OGH 2Ob346/97i

OGH2Ob346/97i17.12.1998

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter, Dr. Schinko, Dr. Tittel und Dr. Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj. Andreas S* vertreten durch Dr. Manfred Roland, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1.) Miriana S* 2.) Perica S*, und 3.) mj. Zoran S* alle vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 191.106,- sA, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 1. Juli 1997, GZ 11 R 57/97a‑33, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für ZRS Wien vom 18. Jänner 1997, GZ 18 Cg 13/95d‑23, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1998:E52635

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

1. Der Revision wird teilweise nicht Folge gegeben und die angefochtene Entscheidung bezüglich des Zweitbeklagten als Teilurteil bestätigt.

Der Kläger ist schuldig, dem Zweitbeklagten an Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen S 23.094,05 (darin enthalten S 3.837,89 USt und S 66,67 Barauslagen) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

2. Im übrigen, also bezüglich der Erst‑ und des Drittbeklagten, wird der Revision Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden insoweit aufgehoben. Die Rechtssache wird im Umfang der Aufhebung zur neuerlichen nach Ergänzung des Verfahrens zu fällenden Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die die Erst‑ und den Drittbeklagten betreffenden Kosten der Rechtsmittelverfahren sind weitere Verfahrenskosten.

 

Entscheidungsgründe:

 

Am 31. 5. 1994 ereignete sich um 18 Uhr 10 in Wien 14, Felbigergasse, einer für den Autoverkehr gesperrten Wohnstraße, auf Höhe des Hauses 45 ein Unfall, an dem der damals siebenjährige Kläger und der damals neunjährige Drittbeklagte beteiligt waren. Der Drittbeklagte, dessen Eltern die Erstbeklagte und der Zweitbeklagte sind, fuhr mit seinem BMX Fahrrad in die Wohnstraße ein, in der der Kläger zur gleichen Zeit mit anderen Kindern Ball spielte. Als der Ball zur Seite rollte, lief er diesem nach und wurde dabei vom freihändig fahrenden und rückwärtsblickenden Drittbeklagten erfaßt. Dieser stürzte durch den Zusammenstoß vom Rad, wobei die Tretkurbel des umfallenden Fahrrades den Kläger am Fuß traf und dieser einen offenen Unterschenkelbruch erlitt. Die Beklagten sind vermögenslos, wohnen in Untermiete und haben keine Haushaltsversicherung. Die Erstbeklagte ist Hausfrau; sie hielt sich im Unfallszeitpunkt zu Hause auf und betreute dort die damals zweijährige Schwester und den achtjährigen Bruder des Drittbeklagten. Sie gab ihm den Schlüssel des Fahrrades und schickte in "Spielen". Der Zweitbeklagte befand sich in der Arbeit. Der Drittbeklagte war ein normal entwickelter neunjähriger Bub; er ist ein guter Radfahrer und fuhr schon öfters, auch in Begleitung seiner Mutter, mit dem Rad in der Wohnstraße.

Der Kläger begehrt zuletzt von der Erst‑ und dem Zweitbeklagten die Zahlung von S 191.106,- sA (Schmerzengeld S 165.000,- sowie weitere von der Mutter erbrachte, dem Kläger zedierte Leistungen von S 26.106), weil sie die Aufsicht des Drittbeklagten vernachlässigt hätten (§ 1309 ABGB). Sie hätten nach § 65 StVO dem Drittbeklagten nicht gestatten dürfen, "ohne Aufsicht einer Person, die das 16. Lebensjahr vollendet habe, bzw. ohne behördliche Bewilligung" das Fahrrad zu benützen. Für den Fall der Abweisung dieses Klagebegehrens stellt der Kläger das Eventualbegehren, wonach der Drittbeklagte ihm S 191.106,‑- sA zu zahlen habe, weil er gemäß § 1310 ABGB zum Schadenersatz verpflichtet sei. Außerdem stellt der Kläger das Begehren auf Feststellung, daß die Beklagten ihm für die Folgen des Unfalls vom 31. 5. 1994 zu haften hätten.

