Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichtes wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichtes wieder hergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen ihres Vertreters binnen 14 Tagen die mit S 11.830,56 (hierin enthalten S 1.971,76 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit S 7.368,88 (hierin enthalten S 676,48 USt und S 3.310 Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 29. 1. 1998 ereignete sich in Wien auf der Nußdorfer Straße ein Verkehrsunfall zwischen einem von der klagenden Partei gelenkten und gehaltenen PKW sowie einem bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Kleinbus. Hiebei wurden beide Fahrzeuge beschädigt. Beide Fahrzeuge waren hiebei gegen 22 Uhr Richtung stadtauswärts gefahren. Das Verkehrsaufkommen war gering; es war dunkel, die Fahrbahn regennass und die elektrische Straßenbeleuchtung eingeschaltet. In der Nußdorfer Straße befinden sich im Unfallbereich in der Fahrbahnmitte Straßenbahnschienen, die durch Sperrflächen dem Individualverkehr entzogen sind, sodass in jeder Fahrtrichtung jeweils nur ein aktiver Fahrstreifen zur Verfügung steht. Die Nußdorfer Straße war beidseitig zur Gänze verparkt. Der Kläger fuhr mit ca 50 km/h in Richtung Gürtel, wobei er auf das Beklagtenfahrzeug kontinuierlich aufschloss. Der Lenker des Beklagtenfahrzeuges hielt nämlich eine geringere Geschwindigkeit von ca 25 km/h ein. Auf Höhe des Hauses Nr 36 setzte er den rechten Blinker und fuhr langsam an den rechten Fahrbahnrand zu den dort geparkten Autos zu. Unmittelbar vor einer dort gegebenen Unterbrechung der Sperrfläche blieb er fahrbahnparallel mit geringem Seitenabstand zu den geparkten Fahrzeugen stehen, sodass eine Durchfahrbreite zwischen linken Fahrzeugseite und der Sperrfläche von etwa 1,6 m verblieb. Für das rund 1,7 m breite klägerische Fahrzeug war somit ein Vorbeifahren am stehenden Beklagtenfahrzeug ohne Befahren der Sperrfläche nicht möglich. Das Beklagtenfahrzeug befand sich ca 3 Sekunden im Stillstand. Der Kläger hatte inzwischen seine Geschwindigkeit durch Gaswegnehmen auf ca 40 km/h verringert und wollte am stehenden Beklagtenfahrzeug links vorbeifahren. Er überzeugte sich durch einen Blick in den linken Außenspiegel, dass kein anderes Fahrzeug von hinten kommen würde und lenkte sein Fahrzeug nach links aus, wobei er mit den linken Reifen auf der Sperrfläche fuhr. Gleichzeitig setzte der Lenker des Beklagtenfahrzeuges, ohne sich davon zu überzeugen, ob dies auch ohne Gefährdung oder Behinderung eventuell nachfolgenden Verkehrs möglich ist, seine Fahrt fort, wobei nicht festgestellt werden konnte, ob er hiebei auch den linken Blinker setzte. Das Losfahren des mit 1,5/m2 pro Sekunde beschleunigenden Beklagtenfahrzeuges war für den Kläger erst erkennbar, als er sich bereits auf etwa 14 m genähert hatte. Trotz Vollbremsung ohne Reaktionsverzug konnte er die Kollision nicht mehr vermeiden.
Mit der am 8. 7. 1998 eingebrachten Klage begehrt der Kläger die Verurteilung der beklagten Partei zur Zahlung seines mit S 101.000 errechneten Fahrzeugschadens samt 4 % Zinsen seit 26. 3. 1998. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Versicherungsnehmer der beklagten Partei, weil dieser auf einer Vorrangstraße umgedreht und mit dem passierenden Klagsfahrzeug, welches er übersehen habe, kollidiert sei.
Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren lediglich dem Grunde nach. Das Alleinverschulden habe der Kläger selbst zu vertreten. Der Fahrzeugschaden am Beklagtenfahrzeug in Höhe von (später eingeschränkten) S 32.842 werde als Gegenforderung eingewendet.
