OGH 3Ob510/95

OGH3Ob510/9510.5.1995

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Hofmann als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst, Dr.Graf, Dr.Pimmer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Unterbringungssache der Maria L*****, infolge Revisionsrekurses der Patientenanwältin Dr.Andrea Mastalir, Verein für Sachwalterschaft und Patientenanwaltschaft, Geschäftsstelle Niederösterreich, Landesnervenklinik Gugging, Hauptstraße 2, 3400 Maria Gugging, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgerichtes vom 24. Jänner 1995, GZ 44 R 7/95-16, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes Klosterneuburg vom 15.Dezember 1994, GZ Ub 576/94a-11, bestätigt wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben. In Abänderung der vorinstanzlichen Entscheidung wird festgestellt, daß die am 4.12.1994, 7,16 Uhr, begonnene und dem Erstgericht am 5.12.1994 mitgeteilte Unterbringung der Maria L***** in der Landesnervenklinik Gugging wegen der Unterlassung der Anhörung gemäß § 19 UbG in der Zeit vom 10.12.1994 bis 15.12.1994, 10,10 Uhr, nicht dem Gesetz entsprach.

Text

Begründung

Die *****1928 geborene Maria L***** wurde am 18.11.1994 zum achten Mal (erste Aufnahme am 15.12.1986 - Dauer bis 9.1.1987; siebente Aufnahme am 10.6.1994 - Dauer bis 15.7.1994 jeweils mit paranoid halluzinatorischem Zustandsbild bei chronisch schizophrener Erkrankung) in der Akut-Station der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging/Aufnahmeabteilung Nord untergebracht. Darüber erstatteten zwei Fachärzte dieser Anstalt am 25.11.1994 ärztliche Zeugnisse mit den im wesentlichen gleichlautenden Diagnosen "Selbstgefährdung bei paranoider Schizophrenie, Selbstmordgefahr, keine Behandlungsalternative außerhalb der Anstalt" (AS 5 und 7). Die Patientenanwältin übermittelte diese beiden Unterbringungsanzeigen mit gefaxtem Schreiben vom 28.11.1994 dem Erstgericht mit der darin enthaltenen Bemerkung, die Unterbringung der Kranken sei mit 24.11.1994 aufgehoben worden, weshalb keine Erstanhörung stattgefunden habe. Die Kranke sei jedoch am 25.11.1994 um 13,30 Uhr erneut untergebracht worden, allerdings nicht für die (offenbar in anderen Angelegenheiten vorgesehene) Erstanhörung für 28.11.1994 vorgesehen gewesen.

Der Erstrichter nahm am 1.12.1994 in Gegenwart der Kranken, der Patientenanwältin und des Anstaltsleiters (einer Fachärztin für diesen) die Erstanhörung vor und verkündete danach den Beschluß, daß die Unterbringung der Kranken vorläufig bis zur Entscheidung nach § 26 Abs.1 UbG für zulässig erklärt werde, daß die mündliche Verhandlung für den 15.12.1994 10 Uhr anberaumt und Dr.Otto Schiller zum Sachverständigen bestellt werde (ON 2 und 3). Die Kranke wurde jedoch vom Anstaltsleiter am 2.12.1994 aus der Anstalt entlassen, worauf bereits eine Notiz (Aktenvermerk oder Aussageprotokollierung?) auf AS 7 verso vom 1.12.1994 hinwies: "AL: Pat. kommt morgen (2.12.1994) ins Pensionistenheim G*****". Am 5.12.1994 langte beim Erstgericht eine die Kranke betreffende Aufnahmeanzeige ein, nach welcher diese am 4.12.1994, 7,16 Uhr, neuerlich mit den im wesentlichen gleichen Diagnosen (wie in AS 5 und 7) zweier anderer Fachärzte der Anstalt untergebracht wurde (ON 4, 5, 6). Die Patientenanwältin zeigte diese neuerliche Unterbringung der Kranken dem Erstgericht mit Schreiben vom 6.12.1994 an. Das Erstgericht nahm daraufhin keine "neuerliche" Anhörung der Kranken im Sinne des § 19 UbG vor. Am 12.12.1994 langte beim Erstgericht das am 6.12.1994 erstattete schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dr.Otto Schiller ein, in welchem dieser die Unterbringungsvoraussetzungen vorerst bis 2.1.1995 bejahte (ON 8). In der (anberaumt verbliebenen) mündlichen Verhandlung vom 15.12.1994 (Beginn 10,10 Uhr) verkündete der Erstrichter nach Vernehmung der Kranken, Erörterung des Sachverständigengutachtens und Einholung der Stellungnahme des Anstaltsleiters den Beschluß, daß die Unterbringung der Kranken bis 16.1.1995 für zulässig erklärt werde. Gegen diesen Beschluß, dessen Übernahme die Kranke verweigerte, erhob die Patientenanwältin Rekurs mit dem Antrag, die Unterbringung aus formellen und materiellen Gründen für unzulässig zu erklären. Im Rekurs führte sie unter anderem aus, der Erstrichter habe entgegen §§ 19 und 32 UbG die vom Anstaltsleiter am 2.12.1994 beendete Unterbringung der Kranken nach deren erneuter Unterbringung am 4.12.1994 als ununterbrochen erachtet und keine "Erstanhörung" nach der Verständigung von der neuerlichen Unterbringung durchgeführt, sondern erst in der - im bereits beendeten Unterbringungsverfahren - anberaumten mündlichen Verhandlung vom 15.12.1994 die Zulässigkeit der Unterbringung - bis 16.1.1995 - ausgesprochen; aus diesem Grunde sei die Unterbringung der Kranken vom 7.12.1994, an welchem Tag der Erstrichter in der Anstalt anwesend gewesen sei und die Erstanhörung durchgeführt hätte werden können, bis 15.12.1994 gesetzwidrig gewesen. Im übrigen seien aber auch die Unterbringungsvoraussetzungen am 15.12.1994 materiellrechtlich nicht (mehr) gegeben gewesen.

