OGH 2Ob73/23h

OGH2Ob73/23h25.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei N*, vertreten durch Mag. Norbert Tanzer, Rechtsanwalt in Telfs, wider die beklagte Partei T*, vertreten durch Haslwanter Rechtsanwälte GmbH in Telfs, wegen 7.786,67 EUR sA und Feststellung, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 16. Dezember 2022, GZ 2 R 166/22h‑38, womit die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Landeck vom 26. Jänner 2022, GZ 2 C 38/21f‑34, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00073.23H.0725.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Schadenersatz nach Verkehrsunfall, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird ersatzlos aufgehoben. Dem Gericht zweiter Instanz wird die Sachentscheidung über die Berufung des Klägers aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

[1] In der Tagsatzung vom 26. 1. 2022 verkündete der Erstrichter das klageabweisende Urteil. Der Klagevertreter meldete unmittelbar nach der Urteilsverkündung Berufung an.

[2] Am 25. 3. 2022 stellte das Erstgericht den Parteien eine gekürzte Urteilsausfertigung (§ 417a ZPO) zu.

[3] Nachdem der Klagevertreter den Erstrichter auf die Anmeldung der Berufung in der Tagsatzung am 26. 1. 2022 hingewiesen hatte, fasste das Erstgericht am 31. 3. 2022 den Beschluss, es werde den Parteien gegenüber „(deklarativ)festgestellt“, dass die gekürzte Urteilsausfertigung vom 26. 1. 2022 gegenüber den Parteien unwirksamsei. Begründend führte es aus, die Zustellung der gekürzten Urteilsausfertigung sei irrtümlich erfolgt, weil die Berufungsanmeldung unmittelbar nach der Urteilsverkündigung übersehen worden sei. Bei rechtzeitiger Anmeldung werde das Urteil gegenüber den Parteien jedoch nach § 417 Abs 1 ZPO erst wirksam, wenn eine ungekürzte Urteilsausfertigung zugestellt worden sei, was in diesem Fall nachzuholen sein werde. Aus Gründen der Rechtssicherheit erscheine es daher zweckmäßig, deklarativ festzustellen, dass die gekürzte Urteilsausfertigung gegenüber den Parteien unwirksam sei. Dieser Beschluss wurde beiden Parteien am 5. 4. 2022 zugestellt und blieb unbekämpft.

[4] Das mit voller Begründung ausgefertigte Urteil des Erstgerichts wurde den Parteien am 1. 6. 2022 zugestellt.

[5] Die dagegen erhobene Berufung des Klägers langte am 28. 6. 2022 beim Erstgericht ein.

[6] Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss wies das Berufungsgericht die Berufung und die Berufungsbeantwortung zurück und sprach aus, der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteige 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR. Eine gekürzte Urteilsausfertigung gemäß § 417a ZPO sei bei rechtzeitiger Berufungsanmeldung nicht zulässig. Werde sie dennoch hergestellt, sei sie als gewöhnliche Urteilsausfertigung zu betrachten, die innerhalb der vierwöchigen Berufungsfrist ab Zustellung bekämpft werden könne. Dabei könnten die allgemeinen Berufungsgründe geltend gemacht werden, wobei insbesondere die Nichtigkeit nach § 477 Abs 1 Z 9 ZPO wegen des regelmäßigen Fehlens von Ausführungen zur Beweiswürdigung in Betracht komme. Es handle sich nicht um eine unwirksame Ausfertigung (Nichturteil), sondern höchstens um eine fehlerhafte. Die Zustellung der gekürzten Urteilsausfertigung am 25. 3. 2022 habesomit die vierwöchige Berufungsfrist ausgelöst. Auch die rechtsirrtümlich zugestellte weitere Urteilsausfertigung ändere nichts an der Wirksamkeit des (gekürzten) Urteils. Die am 28. 6. 2022 eingebrachte Berufung sei verspätet.

[7] Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs des Klägers mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss ersatzlos zu beheben und dem Berufungsgericht die Entscheidung über die Berufung unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Der Beklagte beantragt in der Rekursbeantwortung, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Rekurs ist zulässig und berechtigt.

[10] 1. Der Rekurs ist nach § 519 Abs 1 Z 1 ZPO unabhängig vom Wert des Entscheidungsgegenstands zulässig (RS0098745 [T17]). Des Bewertungsausspruchs durch das Berufungsgericht hätte es nicht bedurft.

[11] 2. Auch eine gekürzte Urteilsausfertigung iSd § 417a ZPO nach mündlicher Verkündung des Urteils stellt ein Urteil mit allen Rechtskraftwirkungen dar. Dies gilt auch dann, wenn die gekürzte Urteilsausfertigung unzulässig war (10 Ob 18/18x Pkt 2.2 und 3.1 mwN: Zustellung während noch offener Frist zur Berufungsanmeldung). Demnach kommt die Ausfertigung eines ungekürzten, den Inhaltserfordernissen des § 417 ZPO entsprechenden Urteils zusätzlich zur gekürzten Urteilsausfertigung nicht in Betracht, selbst wenn gleichzeitig mit der Berufung auch deren Anmeldung vorgenommen worden wäre (10 Ob 18/18x Pkt 2.2 mwN).

[12] 3. Daraus folgt, dass auch die Zustellung einer – wie hier kraft der rechtzeitigen Berufungsanmeldung – unzulässigen gekürzten Urteilsausfertigung die vierwöchige Berufungsfrist nach § 463 ZPO auslöst (10 Ob 18/18x Pkt 3.2).

[13] 4. Das Berufungsgericht hat jedoch nicht berücksichtigt, dass das Erstgericht noch innerhalb der Berufungsfrist seinen Fehler erkannte und den (rechtskräftig gewordenen) Beschluss vom 31. 3. 2022, womit es die gekürzte Urteilsausfertigung für unwirksam erklärte, fasste und beiden Parteien zustellte.

[14] 5. Für diesen Beschluss fehlt zwar eine Rechtsgrundlage. Überdieserkannte der Erstrichter auch die unter Punkt 2. dargestellte Rechtslage nicht, wenn er in der Begründung davon ausging, die Zustellung der gekürzten Urteilsausfertigung sei unwirksam. Dennoch ist ungeachtet der „Deklarativfeststellung“ der Entscheidungswille des Erstgerichts, die Zustellung der gekürzten Urteilsausfertigung als verfehlt mit Wirksamkeit gegenüber den Parteien für prozessual unbeachtlich zu erklären, eindeutig.

[15] 6. Hier beseitigte der Beschluss des Erstgerichts vom 31. 3. 2022 die Wirksamkeit der Zustellung der gekürzten Urteilsausfertigung, was vom Berufungsgericht aufgrund der Rechtskraft dieses Beschlusses nicht mehr überprüft werden durfte (vgl 2 Ob 173/20k). Die Berufungsfrist begann daher mit Zustellung der ungekürzten Urteilsausfertigung am 1. 6. 2022, weshalb die am 28. 6. 2022 eingebrachte Berufung rechtzeitig war.

[16] 7. Somit erweist sich die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Berufung sei verspätet, als unzutreffend, weshalb der angefochtene Beschluss ersatzlos aufzuheben und dem Berufungsgericht die Sachentscheidung über die Berufung aufzutragen war. Die im angefochtenen Beschluss obiter gemachten Ausführungen zur Sache reichen schon deshalb nicht aus, weil das Berufungsgericht selbst zugesteht, dies „ohne eingehende und abschließende Erörterung“ zu bemerken.

[17] 8. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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