Das Erstgericht sprach mit mehrgliedrigem Urteil aus, dass die Klageforderung mit S 101.000 zu Recht und die Gegenforderung nicht zu Recht besteht und verurteilte die beklagte Partei demgemäß zur Zahlung des Klagsbetrages samt 4 % Zinsen seit 26. 3. 1998. Es beurteilte den eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Sachverhalt rechtlich dahin, dass der Kläger gegen § 9 Abs 1 StVO dadurch verstoßen habe, dass er die dortige Sperrfläche befahren habe; trotzdem mangle es am Rechtswidrigkeitszusammenhang, weil diese Sperrfläche nur den Zweck erfülle, den Gleiskörper für die Straßenbahn freizuhalten, nicht aber, um ein Vorbeifahren eines anderen Fahrzeuges an einem vorschriftswidrig in zweiter Spur Haltenden zu verhindern. Der Lenker des Beklagtenfahrzeuges habe seinerseits gegen die Vorrangbestimmung gemäß § 19 Abs 7 StVO verstoßen, weshalb ihn das Alleinverschulden an der Kollision treffe.
Das Berufungsgericht gab der von der beklagten Partei erhobenen Berufung teilweise Folge und änderte die angefochtene Entscheidung dahin ab, dass es das Verschulden beider Lenker im Verhältnis 2:1 zu Lasten der beklagten Partei ausmaß. Es erkannte demgemäß die Klageforderung mit S 67.333,33 und die eingewendete Gegenforderung mit S 10.819,33 als jeweils zu Recht bestehend und verurteilte die beklagte Partei, dem Kläger S 56.614 samt 4 % Zinsen seit 26. 3. 1998 zu bezahlen. Das Mehrbegehren von S 44.386 sA wurde abgewiesen. Die Revision wurde für zulässig erklärt. Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes, nicht jedoch dessen rechtliche Beurteilung. Das Vorhandensein von Sperrflächen bedeute ein allgemeines Fahrverbot; das Befahren sei daher generell verboten. Dieser Verstoß gegen § 9 Abs 1 StVO liege auch im Rechtswidrigkeitszusammenhang. Der Lenker des Beklagtenfahrzeuges habe hingegen nicht (wie vom Erstgericht angenommen) gegen § 19 Abs 7, sondern gegen § 11 Abs 2 (Unterlassung einer Fahrtrichtungsänderungsanzeige) und § 14 Abs 1 StVO (gefährliches Umkehrmanöver) verstoßen. Die ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt, weil eine Judikatur des Obersten Gerichtshofes zum Schutzzweck einer Sperrfläche auf Straßenbahngeleisen (soweit überblickbar) nicht vorliege, und es sich dabei um eine über den Anlassfall hinausgehende und das Rechtsmittelgericht wiederholt befassende Rechtsfrage handle.
Gegen dieses Urteil richtet sich die auf den Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung gestützte Revision der klagenden Partei mit dem Antrag, das Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen; hilfsweise wird auch ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der primär die Zurückweisung des "außerordentlichen Revisionsrekurses" (gemeint wohl: der Revision) mangels Vorliegens der Voraussetzungen für eine erhebliche Rechtsfrage, in eventu Nichtstattgebung des gegnerischen Rechtsmittels beantragt wird.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und auch berechtigt.