Das Gericht zweiter Instanz gab mit dem angefochtenen Beschluß dem Rekurs nicht Folge und sprach aus, daß der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil ua Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die Verletzung von im UbG vorgesehenen Anhörungs- und Entscheidungsfristen jedenfalls die Unzulässigkeit der Unterbringung nach sich ziehe. Aus einer vom Rekursgericht beigebrachten Mitteilung der Anstalt geht hervor, daß die Kranke am 13.1.1995 in das Pensionistenheim Z***** entlassen wurde, nachdem sie vor dem 2.1.1995 seit längerer Zeit auf der Akutstation untergebracht gewesen sei, von dort jedoch je nach aktuellem psychischem Zustand stundenweise Ausgang nehmen habe können, und daß sie seit 2.1.1995 auf die offene Station verlegt worden sei, "aber rechtlich weiterhin untergebracht geblieben sei, da nicht abzusehen gewesen sei, wieweit der gebesserte Zustand wirklich stabil wäre" (ON 15).

Das Rekursgericht vertrat folgende Rechtsauffassung: Im Unterbringungsverfahren seien Anhörungs- und Entscheidungsfristen gesetzlich zwingend vorgesehen. So habe das Gericht binnen vier Tagen ab Kenntnis von der Unterbringung eine Erstanhörung gemäß § 19 Abs.1 UbG vorzunehmen. Im Falle der vorläufigen Zulässigerklärung der Unterbringung sei eine mündliche Verhandlung innerhalb von 14 Tagen anzuberaumen (§ 20 Abs.1 UbG). Der in der mündlichen Verhandlung zu verkündende Beschluß sei innerhalb von acht Tagen schriftlich auszufertigen (§ 27 UbG). Das UbG sehe jedoch keine Sanktionen für die Verletzung dieser Anhörungs- und Entscheidungsfristen vor. Rechtsfolgen könnten sich lediglich aufgrund anderer Rechtsvorschriften ergeben, wie etwa aus dem Amtshaftungsrecht, dem Disziplinarrecht für Richter, oder dem Strafgesetzbuch. Die Unterlassung einer fristgerechten Erstanhörung habe somit nicht zur Folge, daß die Unterbringung jedenfalls unzulässig wäre. Das Vorliegen der materiellen Unterbringungsvoraussetzungen (§ 3 UbG) sei unabhängig von einer allfälligen Verletzung von Verfahrensvorschriften zu prüfen. Im übrigen seien aber auch die materiellen Unterbringungsvoraussetzungen bei der Kranken ungeachtet der aus der Mitteilung ON 15 ersichtlichen Umstände vorgelegen.

Gegen den Beschluß der zweiten Instanz richtet sich der Revisionsrekurs der Patientenanwältin wegen "Nichtigkeit, Verfahrensmangel sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung", mit dem sie unter Berufung auf die Bestimmungen der §§ 19, 20, 26 und 32 UbG sowie auf Art.5 Abs.1 lit.e, Abs.3 MRK und auf Art.6 PersFrG erkennbar die Feststellung anstrebt, daß der Kranken das Recht auf persönliche Freiheit während ihrer Unterbringung vom 4.12. bis 15.12.1994 durch die Nichtdurchführung der Erstanhörung und der Entscheidung über die vorläufige Zulässigkeit der Unterbringung entzogen worden sei.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Patientenanwältin ist im Sinne der zutreffenden Zulassungsbegründung der Vorinstanz ungeachtet der Beendigung des Unterbringungsverfahrens zufolge der Entlassung der Kranken aus der Anstalt am 13.1.1995 wegen des weiterhin gegebenen rechtlichen Interesses an der Feststellung, ob die Unterbringung zu Recht erfolgte, zulässig (EvBl 1993/33; RZ 1991/85 ua); er ist auch teilweise berechtigt.

