OGH 2Ob41/86

OGH2Ob41/8630.9.1986

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Kralik, Dr.Melber, Dr.Huber und Dr.Egermann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj.Mario K***, geboren 21.2.1974, 8664 Klein-Veitsch 130, vertreten durch den Vater Reinhard K***, Gendarmeriebeamter, ebendort, dieser vertreten durch Dr.Hans Kröppel, Rechtsanwalt in Kindberg, wider die beklagte Partei Johannes S***, Lehrling, 8650 Kindberg, Kirchengasse 3, vertreten durch Dr.Gerhard Folk, Rechtsanwalt in Kapfenberg, wegen S 38.100,-- und Feststellung, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 20.März 1986, GZ.5 R 32/86-31, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Leoben vom 9. Dezember 1985, GZ.8 Cg 55/85-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, daß das erstgerichtliche Urteil wiederhergestellt wird.

Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens werden jeweils gegeneinander aufgehoben.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 23.5.1984 stieß der damals 10-jährige Kläger nach dem Aussteigen aus einem PKW auf dem vor dem Hause Kindberg, Hauptstraße 13, verlaufenden Gehsteig, über welchem er rasch einen Hauseingang zu erreichen versuchte, mit dem auf diesem Gehsteig daherlaufenden, damals 18-jährigen Beklagten zusammen. Der Kläger stürzte dadurch und erlitt erhebliche Verletzungen des Gebisses. In der vorliegenden Klage wird ein Mitverschulden des Klägers im Ausmaß von einem Viertel zugestanden, somit das überwiegende Verschulden des Beklagten am Unfall behauptet und an Schmerzengeld ein Betrag von S 30.000, an Zahnsanierungskosten ein Betrag von S 19.800 sowie schließlich ein Kleiderschaden in Höhe von S 1.000, somit insgesamt eine Schadenssumme von S 50.800 genannt und hievon unter Berücksichtigung des eingeräumten Mitverschuldens ein Betrag von S 38.100 geltend gemacht. Weiters stellt der Kläger auch ein Feststellungsbegehren, wonach ihm der Beklagte für alle aus dem gegenständlichen Unfall in Zukunft entstehenden Schäden im Ausmaß von 75 % zu haften habe.

Das Erstgericht stellte die dem Kläger bisher erwachsenen Schäden mit insgesamt S 38.700 fest und sprach ihm auf der Grundlage eines gleichteiligen Verschuldens der Streitteile am Unfall die Hälfte hievon, somit S 19.350, unter Abweisung des Mehrbegehrens von S 18.350 zu. Dem Feststellungsbegehren gab es ebenfalls unter Abweisung des Mehrbegehrens im Ausmaß von 50 % statt. Das von beiden Parteien angerufene Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht, dagegen jener des Beklagten Folge und wies die Klage zur Gänze ab. Es sprach aus, daß der von der Abänderung betroffene Wert des Streitgegenstandes S 15.000 und der von der Bestätigung betroffene Wert des Streitgegenstandes S 60.000 übersteige, der Wert des Streitgegenstandes, über den es entschieden habe, insgesamt aber nicht S 300.000 übersteige und daß die Revision gemäß § 502 Abs.4 Z 1 ZPO zulässig sei.

Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichtes erhebt der Kläger eine auf § 503 Abs.1 Z 4 ZPO gestützte Revision mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der vollen Klagsstattgebung, in eventu auf Abänderung im Sinne der Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteiles; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt. Der Beklagte beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zum Teil gerechtfertigt.

Nach den erstgerichtlichen Feststellungen beträgt die Breite des Gehsteiges im Unfallsbereich vor dem Hause Kindberg, Hauptstraße 13, bzw. dem dort gelegenen Haupteingang zum Kaufhaus T*** zwischen 3 und 4 m. Am Unfallstag hatte der Vater des Klägers seinen PKW vor diesem Hause am Gehsteigrand ca.20 bis 30 cm von der Gehsteigkante entfernt fahrbahnparallel angehalten, um den im Fonds des Wagens sitzenden Kläger aussteigen zu lassen. Da es stark regnete, stieg zuerst der vorne am Beifahrersitz befindliche Großvater des Klägers aus, spannte einen Schirm auf und schloß hinter sich die vordere Wagentür. Dann öffnete der Kläger von innen die rechtsseitige hintere Fahrzeugtüre und stieg, während sein Großvater den Schirm über die Türe hielt, über Aufforderung des Vaters bzw.Großvaters, er solle "aussteigen und hinübergehen", aus dem Fahrzeug aus, machte die Türe zu und legte "schnellen Schrittes, ohne zu laufen", quer über den Gehsteig eine Strecke von ca.1 1/2 m zurück, worauf es in der Mitte des dort 3 m breiten Gehsteiges zur Kollision mit dem Beklagten kam. Dieser war wegen des starken Regens zunächst unter dem Vordach eines rund 40 m vom Haupteingang des Kaufhauses T*** entfernten Hauses gestanden und lief sodann auf dem Gehsteig in Richtung seiner nahegelegenen Wohnung. Dabei wurde er zwischendurch auch langsamer. Als er sodann den vor dem Haupteingang zum Kaufhaus T*** abgestellten PKW des Vaters des Klägers und den aus diesem Fahrzeug steigenden, den Regenschirm in der Hand haltenden Großvater des Klägers bemerkte, wich er etwas nach links aus. Er rechnete nicht damit, daß auch aus dem Fonds des Fahrzeuges jemand aussteigen könnte. Ungefähr auf Höhe der hinteren Fahrzeugtüre verspürte er einen Schlag bzw. einen Anprall, kam beinahe zu Sturz und schließlich 10 m vom PKW entfernt selbst zum Stehen. Die Annäherung des Beklagten war weder vom Vater noch vom Großvater des Klägers und auch von diesem selbst nicht wahrgenommen worden. Der Kläger hatte nach dem Aussteigen nicht in Richtung des sich nähernden Beklagten, sondern nur in Richtung des Kaufhauseinganges geblickt. Im weiteren stellte das Erstgericht die Verletzungen des Klägers, die Schmerzperioden und die unfallsbedingten Kosten der Zahnsanierung sowie die Kleiderschäden fest.

