatisiert zu werden. Das Bekanntwerden solcher Vorwürfe sei daher geeignet, nicht nur in die höchstpersönliche, sondern auch in die geschäftliche Interessensphäre des Beklagten einzugreifen. Eine solche Behauptung stelle deshalb jedenfalls einen schweren Übergriff der an sich unterhaltsberechtigten Klägerin dar, vor dem § 74 EheG den Unterhaltspflichtigen schützen wolle. Ferner erscheine es in diesem Zusammenhang seltsam, dass die Klägerin diese Vorwürfe nicht schon früher erhoben habe, etwa im Rahmen des Scheidungs- oder des nachehelichen Aufteilungsverfahrens.
Das Berufungsgericht bestätigte die Abweisung des Unterhaltsbegehrens für den Zeitraum ab 1. 4. 2010 (als Teilurteil) und hob das angefochtene Urteil im übrigen Umfang ‑ ohne Rechtskraftvorbehalt ‑ auf, weil für den Zeitraum vor Ende März 2010 entgegen der Ansicht des Erstgerichts nicht von einer Unterhaltsverwirkung auszugehen sei und deshalb Feststellungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Streitteile zu treffen seien, aufgrund derer die Höhe des Unterhaltsanspruchs der Klägerin ermittelt werden könne. Mit dem am 26. 3. 2010 erhobenen Vergewaltigungsvorwurf habe die Klägerin eine derart gravierende Verfehlung begangen, dass es dem Beklagten ab 1. 4. 2010 nicht mehr zuzumuten sei, ihr Unterhalt zu leisten. Sie habe diesen Vorwurf nämlich erstmals rund sechs Jahre nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft gegenüber einer Behörde erhoben, während er nicht einmal im Scheidungsverfahren, in dem eine solche Verfehlung des Beklagten der Klägerin im Rahmen der Verschuldensabwägung einen Vorteil bringen hätte können, thematisiert worden sei. Dieser Vorwurf habe auch insofern eine große negative Auswirkung auf die Interessensphäre des Beklagten, weil es sich dabei um einen überaus sensiblen Bereich handle. Die Klägerin habe die Vergewaltigungsvorwürfe auch noch im Rahmen ihrer Berufungsausführungen wiederholt.
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision gegen den bestätigenden Teil seines Urteils zu, weil zur Frage, ob bei wechselseitiger Erstattung von Strafanzeigen eine Verwirkung des Unterhaltsanspruchs überhaupt eintreten könne, bisher höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
Rechtliche Beurteilung
Die (nach Bewilligung der Wiedereinsetzung rechtzeitige) Revision der Klägerin ist im Hinblick auf eine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung der Vorinstanzen zulässig.
Der Beklagte beantragt in seiner bereits vor förmlicher Zustellung einer Gleichschrift der Revision zur Revisionsbeantwortung (aus Anlass der Aufhebung des [ersten] den Wiedereinsetzungsantrag abweisenden Beschlusses des Erstgerichts) eingebrachten und daher jedenfalls rechtzeitigen Revisionsbeantwortung (ON 242), der Revision nicht Folge zu geben. Die von ihm nach Bewilligung der Wiedereinsetzung und Zustellung einer Gleichschrift der Revision eingebrachte zweite (inhaltsgleiche) Revisionsbeantwortung (ON 262) ist im Hinblick auf die Einmaligkeit des Rechtsmittels (der Rechtsmittelbeantwortung) zurückzuweisen (RIS‑Justiz RS0041666).
Die Revision der Klägerin, in der sie unter anderem darauf hinweist, dass die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft noch nicht bedeute, dass der Beklagte die angezeigte Tat nicht begangen habe, ist im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.
1. Der Berechtigte verwirkt seinen Unterhaltsanspruch gemäß § 74 EheG unter anderem dann, wenn er sich nach der Scheidung einer schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen schuldig macht. Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Unterhaltsverwirkung eine besonders schwerwiegende, das Maß schwerer Eheverfehlungen iSd § 49 EheG übersteigende Verfehlung gegen den früheren Ehegatten voraus, sodass dem Verpflichteten die Unterhaltsleistung nicht mehr zumutbar ist (RIS‑Justiz RS0078153 [T6]).