Die Beklagten beantragten die Abweisung der Klagebegehren; der Drittbeklagte sei mit seinem Fahrrad in einem für den Autoverkehr gesperrten Bereich der Felbigergasse gefahren. Der Kläger sei seinerseits unvorsichtig in das Fahrrad hineingelaufen. Eine Verletzung der Aufsichtspflicht liege nicht vor, weil die Erstbeklagte auf zwei weitere Geschwister des Drittbeklagten habe aufpassen müssen. Der Zweitbeklagte habe zum Unfallszeitpunkt gearbeitet.

Das Erstgericht wies ausgehend vom eingangs wiedergegebenen Sachverhalt alle Klagebegehren ab.

Es führte rechtlich aus:

Habe ein Unmündiger eine schädigende Handlung gesetzt, so gebühre nach § 1309 ABGB Ersatz von denjenigen Personen, denen der Schaden wegen Vernachlässigkung der ihnen über solche Personen anvertrauten Obsorge beigemessen werden könne. Könne der Beschädigte auf solche Art den Ersatz nicht erhalten, so habe der Richter gemäß § 1310 ABGB mit Erwägung des Umstandes, ob dem Beschädiger, ungeachtet er gewöhnlich seines Verstandes nicht mächtig sei, in dem bestimmten Fall nicht dennoch ein Verschulden zur Last liege oder, ob der Beschädigte aus Schonung des Beschädigers die Verteidigung unterlassen habe, oder mit Rücksicht auf das Vermögen des Beschädigers und des Beschädigten auf den ganzen Ersatz oder doch einen billigen Teil desselben zu erkennen. Gemäß § 65 StVO dürften Kinder unter 12 Jahren auf öffentlichen Straßen ein Fahrrad nur unter Aufsicht lenken. Eine Wohnstraße sei eine öffentliche Straße im Sinn der StVO. Die Erstbeklagte habe zwar durch die Nichtbeaufsichtigung ihres neunjährigen Sohnes eine Schutznorm der StVO verletzt, dies aber nicht schuldhaft, weil sie neben dem Drittbeklagte auch auf dessen Geschwister aufzupassen gehabt hätte. Es sei ihr nicht zuzumuten, die Aufsicht ihrer beiden jüngeren Kinder zu vernachlässigen, zumal der Drittbeklagte ein normal entwickeltes Kind sei, das das Radfahren gut beherrsche und bereits öfters, auch in Begleitung seiner Mutter, ohne Zwischenfälle in der genannten Wohnstraße, in der auch üblicherweise andere Kinder radfahren, mit seinem Rad unterwegs gewesen sei. Dem Zweitbeklagten sei eine Verletzung der Aufsichtspflicht nicht vorzuwerfen, weil er sich zum Unfallszeitpunkt an seiner Arbeitsstelle befunden habe. Selbst im Falle einer schuldhaften Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Erstbeklagte stehe einer Haftung entgegen, daß die Einbringlichkeit des Ersatzes zweifelhaft sei, weil sie keiner Erwerbstätigkeit nachgehe und vermögenslos sei. Der neunjährige Drittbeklagte habe sich zwar rechtswidrig verhalten, weil sowohl freihändiges Radfahren gemäß § 68 Abs 3 lit a StVO, als auch das Radfahren auf Wohnstraßen, das nicht unter den Begriff Spielen falle, untersagt seien. Es könne aber von einem normal entwickelten neunjährigen Kind nicht erwartet werden, derart "vorausschauend" zu fahren, um jederzeit bei Eintritt eines unvorhergesehenen Ereignisses, wie im vorliegenden Fall, rechtzeitig reagieren zu können. Auch könne von ihm nicht die Einsicht erwartet werden, daß Radfahren in Wohnstraßen nicht erlaubt sei, weil er in der Straße ebenso wie auch andere Kinder schon öfter gefahren sei. Unter Berücksichtung des Alters des Drittbeklagten. das noch weit von der Mündigkeitsgrenze entfernt gewesen sei, könne ihm ein Verschulden nicht angelastet werden. Auch die Fälle 2 und 3 des § 1310 ABGB lägen nicht vor. Da er vermögenslos sei und eine vergleichbar schlechte Vermögenssituation des Klägers nicht bescheinigt sei, sei davon auszugehen, daß der geschädigte Kläger den Schaden leichter tragen könne als der Drittbeklagte.

Das vom Kläger angerufene Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung.

