OGH 3Ob67/21f

OGH3Ob67/21f24.6.2021

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun-Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen L*****, geboren am ***** 2018, wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs der Mutter R*****, vertreten durch Dr. Martin Melzer, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, dieser vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 17. Februar 2021, GZ 43 R 49/21f‑45, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 23. Dezember 2020, GZ 72 Ps 35/18t‑36, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0030OB00067.21F.0624.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] Die Mutter der Minderjährigen war bei deren Geburt knapp 15 Jahre alt; mit dem (im Jahr 2000 geborenen) Vater des Kindes war sie nie verheiratet und dieser interessiert sich nicht für seine Tochter. Ab der Geburt des Kindes bis zur Volljährigkeit der Mutter war der Kinder‑ und Jugendhilfeträger gemäß § 207 ABGB mit der Obsorge im Bereich der gesetzlichen Vertretung und der Vermögensverwaltung betraut; die Pflege und Erziehung wurde hingegen der Mutter überlassen.

[2] Die Mutter selbst war von 2013 bis 2014 wegen ihres gewalttätigen Stiefvaters, vor dem ihre Mutter sie nicht ausreichend schützen konnte, in voller Erziehung der Stadt Wien gestanden. Sie hat drei jüngere Halbgeschwister, wobei die beiden jüngsten, im Mai 2010 geborene Zwillinge, seit 2013 dauerhaft bei Pflegeeltern leben. Die Obsorge für diese beiden Kinder wurde ihrer Mutter (der Großmutter mütterlicherseits) mit Beschluss vom 23. November 2018 im Umfang der gesamten Pflege und Erziehung wegen Gefährdung des Kindeswohls rechtskräftig entzogen, weil sie trotz langfristiger und intensiver Inanspruchnahme von Betreuungs- und Beratungsangeboten, etwa Erziehungsberatung und mobile Arbeit, nicht erziehungsfähig ist.

[3] Nach ihrer Entlassung aus der Wohngemeinschaft des Kinder- und Jugendhilfeträgers lebte die Mutter seit Mitte 2014 bis zur Geburt ihres Kindes im Jahr 2018 mit ihrer 2007 geborenen Halbschwester und ihrer Mutter im gemeinsamen Haushalt.

[4] Am Tag nach der Geburt des Kindes traf der Kinder‑ und Jugendhilfeträger mit der Mutter eine Vereinbarung hinsichtlich der Pflege und Erziehung des Kindes, in der unter anderem festgehalten wurde, dass die Mutter ihre Tochter nicht mit der Großmutter mütterlicherseits alleine lassen dürfe, wöchentlich medizinische Kontrollen im Familienzentrum der MA 11 und regelmäßige Hausbesuche durch Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen stattfinden müssten. Die Mutter erklärte sich bereit, sich an diese Vorgaben zu halten. Gleichzeitig wurde sie für einen Platz in einer Mutter-Kind-Unterbringung angemeldet. Sie lehnte diesen Platz jedoch ab und zog stattdessen – in Absprache mit dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger – zur mütterlichen Urgroßmutter.

[5] Die Mutter besucht seit Herbst 2019 eine Schule für Tourismus und Wirtschaft. Das Kind war deshalb oft von 7:00 Uhr bis 17:00 Uhr im Kindergarten. Freitags, Samstags und Sonntags arbeitete die Mutter neben der Schule in einem Hotel als Servicekraft. Aufgrund von Ausbildung und Arbeit hatte sie wenig Zeit für ihr Kind; Zeit für sich selbst hatte sie maximal zwei Stunden nach der Schule. Trotz der Unterstützung durch die Urgroßmutter wurde es für die Mutter immer schwieriger, den Alltag zu bestreiten. Schließlich wurden ihr die Belastungen durch Ausbildung, Arbeit und Kinderbetreuung zu viel. Sie fühlte sich „kaputt und kraftlos“. Nach der Arbeit am Wochenende kam sie sehr müde nach Hause.

[6] Mit dem Online-Unterricht im Zuge des (ersten) Corona-bedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 und der damit verbundenen Kindergartenschließung war die Mutter endgültig überfordert und erkannte selbst, dass sie nicht mehr in der Lage war, allein ausreichend für das Kind zu sorgen. Sie wandte sich daher am 21. April 2020 an den Kinder- und Jugendhilfeträger und äußerte mehrfach, dass sie mit der Betreuung des Kindes überfordert sei und es unter den gegebenen Umständen nicht mehr weiter betreuen und versorgen könne. Sie bat aufgrund ihrer Erschöpfung und weil sie sich „innerlich leer“ fühlte, um Unterstützung. Dabei hoffte sie auf Hilfe in Form einer Tagesmutter oder einer Familienhilfe, die ein bis zwei Mal wöchentlich in den Haushalt kommt.