In seiner rechtlichen Beurteilung vertrat das Erstgericht die Ansicht, ein Laufen auf dem Gehsteig erfordere eine höhere Aufmerksamkeit als beim Gehen, um Kollisionen mit entgegenkommenden oder querenden Fußgängern zu vermeiden. Vorliegendenfalls wäre der Beklagte daher verpflichtet gewesen, den aus den PKW aussteigenden Personen, die offenbar den Gehsteig betreten wollten, diese höhere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Aber auch der Kläger hätte aufmerksamer sein und, zumal er den Gehsteig erst betrat und diesen überqueren wollte, den sich auf diesem nähernden Beklagten "abwarten" müssen. Im Hinblick auf sein noch geringes Alter von 10 Jahren, in welchem ihm noch nicht die gleiche Sorgfaltspflicht wie dem 18-jährigen Beklagten auferlegt werden könne, sei eine Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 1 gerechtfertigt. Die erst in Zukunft, nämlich nach Erreichung des 20.Lebensjahres durchzuführenden Zahnsanierungsmaßnahmen, welche derzeit Kosten von S 12.100 erforderten, könnten noch nicht berücksichtigt werden. Im übrigen schienen die Schadensbeträge der Höhe nach richtig beziffert. Demgemäß sei dem Kläger ein Schaden von S 38.700 entstanden, wovon ihm die Hälfte zuzuerkennen sei. Das Feststellungsbegehren erscheine auf der Grundlage des gleichteiligen Verschuldens hinsichtlich einer Haftung des Beklagten im Ausmaß von 50 % gerechtfertigt. Das Berufungsgericht hielt die von beiden Parteien erhobenen Rügen der unrichtigen Beweiswürdigung und unrichtigen Tatsachenfeststellung und auch die Rechtsrüge des Klägers nicht, dagegen die Rechtsrüge des Beklagten für gerechtfertigt. Es vertrat die Ansicht, den Beklagten treffe kein Verschulden am vorliegenden Schadensereignis. Mangels einer gegenteiligen Gesetzesbestimmung in der Straßenverkehrsordnung über die Benützung der Gehsteige sei ihm ein Laufen auf dem Gehsteig nicht untersagt gewesen. Die dabei zu fordernde erhöhte Aufmerksamkeit habe er aufgewendet. Er habe das Aussteigen des Großvaters des Klägers aus dem PKW bemerkt und deswegen seine Lauflinie etwas nach links verlagert, so daß er in einem Abstand von 1,8 m vom PKW hätte vorbeilaufen können. Wegen der geöffneten hinteren Fahrzeugtüre und der Stellung des Großvaters des Klägers habe er zwar auch mit dem Aussteigen einer weiteren Person rechnen müssen. Er habe jedoch darauf vertrauen dürfen, daß eine solche Person, insbesondere wegen des starken Regens, unter dem aufgespannten Schirm verharren werde, "zumal der Mann mit dem Gesicht zum Auto und nicht zum Gehsteig" gestanden sei, sodaß mit einer sofortigen Querbewegung nicht habe gerechnet werden müssen. Auch sei der Kläger "von außerhalb des Gehsteiges" zu einem Zeitpunkt gekommen, als dem Beklagten eine Reaktion gar nicht mehr möglich gewesen sei, zumal die Überquerungszeit des Klägers nur rund eine Sekunde betragen habe. Insgesamt könne somit nicht von einer Unaufmerksamkeit des Beklagten gesprochen werden.

In der Revision wird vorgebracht, aus den Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung könne nicht geschlossen werden, daß ein Laufen auf einem Gehsteig jedenfalls erlaubt sei, zumal mit dem in § 76 Abs.1 StVO 1960 enthaltenen Gesetzesausdruck "Gehen" die Art der erlaubten Fortbewegung auf Gehsteigen bestimmt sei. Auch habe der Beklagte keinesfalls die erforderliche Aufmerksamkeit angewendet und keine Reaktion gesetzt, vielmehr sei er erst 7 bis 8 m nach der Unfallstelle selbst zum Stehen gekommen. Bei der gegebenen Situation habe für ihn auch nicht der Vertrauensgrundsatz gegolten. Eine analoge Anwendung der Vorrangregeln sei nicht möglich, wenn, dann in dem Sinne, daß der Fußgeher vor dem Läufer Vorrang habe. Diesen Ausführungen kommt im Ergebnis teilweise Berechtigung zu. Die Benützung eines Gehsteiges durch einen Fußgänger im Laufschritt ist entgegen der Ansicht des Revisionswerbers durch keine Norm der Rechtsordnung, insbesondere auch nicht durch § 76 Abs.1 StVO 1960, grundsätzlich untersagt, weil auch mit den in dieser Bestimmung verwendeten Ausdrücken "Fußgänger" und "Gehen" nur die Art der Fortbewegung des Verkehrsteilnehmers, nämlich Zurücklegen des Weges zu Fuß, also ohne Verwendung anderer Fortbewegungsmittel irgendwelcher Art, umschrieben wird (vgl. VwGH 29.6.1970, ZVR 1971/77). Besondere Regelungen über das Verhalten der Fußgänger zueinander auf dem Gehsteig hat der Gesetzgeber - ausgenommen den Fall des § 76 Abs.2

Satz 2 StVO - zweckmäßigerweise überhaupt nicht getroffen. Hinsichtlich der erforderlichen Vermeidung einer gegenseitigen Gefährdung der Fußgänger aus ihrer Benützung des Gehsteiges ist daher von den allgemeinen Normen über die Pflicht zur Unterlassung der Gefährdung der körperlichen Sicherheit anderer auszugehen. Bei der diesbezüglichen Beurteilung ist demgemäß der allgemeine Fahrlässigkeitsbegriff anzuwenden. Fahrlässigkeit (Sorglosigkeit) liegt nach Lehre und Rechtsprechung vor, wenn die objektiv gebotene Sorgfalt aus subjektiv zu vertretenden Gründen nicht eingehalten wird (Reischauer in Rummel, ABGB, Rdz 21 zu § 1294). Sie ist zu verneinen, wenn die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes eines rechtswidrigen Erfolges so gering war, daß sie auch einen pflichtgemäß Handelnden nicht von der Handlung abgehalten oder zu größerer Vorsicht veranlaßt hätte. Sie liegt umgekehrt also vor, wenn der den Schaden Verursachende bei der nach objektiven Maßstäben zu beurteilenden gehörigen Sorgfalt mit der Möglichkeit des Eintrittes jenes Schadenserfolges hätte rechnen müssen, mit der er selbst nicht rechnete (SZ 48/42; 3 Ob 668/81; 4 Ob 568/82 uva.). Vorliegendenfalls ist davon auszugehen, daß der Beklagte bei seiner Annäherung an die spätere Unfallsstelle das Aussteigen des Großvaters des Klägers aus dem angehaltenen Fahrzeug bemerkt hatte und ebenso, daß dieser den aufgespannten Schirm über die hintere Wagentüre hielt. Nach dieser Situation mußte der Beklagte jedenfalls damit rechnen, daß noch weitere Personen aus dem am Gehsteigrand stehenden Fahrzeug aussteigen könnten. Da der Beklagte selbst wegen des starken Regens im Laufschritt unterwegs war, mußte er auch ferner die Möglichkeit bedenken, daß eine aussteigende Person ebenfalls raschen Schrittes den Gehsteig überqueren und Schutz unter dem Hauseingang suchen könnte. Demgemäß wäre er verpflichtet gewesen, seine Laufgeschwindigkeit, mit der erkennbar eine Gefährdung anderer Fußgänger verbunden war, derart herabzusetzen und dem PKW bzw. den PKW-Insassen eine derart erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden, daß er in der Lage war, auf einen solchen Vorgang rechtzeitig zu reagieren. Tatsächlich wich er aber lediglich etwas nach links aus, ohne mit dem Laufen innezuhalten und der jedenfalls unklaren Situation, in der besondere Vorsicht geboten war, durch sein erhöhtes Augenmerk Rechnung zu tragen. Dieses Verhalten des Beklagten muß als fahrlässig beurteilt werden. Von dem bereits 10 Jahre alten Kläger war allerdings ebenfalls zu fordern, daß er nicht blindlings den Gehsteig überquerte. Da er erst aus dem PKW stieg, hätte er Zeit gehabt, in beiden Richtungen des Gehsteiges nach sich nähernden Personen Ausschau zu halten und hierauf Bedacht zu nehmen.

Unter den besonderen Umständen dieses Falles erscheint die vom Erstgericht vorgenommene Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 1 dem Fehlverhalten jedes der beiden Streitteile durchaus angemessen. In diesem Sinne war der Revision demnach teilweise Folge zu geben. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens gründet sich auf die §§ 41 und 50 ZPO.

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