Es teilte, ausgehend von den übernommenen Feststellungen des Erstgerichtes, dessen rechtliche Überlegungen, daß die Erstbeklagte durch ihre Nichtanwesenheit auf der Spielstraße ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt habe, wenn sie ihren neunjährigen Sohn zum Spielen auf eine Spielstraße mit einem BMX‑Fahrrad geschickt habe, weil dieser teilweise unter ihrer Aufsicht bereits öfters auf der Spielstraße mit dem Rad gefahren sei. Dazu komme, daß sie ein zwei- und ein siebenjähriges Kind zu betreuen gehabt habe. Es sei auch zu berücksichtigen, daß der Drittbeklagte ein BMX‑Rad verwendet habe, das für die Benützung durch Kinder bestimmt sei. Der Drittbeklagte habe trotz seines Alters ohne Aufsicht erlaubterweise sein Fahrrad auf der Wohnstraße benützten dürfen, eine Teilnahme am Straßenverkehr sei damit nicht verbunden gewesen, weil die Wohnstraße nur als Spielstraße verwendet worden sei. Die spielerische Verwendung eines Fahrrades auf einer solchen Spielstraße falle nicht unter den Begriff des "Lenkens eines Fahrrades" im Sinn des § 65 StVO, sondern unter das davon abgegrenzte und in Wohnstraßen zulässige "Spielen". Die Mutter habe ihren Sohn auch nur zum "Spielen" auf die Wohnstraße geschickt. Anders als etwa für Gehsteige oder Gehwege sei hier keine Beaufsichtigungspflicht festgelegt und auch die Verwendung eines Fahrades ausdrücklich gestattet. Der Zweitbeklagte, der nach den Feststellungen an seiner Arbeitsstelle gewesen sei, habe seine Aufsichtspflicht nicht verletzt, weil die Mutter ihren Sohn zum Spielen auf die Wohnstraße geschickt und er im konkreten Fall die Aufsicht über seinen Sohn nicht ausgeübt habe, sondern sich auf die Beaufsichtigung durch den anderen Elternteil verlassen habe dürfen (Reischauer in Rummel2 § 1310 Rz 6). Bei der Prüfung einer allfälligen Haftung des Drittbeklagten nach § 1310 ABGB obliege es dem Geschädigten, die tatsächlichen Voraussetzungen für die ausnahmsweise Heranziehung des unmündigen Schädigers zur Haftung zu behaupten und zu beweisen, während es dem Schädiger zukomme, zu seinen Gunsten sprechende Umstände in Ansehung der Billigkeitserwägungen zu behaupten und zu beweisen. Der Drittbeklagte habe mit seinem BMX‑Rad auf der Wohnstraße "spielen" dürfen. Der Unfall sei nicht anders zu beurteilen, wie wenn der Kläger mit einem anderen spielenden Kind zusammengestoßen wäre. Auch könne der Umstand, daß der Drittbeklagte freihändig gefahren sei, nicht als kausal für den Zusammenstoß mit dem dem Ball nachlaufenden Kläger angesehen werden, weil nicht feststehe, daß der Unfall vermieden worden wäre, wenn der Drittbeklagte die Hände auf der Lenkstange gehalten hätte. Es könnte auch davon ausgegangen werden, daß der Kläger, der einem Ball nachgelaufen sei, auf die Radfahrer zu achten gehabt hätte. Der Unfall sei auf einen unglücklichen Zufall zurückzuführen. Der Drittbeklagte habe nicht damit rechnen müssen, daß ein anderes Kind ihm in das Rad laufen werde. Von ihm könne nicht verlangt werden, daß er alle mit dem Radfahren auf einem Spielplatz verbundenen möglichen Gefahren erkennen habe können. Selbst wenn man ihm eine gewisse Sorglosigkeit vorwerfen könnte, wäre dieses Verschulden nicht als derart schwerwiegend zu qualifizieren, um daraus eine Schadenersatzpflicht abzuleiten. Eine Haftung des Drittbeklagten nach dem ersten Fall des § 1310 ABGB sei zu verneinen, ein solche nach dem zweiten Fall dieser Bestimmung von vorneherein auszuschließen. Schließlich sei auch eine Haftung nach Billigkeitsgründen nach dem dritten Fall des § 1310 ABGB zu verneinen; die Eltern des Drittbeklagten seien vermögenslos, während die Mutter des Klägers Diplomkrankenschwester und der Vater Oberkellner sei und sie daher den Schaden leichter tragen könnten.