Vorauszuschicken ist, daß die Patientenanwältin im Revisionsrekurs - im Gegensatz zum Rekurs gegen die erstinstanzliche Entscheidung - die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Unterbringung der Kranken vom 4.12.1994, über den 15.12.1994 bis zu ihrer Entlassung am 13.1.1995 nicht mehr bekämpft. Im Revisionsrekurs wird allein die verfahrensrechtliche Frage aufgeworfen, welchen Einfluß die Nichtbeachtung der Beendigung des gerichtlichen Unterbringungsverfahrens zufolge der eigenverantwortlichen Aufhebung der Unterbringung durch den Anstaltsleiter gemäß § 32 UbG auf die gerichtlich beschlossenen Unterbringungsmaßnahmen hat.

Der Revisionswerberin beizupflichten, daß die Aufhebung der Unterbringung durch den Anstaltsleiter nach § 32 UbG eine noch bestehende gerichtliche Zulässigerklärung außer Kraft setzt, sodaß diese nicht fortwirken kann. So wie der Abteilungsleiter und ein weiterer Facharzt der Anstalt gemäß §§ 10 und 17 UbG bei jeder neuen Unterbringung die - wenn auch wenige Tage zuvor bereits mit der Diagnose des Vorliegens der Unterbringungsvoraussetzungen untersuchte und untergebrachte - betroffene Person unverzüglich neu untersuchen, sodann Zeugnisse über die Unterbringungsvoraussetzungen erstellen und von der Unterbringung die Patientenanwältin und das Gericht verständigen müssen, hat auch das Gericht bei jeder neuen Unterbringung die im Gesetz vorgesehenen, teils knapp befristeten Verfahrensschritte vorzunehmen. § 19 Abs.1 UbG sieht vor, daß sich das Gericht binnen vier Tagen ab Kenntnis von der Unterbringung einen persönlichen Eindruck vom Kranken in der Anstalt beschaffen muß (sogenannte "Erstanhörung") und je nach dem Ergebnis dieser Anhörung die Unterbringung vorläufig bis zur endgültigen Entscheidung nach mündlicher Verhandlung gemäß § 26 Abs.1 UbG für zulässig oder für unzulässig zu erklären hat. Mit dieser das Gericht verpflichtenden Tätigkeitsfrist ist das Grundrecht der persönlichen Freiheit des Menschen, wie es verfassungsgesetzlich durch die Art.1, 2 Abs.1 Z 5 und 6 PersFrG oder auch durch Art.5 MRK geschützt wird, auch für den psychisch Kranken gesetzlich geschützt, weil die die Freiheit beschränkende Maßnahme nur nach dem Gesetz (UbG) in einem Verfahren vor einer unabhängigen Behörde (Gericht) in der gesetzten kurzen Frist (unverzüglich, binnen einer Woche) geprüft und bestätigt werden kann. Wird nun - wie im vorliegenden Fall vom Erstgericht - die Aufhebung der Unterbringung wegen "umgehender" neuerlichen Unterbringung der Kranken nicht zur Kenntnis genommen und werden die im beendeten Verfahren gesetzten Schritte für das neue Verfahren "verwertet", so geschieht dies, soweit davon Fristenversäumnisse betroffen sind, gesetzwidrig und bewirkt daher die Rechtswidrigkeit der davon betroffenen Unterbringungszeiten. Bei jeder Aufnahme eines Kranken ohne Verlangen ist ein neues Unterbringungsverfahren einzuleiten; dies hat auch dann zu geschehen, wenn eine Kranke nach Aufhebung der Unterbringung innerhalb der sonst noch aufrechten gerichtlichen Unterbringungsfrist neuerlich untergebracht wird (Kopetzki, UbG Rz 364, 365). Dies folgt unabhängig davon, ob die Unterbringung nachträglich für zulässig erklärt wird, weil der Freiheitsentzug ohne verfahrensgesetzliche Grundlage nicht durch rechtmäßiges Alternativverhalten gerechtfertigt werden kann (vgl SZ 54/108 mwN). Da die Verständigung des Erstgerichtes von der neuerlichen Unterbringung der Kranken am 5.12.1994 erfolgte, wäre der letzte Termin für die Abhaltung der "Erstanhörung" gemäß § 19 Abs.1 UbG der 9.12.1994, ein Freitag, gewesen. Ab 10.12.1994 bis zum Beginn der sodann und sogleich durchgeführten mündlichen Verhandlung gemäß § 22 UbG am 15.12.1994, 10,10 Uhr, war die Kranke im dargelegten Sinn ohne gesetzliche Deckung untergebracht.

Dem Revisionsrekurs der Patientenanwältin war daher in diesem Punkte wie im Spruch Folge zu geben.

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