[7] Seitens des Kinder- und Jugendhilfeträgers wurden daraufhin Mutter und Kind umgehend für einen Platz in einer Mutter-Kind-Unterbringung angemeldet. Die Mutter lehnte diese Unterstützungsform jedoch vehement ab, weil sie aufgrund ihrer Erfahrungen während ihrer eigenen „vollen Erziehung“ durch den Kinder- und Jugendhilfeträger und des damit verbundenen Aufenthalts in einer Wohngemeinschaft nicht dort bleiben wollte; sie wollte nicht von zuhause weggehen.

[8] Nach dem Gespräch vom 21. April 2020 gab die Mutter gegenüber dem Kinder- und Jugendhilfeträger an, dass sie ihre Tochter zwei bis drei Mal pro Woche von ihrem besten Freund und dessen Mutter betreuen lasse. Für den Kinder‑ und Jugendhilfeträger war oft nicht erkennbar, von wem das Kind aktuell betreut wird und wo es sich aufhält. So gab sogar die Großmutter an, das Kind auch zu betreuen, was von der Mutter jedoch bestritten wurde.

[9] In den Wochen nach dem 21. April 2020 war die Mutter für den Kinder‑ und Jugendhilfeträger nur sehr schwer erreichbar, sagte Termine ab oder gab an, diese vergessen zu haben. Nachdem die Mutter selbst erklärt hatte, überfordert zu sein, und versucht hatte, das Kind immer wieder von anderen Personen oder übermäßig lange im Kindergarten betreuen zu lassen, war eine umfassende Abklärung erforderlich, um langfristige kindgerechte Lösungen für die Zukunft zu finden. Da dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger persönliche Gespräche sowie auch ein persönlicher Kontakt mit dem Kind von der Mutter verunmöglicht wurden und große Sorge um das Wohl des Kindes entstanden, wurde entschieden, die Minderjährige am 17. Juni 2020 vom Kindergarten abzuholen und im Rahmen der Krisenpflege unterzubringen.

[10] Nachdem die Mutter nach der Geburt des Kindes im Jahr 2018 bereits eine Unterbringung im Mutter-Kind-Heim abgelehnt hatte, wurden mit ihr seitens des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers alternative Unterstützungsmöglichkeiten besprochen, wie etwa eine Tagesmutter. Da das Kind im Juni 2020 jedoch bereits einen Kindergartenplatz hatte und dort sehr viele Stunden täglich betreut wurde, zog die Kinder‑und Jugendhilfe zu diesem Zeitpunkt eine zusätzliche Betreuung durch eine Tagesmutter nicht in Betracht. Seitens der Stadt Wien gibt es auch keine aufsuchende Familienarbeit, die in der für die Mutter verfügbaren Zeit angeboten werden und die von der Mutter gewünschte und benötigte Unterstützung bieten kann. Die einzige für den Kinder- und Jugendhilfeträger mögliche und dem Wohl des Kindes entsprechende Unterstützungsform wäre eine Unterbringung im Mutter-Kind-Heim gewesen. Im Rahmen einer solchen Unterbringung hätte auch an der Verselbstständigung der Mutter und ihrer Ablösung von der Großmutter gearbeitet werden können. Die Mutter schloss allerdings trotz dreimaliger Versuche im Juli 2020 eine solche Unterbringung für sich und das Kind aus. Daraufhin wurde das Kind von der Krisenpflege in Dauerpflege übernommen. Am 15. August 2020 ist die Minderjährige zu Pflegeeltern übersiedelt.

[11] Neben der Mutter war die Urgroßmutter die nächste Bezugsperson des Kindes, weil dieses gemeinsam mit der Mutter in deren Haushalt lebte. Beim angekündigten Hausbesuch der Familien‑ und Jugendgerichtshilfe bei der Urgroßmutter am 24. August 2020 verweigerte diese im Beisein der Mutter und deren Onkels dem Mitarbeiter der Familien‑ und Jugendgerichtshilfe den Zutritt zur Wohnung. Die Mutter kam auf dessen Ersuchen zur Tür und verhielt sich vorwiegend passiv. Die (kaum Deutsch sprechende) Urgroßmutter ließ über den Onkel mitteilen, dass die Familie bereits Zwillinge und ein anderes Kind an den Kinder- und Jugendhilfeträger verloren habe; damals habe sie diesem auch Zutritt zu ihrer Wohnung gewährt. Der Urgroßmutter wurden daraufhin ausführlich der Auftrag und die Funktion der Familien‑ und Jugendgerichtshilfe erklärt, sie zeigte aber keine Kooperationsbereitschaft.

[12] Trotz der schwierigen Ausgangssituation der Mutter aufgrund der problematischen Familienverhältnisse hat diese es mit Unterstützung durch die Urgroßmutter, den Kinder‑ und Jugendhilfeträger und den Kindergarten geschafft, die Minderjährige in den ersten beiden Lebensjahren gut zu versorgen, zu pflegen, zu fördern und eine stabile, vertrauensvolle und belastbare Beziehung zu ihr aufzubauen. Bis April 2020 war sie auch sehr zuverlässig und hat Termine mit dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger überwiegend eingehalten.

[13] Eine Betreuung im Kindergarten im Ausmaß von zehn Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche ist für ein so junges Kind wie die Minderjährige eine zu lange Zeitspanne, weil wesentliche Bedürfnisse des Kindes, die für eine förderliche Entwicklung notwendig sind, wie kontinuierliche Zuwendung und Geborgenheit durch eine Hauptbezugsperson, nicht erfüllt werden können. Die von der Mutter im April 2020 gewünschte Unterstützung durch eine Tagesmutter hätte als zeitliche Verlängerung der Fremdbetreuung nicht den kindlichen Bedürfnissen entsprochen.

[14] Die Minderjährige benötigt für ihre Entwicklung eine zuverlässige, emotional verfügbare Bezugsperson, die ihr zeitliche Ressourcen geben und ihre kindlichen Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen kann. Die Hauptbezugsperson muss auch in der Lage sein, die kontinuierliche Versorgung und Förderung des Kindes sicherzustellen. Die Mutter kann diese Anforderungen aufgrund ihrer Lebensumstände derzeit und in absehbarer Zukunft nicht gewährleisten. Das Wohl des Kindes wäre massiv gefährdet, wenn es unter den gegebenen Umständen von der Mutter betreut würde, weil seine Basisversorgung dann nicht ausreichend sichergestellt wäre, zumal die Mutter zu wenig Unterstützung aus ihrem näheren sozialen und familiären Umfeld hat. Innerhalb der Familie gibt es auch keine Personen, die die Obsorge bzw die Pflege und Erziehung des Kindes übernehmen könnten.

[15] Im Anschluss an die Sofortmaßnahme gemäß § 211 Abs 1 ABGB stellte der Kinder‑ und Jugendhilfeträger den Antrag, die gesamte Pflege und Erziehung im Innenverhältnis an ihn zu übertragen.

[16] Die Mutter sprach sich dagegen aus und beantragte, das Kind unverzüglich wieder in ihre Pflege und Erziehung zurückzuführen.

[17] Das Erstgericht entzog der mittlerweile volljährigen Mutter die Obsorge für die Minderjährige und übertrug diese im Bereich der Pflege und Erziehung dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger. Die Mutter könne es derzeit und in absehbarer Zukunft aufgrund ihrer Lebensumstände nicht verlässlich schaffen, für ihre Tochter eine ausreichende Basisversorgung bzw Betreuung sicherzustellen. Sie sei daher nicht in der Lage, die Obsorge für das Kind im Bereich der Pflege und Erziehung ohne massive Gefährdung des Kindeswohls auszuüben. Es gebe auch keine der Lebenssituation der Mutter entsprechenden passenden Auflagen oder Unterstützungsmöglichkeiten, die sie annehmen könne und wolle und die eine Rückführung des Kindes zur Mutter ermöglichen würden.

[18] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig sei.

[19] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs der Mutter, der primär auf eine Abweisung des Entziehungsantrags abzielt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[20] Der Kinder‑ und Jugendhilfeträger begehrt in der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung erkennbar, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[21] Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

[22] 1. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit oder die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes konkret gefährden (4 Ob 216/19x mwN). Gemäß § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und an den Kinder‑ und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete sichernde oder unterstützende Maßnahmen treffen. Bei der Anordnung von solchen Maßnahmen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen. Durch eine solche Verfügung darf das Gericht die Obsorge nur insoweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes erforderlich ist (vgl RS0048736). Eine Verfügung, mit der die Obsorge entzogen wird, kommt nur als ultima ratio in Betracht. Zuvor hat das Gericht alle anderen Möglichkeiten zu prüfen, die dem Kindeswohl gerecht werden können und eine Belassung des Kindes in der Familie ermöglichen. Nur dann, wenn bei einer im Interesse des Kindes gebotenen Beschränkung der Obsorge die jeweils gelindesten Mittel angewandt werden, wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt.

[23] 2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze erfordert eine Entscheidung über die Entziehung der Obsorge, die einen tiefgreifenden Einschnitt in die Eltern-Kind-Beziehung bedeutet, eine sorgfältig erhobene Tatsachengrundlage, aus der sich aufgrund des anzulegenden strengen Maßstabs (vgl RS0048699) mit der nötigen Sicherheit eine konkrete und aktuelle Gefahrenlage für das Kindeswohl ableiten lässt. Es müssen daher insbesondere zu den Fragen der Erziehungsfähigkeit der Eltern sowie des Gesundheitszustands, des intellektuellen und sozialen Entwicklungsstands, der emotionalen Bindungssituation und der besonderen (auch wirtschaftlichen) Betreuungssituation des Kindes und darüber hinaus zu aktuellen Konflikt‑ und Gefahrenpotenzialen in der Eltern-Kind-Beziehung konkrete Feststellungen getroffen werden, die eine verlässliche Beurteilung zur aktuellen und zur erwartbaren Kindeswohlgefährdung zulassen. Demgegenüber genügen nur pauschale Aussagen, wonach die Erziehungsfähigkeit eingeschränkt sei und gelindere Mittel nicht ausreichten, für die Entziehung der Obsorge nicht (4 Ob 216/19x).

[24] 3. Das Erstgericht hat zwar festgestellt, dass das Wohl des Kindes derzeit und in absehbarer Zukunft massiv gefährdet wäre, wenn es weiter von der Mutter betreut würde, zumal seine Basisversorgung nicht ausreichend sichergestellt wäre. Allerdings fehlt ein konkretes Tatsachensubstrat, wodurch genau das Kindeswohl gefährdet sei. Es liegt nämlich auf der Hand, dass das Kindeswohl nicht immer schon dann gefährdet ist, wenn ein alleinerziehender Elternteil berufstätig bzw wie hier die Mutter noch in Schulausbildung ist und das Kind deshalb in erheblichem Umfang den Kindergarten besucht.

[25] 4. Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass es der Mutter trotz ihrer Jugend bis zum Frühjahr 2020 und damit etwas mehr als zwei Jahre lang gelungen ist, ihr Kind gut zu versorgen, zu pflegen und zu fördern, und dass ihre – letztlich die Kindesmaßnahme auslösende – Erklärung gegenüber dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger, mit der Betreuung des Kindes überfordert zu sein und sich „innerlich leer“ zu fühlen, während des ersten „Lockdowns“ im Frühjahr 2020 erfolgte. Dass die damals 17 Jahre alte Mutter durch die wegen der geschlossenen Kindergärten erforderliche ganztägige Betreuung ihrer zwei Jahre alten Tochter parallel zum eigenen „Homeschooling“ überfordert war und die von der Urgroßmutter geleistete Unterstützung in dieser Ausnahmesituation nicht mehr ausreichte, ist alles andere als verwunderlich und lässt für sich allein noch nicht den Schluss zu, die Obsorgeentziehung sei auf Dauer die einzige Möglichkeit, eine Kindeswohlgefährdung hintanzuhalten. Die vom Erstgericht übernommene Argumentation des Kinder- und Jugendhilfeträgers, die von der Mutter damals gewünschte Unterstützung in Form einer Tagesmutter sei nicht zielführend gewesen, weil sie eine noch weitergehende Fremdbetreuung des Kindes zur Folge gehabt hätte, ist insofern nicht nachvollziehbar, als damals ja gerade keine Betreuung des Kindes im Kindergarten möglich war.

[26] 5. Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren auf geeignete Weise, etwa durch Einholung eines kinderpsychologischen Sachverständigengutachtens, zu klären haben, ob und gegebenenfalls welche Bedürfnisse des Kindes die die Mutter aufgrund ihrer Lebenssituation allenfalls nicht decken kann. Dabei wird es auch darauf Bedacht zu nehmen haben, dass sich die persönlichen Verhältnisse der Mutter nach den Angaben in ihrem Vermögensbekenntnis (ON 51) mittlerweile offenbar entscheidend geändert haben: Demnach wohnt sie nämlich nicht mehr bei der Urgroßmutter, sondern bei einem/ihrem Freund, und sie hat offenbar die Schule abgebrochen und mit Mitte März 2021 eine Lehre begonnen. Ausgehend von diesen aktuellen Lebensverhältnissen der Mutter wird dann konkret zu klären sein, welche allenfalls notwendigen zusätzlichen Betreuungs‑ und Unterstützungsmöglichkeiten der Mutter eröffnet werden können, um einerseits das Kindeswohl sicherzustellen und andererseits eine gänzliche Obsorgeentziehung möglichst vermeiden zu können. Erst nach einer in diesen Punkten verbreiterten Tatsachengrundlage wird eine neuerliche Entscheidung zu treffen sein.

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