Vom Obersten Gerichtshof zu beurteilen ist hiebei nur mehr das Fahrverhalten des Klägers, weil die beklagte Partei das schuldhafte und rechtswidrige Verhalten ihres Versicherungsnehmers nicht mehr bekämpft und den entsprechenden Zuspruchsteil des Berufungsurteiles in Rechtskraft erwachsen ließ. Im Vordergrund dieser Beurteilung steht dabei die Bestimmung des § 9 Abs 1 erster Satz StVO; danach dürfen Sperrflächen, wie sie in § 55 Abs 4 StVO definiert werden, grundsätzlich weder befahren noch auf solchen gemäß § 24 Abs 1 lit m StVO gehalten oder geparkt werden. Für das "Überfahren" genügt es, wenn lediglich mit einem Rad auf der Linie (oder Fläche) gefahren wird (Dittrich/Stolzlechner, StVO Rz 11 und 22 zu § 9 unter Hinweis auf die EB). Bereits in der Entscheidung ZVR 1969/130 hat der Oberste Gerichtshof allerdings ausgesprochen, dass das Verkehrsverbot (ZVR 1986/81) des Überfahrens von Sperrlinien einschränkend auszulegen und eine Ausnahme (etwa) für den Fall anzunehmen ist, dass ein Vorbeifahren an einem Hindernis nur unter Überfahren derselben möglich ist. Diese Entscheidung wird auch zustimmend von Dittrich/Stolzlechner, Rz 18 und 23 zu § 9 sowie Rz 13 zu § 17 StVO zitiert. Andererseits wurde in der Entscheidung 2 Ob 33/94 (ZVR 1995/141), der ebenfalls ein Verkehrsunfall im Wiener Innenstadtbereich zugrunde lag, ausgesprochen, dass sich ein an sich bevorrangter Verkehrsteilnehmer dann, wenn er unbefugtermaßen eine Sperrfläche benützte, auf diesen ihm sonst zukommenden Vorrang nicht mehr mit Erfolg berufen könne, weil eben deren Befahren durch § 9 Abs 1 StVO ausdrücklich verboten wird. In der Entscheidung 2 Ob 46/94 (ZVR 1995/83) wurde - im Falle des Befahrens eines "Fahrstreifens für Omnibusse" durch einen PKW - ausgesprochen, dass die hiefür maßgebliche (Schutz-)Norm des § 53 Abs 1 Z 25 StVO nicht nur die Beschleunigung des öffentlichen Verkehrs (wie sie hier das Erstgreicht für den vergleichbaren Straßenbahnbereich unterstellte) im Auge habe, sondern durch das Verbot des Befahrens (dort) eines solchen Fahrstreifens (hier: durch die angebrachte Sperrfläche im Schienenbereich) durch einen einzelnen Lenker grundsätzlich jedwede Gefahrensituation im Straßenverkehr hintangehalten werden soll, also alle Gefahren als umfasst zu gelten haben, die durch ein solches (verkehrswidriges) Befahren mit anderen (als den erlaubten) Fahrzeugen verursacht und erhöht werden können.
Ohne nun die Frage abschließend beurteilen zu müssen, ob diese Überlegungen spiegelbildlich auch im hier zur Entscheidung anstehenden Fall zutreffen (mögen), vermeint der Senat, dass jedenfalls die den Unfall auslösende und von der beklagten Partei auch gar nicht (mehr) in Abrede gestellte Fahrweise ihres Versicherungsnehmers in concreto derart grob verkehrswidrig war, dass selbst ein anzunehmendes Mitverschulden des Klägers, der ja festgestelltermaßen auch die in der vorzitierten Entscheidung ZVR 1969/130 vorgegebenen Kriterien, nämlich Anwendung besonderer Vorsicht und Aufmerksamkeit beim Auslenken auf die Sperrfläche, beachtet und diese ausschließlich zum Zwecke des Ausweichens an dem vorschriftswidrig in zweiter Spur haltenden und seine eigene Fahrspur damit unzulässigerweise einengenden Fahrzeug geringfügig überfahren hat (anders als in den Fällen ZVR 1995/83 und 141, wo die Lenker jeweils an aufgestauten Fahrzeugkolonnen rascher vorbeifahren wollten) jedenfalls vernachlässigbar erscheint und damit in den Hintergrund tritt. Damit kann aber die Ansicht des Berufungsgerichtes, auch den Kläger treffe ein Verschulden, nicht geteilt werden, weshalb der Revision Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichtes wiederherzustellen war.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens, welche tarifmäßig richtig verzeichnet wurden, ist in den §§ 41, 50 ZPO begründet.
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