European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1992:0030OB00552.92.0827.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur Ergänzung des Verfahrens und neuen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
Das Erstgericht entschied, daß die Unterbringung der Patientin im Landes‑Nervenkrankenhaus Hall in Tirol für die Dauer von drei Monaten ab dem Beginn der Unterbringung, also bis 18. 6. 1992, zulässig ist und daß im Rahmen der Unterbringung die Beschränkung der Bewegungsfreiheit innerhalb eines Raumes durch Anlegung eines Gürtels im Sitzwagen und im Bett nach Anordnung des zuständigen medizinischen Abteilungsleiters für zulässig erklärt wird. Es ging nach Einholung des Gutachtens von zwei Sachverständigen davon aus, daß die Patientin an einer hochgradigen, mit Unruhe verbundenen erethischen Idiotie leide, wobei durch die erethische Form des Schwachsinns aus psychiatrischer Sicht auch eine psychische Erkrankung anzunehmen sei, und daß die Patientin ohne zeitweilige Fixierung sich und andere Patienten laufend gefährde. Es seien deshalb die Voraussetzungen für die Unterbringung der Patientin in der Anstalt und für die Beschränkung in der Bewegungsfreiheit gegeben.
Das Rekursgericht änderte infolge Rekurses der Patientenanwältin den Beschluß des Erstgerichtes dahin ab, daß es die Unterbringung der Patientin für nicht zulässig erklärte. Es stellte nach Einholung des Gutachtens eines weiteren Sachverständigen im wesentlichen folgendes fest:
Die Patientin leidet an einer hochgradigen erethischen Idiotie. Sie läuft gewissermaßen "blindwütig" durch die Räume und stößt dabei immer wieder Patientinnen um. Zeitweise schlägt sie auf sie ein und stößt sie. Sie defäciert und uriniert auf den Boden, bückt sich dann blitzschnell und versucht, bevor man sie noch daran hindern kann, Harn oder Stuhl aufzuschlecken. Sie ist sprechunfähig. Zu ihrem Schutz wird sie mit einem Gürtel in einem Sitz oder im Bett fixiert. Der erethische Zustand, wie er bei ihr besteht, ist oftmals umweltbedingt und Ausdruck des bei behinderten Menschen geringen Verhaltensrepertoires. Häufig bleibt behinderten Menschen, zumal sie in Großsituationen (laut Sachverständigengutachten: Großinstitutionen) aufwachsen und untergebracht werden, zur Abgrenzung ihres „Intimbereiches“ ausschließlich aggressives Verhalten. Auch Aufmerksamkeit und Zuwendung werden auf diese Art gewonnen. Manchmal genügt allein die alternative Unterbringung mit der Möglichkeit eines individuellen Rückzugs, um die Aggressionshandlungen deutlich zu reduzieren. Die bei der Patientin feststellbaren Verhaltensauffälligkeiten entsprechen nicht dem Bild einer psychiatrischen Erkrankung, insbesondere nicht, was die Behandlungskonsequenzen betrifft, wenngleich mit der Notwendigkeit einer psychopharmakologischen Basiseinstellung weiterhin zu rechnen ist. Eine psychische Erkrankung besteht bei der Patientin neben ihrer geistigen Behinderung nicht.
Rechtlich war das Rekursgericht der Meinung, daß geistig Behinderte ohne Symptome einer psychischen Erkrankung auch dann, wenn sie im Zusammenhang mit ihrer Behinderung sich oder andere ernstlich oder erheblich gefährden, nach der geltenden Rechtslage weder in einem geschlossenen Bereich angehalten noch sonst Beschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen werden dürften.
Der Revisionsrekurs, den der Abteilungsleiter gegen diesen Beschluß des Rekursgerichtes erhob, ist zulässig und berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Der Zulässigkeit des Rechtsmittels steht nicht entgegen, daß das Gericht zweiter Instanz die Unterbringung für unzulässig erklärt hat und daß die Frist, für die das Erstgericht die Unterbringung und Beschränkung der Patientin in ihrer Bewegungsfreiheit für zulässig erklärte, schon bei Einbringung des Rechtsmittels abgelaufen war. Der Oberste Gerichtshof hat erhoben, daß die Patientin trotz des angefochtenen Beschlusses weiterhin unter Beschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit in der Anstalt untergebracht ist und die Unterbringung daher noch nicht aufgehoben wurde. Gemäß § 30 Abs 1 UbG könnte daher noch die weitere Unterbringung für zulässig erklärt werden, weshalb das Rechtsschutzinteresse des Rekurswerbers, von dem die Zulässigkeit des Rechtsmittels abhängt (EvBl 1984/84; SZ 61/6 uva), gegeben ist .
Der Oberste Gerichtshof hat in den Entscheidungen 4 Ob 541/91, 4 Ob 542/91, 7 Ob 586/91, 7 Ob 590/91, 8 Ob 587/91 und 8 Ob 593/91 ausgesprochen, daß die Unterbringung eines Patienten nach dem Unterbringungsgesetz nur bei Vorliegen einer psychischen Krankheit zulässig ist und daß geistig Behinderte ohne Symptome einer psychischen Erkrankung auch dann, wenn sie im Zusammenhang mit der Behinderung sich oder andere ernstlich oder erheblich gefährden, weder in einem geschlossenen Bereich angehalten noch sonst Beschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen werden dürfen. In all diesen Entscheidungen mußte aber zur Frage, wann eine psychische Krankheit vorliegt, nicht näher Stellung genommen werden, weil die Verhaltensweisen der Patienten, auf welche die Gefährdung zurückging, eindeutig bloß ihrer geistigen Behinderung zuzuordnen waren. Hier ist dies aber nicht eindeutig, weil die bei der Patientin festgestellten Verhaltensweisen auch Ausdruck einer psychischen Krankheit sein könnten. Dafür spricht nicht zuletzt, daß zwei der drei befaßten Sachverständigen zu diesem Ergebnis kamen.
Die Frage, ob eine psychische Krankheit im Sinn des § 3 Z 1 UbG vorliegt, ist eine Rechtsfrage (4 Ob 541/91 und 7 Ob 590/91 unter Hinweis auf Pichler in Rummel, ABGB2 Rz 1 zu § 273, Kopecki, UnterbringungsG Rz 58 und EvBl 1974/214). Es handelt sich um die Auslegung eines unbestimmten Gesetzesbegriffes, für die in erster Linie die Regeln der medizinischen Wissenschaft und somit Erfahrungssätze maßgebend sind (vgl Fasching, ZPR2 Rz 833 f). In einem solchen Fall ist zwischen allgemein bekannten und somit offenkundigen Erfahrungssätzen („Erfahrungsgrundsätzen“) und anderen Erfahrungssätzen zu unterscheiden (Fasching aaO Rz 833). Nur die offenkundigen Erfahrungssätze müssen nicht festgestellt werden. Andere Erfahrungssätze müssen hingegen von den Tatsacheninstanzen auch dann festgestellt werden, wenn sie nur für die Auslegung von Rechtsbegriffen heranzuziehen sind, weil dies Voraussetzung für die vorzunehmende rechtliche Beurteilung der Sache ist (aM vielleicht Fasching aaO Rz 834).
Hier sind die Regeln der medizinischen Wissenschaft, die für die Beurteilung der Frage von Bedeutung sind, ob eine psychische Krankheit vorliegt, keinesfalls offenkundig, zumal auch die Sachverständigen bei der Beantwortung dieser – allerdings gar nicht in ihren Wirkungsbereich fallenden – Frage zu verschiedenen Ergebnissen kamen. Obwohl sie die für ihre Beurteilung maßgebenden Umstände nicht dargelegt haben, läßt das verschiedene Ergebnis darauf schließen, daß in der medizinischen Wissenschaft verschiedene Beurteilungsmaßstäbe angewendet werden. Ohne sie zu kennen, hätten die Vorinstanzen die Frage, ob die von ihrer Entscheidung betroffene Patientin an einer psychischen Krankheit im Sinn des § 3 Z 1 UbG leidet, nicht lösen dürfen, und es ist dies auch dem Obersten Gerichtshof verwehrt.
Im fortzusetzenden Verfahren wird das Erstgericht nach Einholung eines für die Beantwortung dieser Frage berufenen Sachverständigen (vgl Fasching aaO Rz 834) Feststellungen darüber zu treffen haben, nach welchen Kriterien in der medizinischen Wissenschaft das Vorliegen einer psychischen Krankheit beurteilt wird, wobei gegebenenfalls mehrere in ihrer Bedeutung nicht ganz zu vernachlässigende Richtungen darzustellen sind und zu klären ist, nach welcher dieser Richtungen die Verhaltensweisen, die bei der hier betroffenen Patientin festgestellt wurden, die Annahme einer psychischen Krankheit rechtfertigen würden. Erst nach Vorliegen dieser Feststellungen wird im Rahmen der rechtlichen Beurteilung der Sache gesagt werden können, welche Kriterien für die Annahme einer psychischen Krankheit im Sinn des § 3 Z 1 UbG maßgebend sind und ob die hier betroffene Patientin daran leidet.
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