2. Bei Ehrverletzungen, falschen Anschuldigungen und Verstößen gegen ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse durch Verbreitung vertraulicher Tatsachen sind als Kriterien für die Erfüllung des Verwirkungstatbestands die dem Verhalten zugrundeliegende Gesinnung, die Art und das Gewicht der erhobenen Vorwürfe sowie die Art ihrer Weitergabe und deren Auswirkungen auf die Interessensphäre des Unterhaltspflichtigen anzusehen (RIS‑Justiz
RS0078153 [T5]). Eine Unterhaltsverwirkung aufgrund falscher Anschuldigungen tritt allerdings nicht schon dann ein, wenn die Vorwürfe objektiv unrichtig sind, sondern setzt voraus, dass sie vom Unterhaltsberechtigten bewusst wahrheitswidrig erhoben werden (vgl 7 Ob 699/83).
3. Dass die Klägerin den Vergewaltigungsvorwurf bewusst wahrheitswidrig, also wissentlich falsch iSd § 297 Abs 1 StGB, erhoben hätte, lässt sich den Feststellungen, wonach (auch) das aufgrund dieser Anzeige der Klägerin eingeleitete Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft Graz gemäß § 190 Z 2 StPO eingestellt wurde und ein von der Klägerin gestellter Fortführungsantrag erfolglos blieb, nicht entnehmen. Die weitere (in der Beweiswürdigung dislozierte) Feststellung des Erstgerichts, wonach die tatsächliche Begehung der diversen von der Klägerin zur Anzeige gebrachten Taten des Beklagten nicht mit der im zivilgerichtlichen Verfahren erforderlichen Sicherheit feststellbar sei, bedeutet im Gegenteil, dass der für das Vorliegen eines Verwirkungstatbestands beweispflichtige Beklagte (RIS‑Justiz RS0057400 [T2]) nicht nur keine bewusst wahrheitswidrige Anschuldigung der Klägerin, sondern nicht einmal die objektive Unrichtigkeit ihrer Anzeige nachweisen konnte.
Mit dieser Negativfeststellung steht im Übrigen auch die vom Erstgericht in der rechtlichen Beurteilung nachgetragene Feststellung in Einklang, wonach die Klägerin die Anzeigen „nicht nur zum Zwecke der Wahrheitsfindung, sondern auch in Schädigungsabsicht gegenüber dem Beklagten eingebracht“ habe: Hat die Klägerin nämlich einen strafrechtlich relevanten Vorwurf (nicht nur, aber eben auch) „zum Zweck der Wahrheitsfindung“ erhoben, verbietet sich geradezu die Annahme, sie habe diese Anzeige wissentlich falsch erstattet.
4. Da nicht einmal die objektive Unrichtigkeit des Vergewaltigungsvorwurfs feststeht, führt auch die Tatsache, dass die Klägerin diese Anzeige nach den Feststellungen auch in Schädigungsabsicht erstattet hat, nicht zur Unterhaltsverwirkung. Solange der Vorwurf nicht ausschließlich in Schädigungsabsicht erhoben wird und die Anzeigeerstattung nicht den Tatbestand der Verleumdung nach § 297 Abs 1 StGB erfüllt, hat das Opfer einer (allenfalls auch nur vermeintlichen) Straftat nämlich zweifellos das Recht, eine Strafanzeige zu erstatten. Umso weniger kann der Klägerin zum Vorwurf gemacht werden, dass sie den Vergewaltigungsvorwurf auch noch in ihrer Berufung wiederholt hat.
5. Das Erstgericht wird deshalb im fortgesetzten Verfahren auch für den Zeitraum seit 1. 4. 2010 Feststellungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Streitteile zu treffen haben, aufgrund derer beurteilt werden kann, in welcher Höhe der Klägerin ein Unterhaltsanspruch gegen den Beklagten zusteht.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)