Das Berufungsgericht sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage, ob Kinder mit Fahrrädern in Wohnstraßen ohne Aufsicht spielen dürfen, nicht vorliege.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen im Sinn einer Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die beklagten Parteien beantragen, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist hinsichtlich des Zweitbeklagten nicht, hinsichtlich der Erst‑ und des Drittbeklagten im Sinn des Eventualantrages berechtigt.

Soweit dem Zweitbeklagten mangelnde Beaufsichtigung des Drittbeklagten vorgeworfen wird, ist auf die Feststellungen zu verweisen, daß er zum Unfallszeitpunkt außer Haus war und gearbeitet hatte und daher davon ausgehen konnte, daß die allenfalls erforderliche Aufsicht durch die Erstbeklagte wahrgenommen wird. Es genügt, hiezu auf die zutreffende Begründung des Berufungsgerichtes hinzuweisen (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO).

Im übrigen reichen die Feststellungen zur Prüfung der entscheidungswesentlichen Frage, ob die Erstbeklagte zur Haftung nach § 1309 ABGB heranzuziehen ist, nicht aus.

Unstrittig ist, daß sich der Unfall im Bereich einer Wohnstraße ereignet hat. Der Begriff der Wohnstraße ist in § 2 Abs 1 Z 1a StVO definiert und bezeichnet eine für den Fußgänger- und beschränkten Fahrzeugverkehr gemeinsam bestimmte und als solche gekennzeichnete Straße. Nach § 76b Abs 1 StVO in der hier noch geltenden Fassung vor der 20. StVO‑Novelle BGBl 1998 I 92 war in solchen Wohnstraßen der Fahrzeugverkehr verboten; ausgenommen davon war (und ist auch derzeit) unter anderem der Fahrradverkehr. Nach dem unverändert gebliebenen Abs 2 dieser Bestimmung ist in Wohnstraßen das Betreten der Fahrbahn und das Spielen gestattet.

Zu beachten ist weiters, daß nach § 65 Abs 1 StVO der Lenker eines Fahrrades mindestens 12 Jahre alt sein muß und Kinder unter zwölf Jahren ein Fahrrad nur unter Aufsicht einer Person, die das 16. Lebensjahr vollendet hat, oder mit behördlicher Bewilligung (Radfahrausweis ab vollendetem 10. Lebenjahr) lenken dürfen.

Dies bedeutet zunächst, daß auf Wohnstraßen "gespielt" werden darf. Durch den Begriff "Spiele" wird jede Form spielerischer Betätigung erfaßt, gleichgültig, ob es sich um einfache Spiele (Fangenspielen etc), Ballspiele oder sonstige Mannschaftspiele oder auch um das Befahren der Fahrbahn mit nicht als Fahrzeuge zu bewertenden Tretrollern (ZVR 1980/2; ZVR 1972/192), Dreirädern, Kinderfahrrädern, Rollschuhen udgl handelt (Dittrich/Stolzlechner StVO3 § 88 Rz 2). Hingegen fällt die Verwendung eines Fahrrades grundsätzlich nicht unter den Begriff des "Spielens", weshalb es Kindern unter 10 Jahren auch auf sogenannten "Spielstraßen" (vgl § 88 Abs 1 StVO) verboten ist, ohne Aufsicht mit einem Fahrrad zu fahren (ErlRV StVO 1960 22 BlgNR 9. GP 70). Dies gilt entgegen der Meinung des Berufungsgerichtes auch für Wohnstraßen, zumal im § 76b StVO hiefür keine Ausnahme vorgesehen wird.

Als Kinderfahrräder bzw fahrzeugähnliche Kinderspielzeuge werden durch das Gesetz Fahrräder definiert, die einen äußeren Felgendurchmesser von höchstens 300 mm und eine Fahrgeschwindigkeit von höchstens 5 km/h erreichen können (§ 2 Abs 1 Z 19 StVO). Durch diese Definition, die mit der am 1. 3. 1989 in Kraft getretenen 15. StVO‑Novelle, BGBl 1989/86, geschaffen wurde, sollte klargestellt werden, unter welchen Kriterien ein Kinderfahrrad noch als fahrzeugähnliches Kinderspielzeug gilt (vgl ErlRV 860 BlgNR 17. GP 21). Die von Dittrich/Stolzlechner (in StVO3 [Mai 1986] § 88 Rz 5) unter Berufung auf Haupfleisch (in ZVR 1979, 299) vertretene Rechtsmeinung, Kinderfahrräder seien dann als fahrzeugähnliches Kinderspielzeug anzusehen, "wenn mit ihnen entweder auf Grund ihrer Bauart oder auf Grund der Fahrkenntnisse des Lenkers eine Geschwindigkeit, die dem Gehtempo (max 10 km/h) entspräche, nicht wesentlich überschritten werden kann", ist daher durch die zuvor dargestellte gesetzliche Begriffsbestimmung überholt.

Danach darf auf Wohnstraßen nur mit "fahrzeugähnlichem Kinderspielzeug" gespielt werden. Es muß sich daher um ein "Kinderfahrrad" handeln, das einen Felgendurchmesser von höchstens 300 mm aufweist und eine Höchstgeschwindigkeit von 5 km/h erreicht. Ein Fahrrad, das einen größeren Felgendurchmesser aufweist oder mit dem höhere Geschwindigkeiten als 5 km/h erzielt werden können, fällt daher nicht mehr unter den Begriff "fahrzeugähnliches Kinderspielzeug", sondern ist als "normales" Fahrrad, das nur unter den oben beschriebenen Voraussetzungen, im Fall des noch nicht 10jährigen Drittbeklagten also nur unter Aufsicht, gelenkt werden darf. Dies gilt nach dem Gesagten auch für Wohnstraßen. Die vom Berufungsgericht veranlaßte Außerstreitstellung, daß es sich bei dem vom Drittbeklagten verwendeten Fahrrad um ein "BMX‑Rad" handelte, vermag die konkrete Feststellung, welchen Felgendurchmesser das vom ihm benützte Fahrrad hatte und welche Geschwindigkeit damit erreicht werde konnte, nicht zu ersetzen.

Sollte im fortgesetzten Verfahren festgestellt werden, daß das vom Drittbeklagten gelenkte Fahrrad noch als "fahrzeugähnliches Kinderspielzeug", mit welchem auf einer Wohnstraße "gespielt" werden darf, anzusehen ist, wäre eine mangelnde Beaufsichtigung durch die Erstbeklagte nicht gegeben gewesen. Beim Drittbeklagten handelt es sich um ein schulpflichtiges Kind, bei dem das Spielen auch in größerer Entfernung vom Elternhaus üblich ist und dieses Spielen auch der Verkehrsansschauung entspricht (Harrer in Schwimann, ABGBý § 1309 Rz 6; ZVR 1984/324).

Sollte sich im fortgesetzten Verfahren herausstellen, daß es sich bei dem vom Drittbeklagten benützten Fahrrad nicht um ein fahrzeugähnliches Kinderspielzeug (Kinderfahrrad), sondern um ein "normales" Fahrrad handelte, hätte dieses nur unter Beaufsichtigung einer Person, die das 16. Lebensjahr vollendet hat, gelenkt werden dürfen (§ 65 Abs 1 StVO). Die Erstbeklagte hätte daher ihrem Sohn nicht gestatten dürfen, das Fahrrad alleine - auch nicht auf einer Wohnstraße - zu benützen. In diesem Falle wäre die Verletzung der Aufsichtspflicht durch die Erstbeklagte zu bejahen. Sie hätte zur Wahrnehmung dieser Pflicht lediglich den von ihr verwahrten Schlüssel zum Fahrrad nicht herausgeben müssen und sohin den Drittbeklagten an der Benützung des Fahrrades gehindert. Die Erstbeklagte wäre dem Kläger daher aufgrund des § 1309 ABGB zum Schadenersatz verpflichtet, wobei ein Mitverschulden des Klägers im Hinblick auf sein geringes Alter und den Umstand, daß sich der Unfall beim Spielen auf einer Verkehrsfläche ereignete, auf der er spielen durfte und daher zu geringerer Aufmerksamkeit verpflichtet war, nicht in Betracht käme.

Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren auch über das gegen den Drittbeklagten gerichtete Eventualbegehren zu entscheiden haben, das nunmehr schon wegen der (rechtskräftigen) Abweisung der den Zweitbeklagten betreffenden Klagebegehren wirksam wurde. Hiezu ist folgendes zu sagen:

Bei Prüfung des allfälligen Verschuldens des Drittbeklagten ist darauf abzustellen, welche Einsicht er im Augenblick der schädigenden Handlungsweise tatsächlich hatte (Harrer in Schwimann ABGB2 § 1310 Rz 7 mN). Einem neunjährigen Knaben kann die grundsätzliche Einsicht in die einfachen Verkehrsregeln zugemutet werden (EF 36.173; ZVR 1984/203). Im Vordergrund steht hier, daß der Drittbeklagte das Fahrrad freihändig und rückwärtsschauend auf einer Wohnstraße, auf der mehrere Kinder Ball spielten, benützte. Nach Ansicht des erkennenden Senates besitzt aber ein neunjähriger Knabe, der ab dem 10. Lebensjahr den Radfahrausweis erlangen hätte können und in diesem Fall ohne Aufsicht ein Fahrrad benützen hätte dürfen, die Einsicht, daß eine derartige Fahrweise nicht nur sich selbst, sondern auch andere Kinder in großem Maß gefährdet, und zwar auch dann, wenn es sich um ein fahrzeugähnliches Kinderspielzeug gehandelt haben sollte (vgl auch die Beispiele von Harrer in Schwimanný § 1310 Rz 11; RIS‑Justiz RS0027590). Eine derartige Fahrweise begründet daher ein Verschulden im Sinn des § 1310 ABGB, weshalb der Drittbeklagte zum Ersatz des dem Kläger entstandenen Schadens zu "einem billigen Teil" heranzuziehen ist. Bei der Ermittlung dieses Teiles ist zu berücksichtigen, daß der Kläger unvorsichtig einem Ball nachlief. Dies begründet nach dem Gesagten zwar kein Mitverschulden, hat aber eine Minderung seines Ersatzanspruches, der ihm unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit aufgrund des § 1310 ABGB gegen den unmündigen Drittbeklagten zusteht, zur Folge. Dabei erscheint dem erkennenden Senat eine Haftung des Drittbeklagten für zwei Drittel des entstandenen Schadens angemessen.

Diese Schadenersatzpflicht des Drittbeklagten besteht hier unabhängig davon, ob auch die Erstbeklagte zum Schadenersatz verpflichtet ist. Zwar hat der Schadenersatzanspruch nach § 1310 ABGB gegenüber einem allfälligen Ersatzanspruch nach § 1309 ABGB nur subsidiären Charakter (Reischauer in Rummelý § 1310 Rz 2; VersR 1989, 1111 = VersRdSch 1989, 355; JBl 1996, 388 ua). Die festgestellte Vermögenslosigkeit der Erstbeklagten gebietet es aber, den Drittbeklagten auch dann zum Schadenersatz heranzuziehen, wenn die Erstbeklagte hiezu verpflichtet wäre (Reischauer aaO; JBl 1996, 388), wobei auf die Ansicht Harrers (Entscheidungsbesprechung, JBl 1996, 390 [391]), wonach die Subsidiarität bei Illiquidät der Aufsichtsperson nur dann ausgeschlossen ist, wenn durch das Verhalten des Kindes der Tatbestand eines Deliktes (ausgenommen die Voraussetzungen für die Deliktsfähigkeit) erfüllt wurde, nicht eingegangen werden muß, weil ein solcher Fall hier gegeben ist.

Da die Tatsachenfeststellungen des Erstgerichtes nicht ausreichen, um die Höhe des eingeklagten Schadens beurteilen zu können, mußten die Urteile der Vorinstanzen auch bezüglich des Drittbeklagten zur Verfahrensergänzung aufgehoben werden.

Die Kostenentscheidung hinsichtlich des Zweitbeklagten gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO; der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO. Der Zweitbeklagte hat Anspruch auf ein Drittel der ihm entstandenen Verfahrenskosten.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte