OGH 2Ob25/95

OGH2Ob25/9521.12.1995

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dr.Rainer Wolfgang J*****, Rechtsanwalt, *****, und der Nebenintervenientin auf Seiten der klagenden Partei D***** Versicherungs-AG, ***** vertreten durch Dr.Michaela Iro, Rechtsanwältin in Wien, wider die beklagte Partei E***** Versicherungs-AG, ***** vertreten durch Dr.Hanns Christian Baldinger, Rechtsanwalt in Wien, und den Nebenintervenienten auf Seiten der beklagten Partei Bernhard L*****, vertreten durch Dr.Peter Reitschmied, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 58.663,20 sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgerichtes vom 14.November 1994, GZ 42 R 565/93-23, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Bezirksgerichtes Innere Stadt Wien vom 15.Juni 1993, GZ 27 C 453/92-12, in der Hauptsache bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.871,04 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 811,84 USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 11.12.1991 ereignete sich gegen 15.35 Uhr in 1010 Wien, im Bereich der Kreuzung Coburgbastei-Weihburggasse ein Verkehrsunfall an dem der vom Kläger gehaltene und gelenkte, bei seiner Nebenintervenientin haftpflichtversicherte PKW Mercedes 560 SEC und der vom Nebenintervenienten Bernhard L***** gehaltene und gelenkte, bei der beklagten Partei haftpflichtversicherte PKW Audi Quatro beteiligt waren. Dabei wurde das Klagsfahrzeug beschädigt, dem Kläger entstand ein Schaden in der Höhe von S 58.663,20 an Reparaturkosten. Zur Unfallzeit bestanden keine witterungsbedingten Sichtbehinderungen, die Fahrbahn war trocken.

Der Kläger begehrte mit der vorliegenden Klage vom Beklagten den Ersatz des ihm bei diesem Unfall entstandenen Schadens mit der Begründung, der Lenker des Beklagtenfahrzeuges habe beim Linksabbiegen in die Coburgbastei die Kurve extrem geschnitten; das Alleinverschulden treffe den Lenker des Beklagtenfahrzeuges. Die Unfallendlage des Klagsfahrzeuges habe sich am Beginn des Zebrastreifens auf der rechten Fahrspur des Klagsfahrzeuges befunden.

Die beklagte Partei stellte das Klagebegehren der Höhe nach außer Streit, bestritt es jedoch dem Grunde nach und wandte ein, daß der Kläger den Rechtsvorrang des Beklagtenfahrzeuges mißachtet habe.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt, wobei es im wesentlichen von folgendem Sachverhalt ausging:

Die Coburgbastei und die Weihburggasse bilden eine etwa rechtwinkelige Kreuzung, wobei die Coburgbastei aus der Richtung Schwarzenbergplatz kommend zunächst als Einbahn geführt wird, ab der Kreuzung mit der Weihburggasse jedoch in beiden Fahrtrichtungen befahrbar ist. Auf der rechten Seite der Coburgbastei stand in Fahrtrichtung des Klägers unmittelbar vor dem Schutzweg ein Kastenwagen geparkt, welcher sowohl für die aus der Coburgbastei als auch für die aus der Weihburggasse kommenden Fahrzeuge eine Sichtbehinderung darstellte. Der Schutzweg selbst war nicht verparkt. Der Kläger näherte sich auf der Coburgbastei mit einer Geschwindigkeit von ca 10 km/h der Kreuzung. Der Lenker des Beklagtenfahrzeuges befuhr die Weihburggasse mit einer Geschwindigkeit von etwa 25 km/h, wobei er zu den am linken Rand schräg geparkten Fahrzeugen einen Seitenabstand von etwa 0/5 m einhielt. Er wollte nach links in die Coburgbastei einbiegen, reduzierte die Geschwindigkeit und schnitt die Kurve derart, daß er einen Seitenabstand von ca 5 m zum Kreuzungsmittelpunkt einhielt.

Als der Kläger etwa eine halbe Fahrzeuglänge vor der Endposition war, sah er erstmals das Beklagtenfahrzeug. Beide Lenker führten eine Vollbremsung durch; das Klagsfahrzeug hatte im Kollisionszeitpunkt eine Restgeschwindigkeit von höchstens 5 km/h, das Beklagtenfahrzeug eine Geschwindigkeit von ca 13 km/h.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, der Unfall habe sich außerhalb des Kreuzungsbereiches bereits in der Coburgbastei ereignet, da der Kollisionspunkt innerhalb der Baufluchtlinie der Coburgbastei liege. Dem Lenker des Beklagtenfahrzeuges komme daher kein Rechtsvorrang gemäß § 19 Abs 1 StVO zu. Er sei entgegen § 13 StVO nach links eingebogen, da er die Kurve geschnitten habe. Daher treffe ihn das Alleinverschulden.

Das Gericht zweiter Instanz gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und sprach aus, daß die ordentliche Revision nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig sei.

Aufgrund einer Beweiswiederholung ging das Berufungsgericht über den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt hinaus von folgendem Sachverhalt aus:

Die Weihburggasse ist in der vom Lenker des Beklagtenfahrzeuges benützten Fahrtrichtung (Richtung Ring) eine Einbahn. Die Coburgbastei war rechts und links durchgehend verparkt. Die Einfahrt in die Coburgbastei ist 8,4 m breit. Der Kläger fuhr in der Coburgbastei Richtung Weihburggasse und näherte sich der Kreuzung mit einer Geschwindigkeit von 10 km/h. Er beabsichtigte, nach links in die Weihburggasse einzubiegen, und war daher zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet, wobei er die Fahrbahnmitte nicht überschritt. Der Lenker des Beklagtenfahrzeuges kam durch die Weihburggasse für den Kläger gesehen von rechts, und bog nach links in die Coburgbastei ein. Als das Beklagtenfahrzeug auftauchte, bremste der Kläger seinen PKW ab. Das Klagsfahrzeug befand sich im Kollisionszeitpunkt mit der Front 0,5 m vor Erreichen des Zebrastreifens der Coburgbastei, bzw 2,4 m vor Erreichen der Baufluchtlinie der Weihburggasse. Der Seitenabstand des Klagsfahrzeuges zu dem rechts abgestellten Kastenwagen betrug ca 1,3 m (rechnerisch 1,37 m).

Das Beklagtenfahrzeug stieß mit der linken Frontecke gegen die rechte Frontseite des Klagsfahrzeuges. Das Beklagtenfahrzeug überragte im Kollisionszeitpunkt die gedachte Mitte der "aktiven" Fahrbahn der Coburgbastei um ca 1,2 m nach links (gesehen in Fahrtrichtung des Beklagtenfahrzeuges). Der Seitenabstand der rechten Frontecke des Beklagtenfahrzeuges zum rechten Rand der "aktiven" Fahrbahn betrug ca 2,6 m. Das Beklagtenfahrzeug ragte im Kollisionszeitpunkt noch mit zumindest einem Drittel seiner Länge über die Baufluchtlinie der Weihburggasse zurück in das Kreuzungsplateau. Das Klagsfahrzeug war zum Kollisionszeitpunkt nahezu im Stillstand, eine Geschwindigkeit von maximal 5 km/h ist möglich; der Fehlbremsweg des Klagsfahrzeuges betrug maximal 10 cm.

Rechtlich führte das Berufungsgericht aus, gemäß § 19 Abs 1 StVO sei dem Lenker des Beklagtenfahrzeuges der Rechtsvorrang zugekommen, eine Vorrangverletzung seitens des Klägers liege jedoch nicht vor, da der Kläger ordnungsgemäß auf seiner Richtungsfahrbahn eingeordnet gewesen sei und das Kreuzungsplateau ausreichend weiträumig sei, um dem Beklagtenfahrzeug ein problemloses Einbiegen auf seine rechte Richtungsfahrbahn der Coburgbastei ohne Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn außerhalb der Kreuzung zu ermöglichen. Der Kläger habe schließlich nur eine geringe Geschwindigkeit eingehalten, die es ihm ermöglicht hätte, sein Fahrzeug noch vor dem Zebrastreifen anzuhalten und somit insgesamt ein Verhalten gesetzt, wie man es von einem wartepflichtigen Lenker erwarten könne. Gemäß § 19 Abs 7 StVO dürfe der Wartepflichtige den Lenker des Fahrzeuges mit Vorrang durch Kreuzen oder Einbiegen nicht zu unvermitteltem Bremsen oder Ablenken nötigen. Die Kreuzung sei gemäß § 2 Abs 1 Z 17 StVO jener Bereich, in dem eine Straße eine andere überschneide oder in sie einmünde. Zur Kreuzung gehöre daher auch der Bereich der verlängert gedachten Gesteige.Auch die im Bereich der Verlängerung der Gehsteige befindlichen Fußgängerübergänge seien dem Kreuzungsbereich zuzurechnen (ZVR 1982/397). Der Wartepflichtige habe den Vorrang dort zu wahren, wo er nach den örtlichen Verhältnissen im Einzelfall mit bevorrangten Fahrzeugen rechnen müsse (ZVR 1984/27 ua). Dies gelte jedenfalls für den gesamten Kreuzungsbereich, denn der Vorrang gehe auch durch verkehrswidriges Verhalten nicht verloren. Der Wartepflichtige habe sich daher einer Kreuzung so zu nähern, daß er auf ihr den Vorrang wahren könne. Nach den Entscheidungen ZVR 1980/210 und ZVR 1980/215 stehe auch einem extrem kurvenschneidenden Bevorrangten der Vorrang zu, bis er die Kreuzung mit der ganzen Länge seines Fahrzeuges verlassen habe. Nach der Entscheidung 8 Ob 176/82 müsse hingegen der Wartepflichtige nicht von vornherein damit rechnen, daß er schon vor Erreichen der Kreuzung auf seiner Richtungsfahrbahn einem einbiegenden Bevorrangten begegnen könne. Überzeugend erschienen dem Berufungsgericht in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Geigel, Der Haftpflichtprozeß, 21.Auflage Rz 255, unter Anwendung des von der österreichischen Rechtsprechung verwendeten Kreuzungsbegriffes. Danach könne den bevorrangten linksabbiegenden Lenker die volle Haftung treffen, wenn er außerhalb des Kreuzungsbereiches die Fahrbahn des ordnungsgemäß rechtsfahrenden Wartepflichtigen schneide. Zur Fahrbahnmitte der Coburgbastei führte das Berufungsgericht aus, daß unter der Annahme der "Einfahrtsbreite" von 8,4 m sowie durchgehender Verparkung der rechten Fahrbahnseite in einer Breite von ca 2 m, eine "aktive" Fahrbahn in der Breite von 6,4 m verbleibe, in deren geometrischer Mitte, also 3,2 m von den parkenden Fahrzeugen entfernt, die Fahrbahnmitte anzunehmen sei (vgl Dietrich/Veit-Schuchlenz, Anm 10 zu § 12 StVO; ZVR 1978/50).

Die ordentliche Revision wurde für zulässig erklärt, weil der Lösung der Vorrangfrage im Falle des von rechts kommenden nach links einbiegenden Bevorrangten über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.

Gegen diese Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich die aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung erhobene Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die Entscheidung der Vorinstanz im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Nach ständiger Judikatur ist das aus der Rechtsregel abgeleitete Vorfahrtsrecht bereits vor und nicht erst auf der Kreuzung zu beachten ist. Der Vorrang erstreckt sich über die ganze Kreuzung, wobei der Kreuzungsbereich durch die Abgrenzungen der Überschneidungen der sich kreuzenden Straßen bestimmt wird (ZVR 1982/397 ua). Auch die der Überquerung durch Fußgänger dienenden Fahrbahnteile - so auch Schutzwege - gehören zum Kreuzungsbereich (ZVR 1982/397 ua).

Der Wartepflichtige darf den bevorrangten Rechtskommenden nicht zu unvermitteltem Bremsen oder Ablenken nötigen und muß daher seine Fahrweise so einrichten, daß er den Vorrang dort wahren kann, wo er nach den örtlichen Verhältnissen im Einzelfall mit bevorrangten Fahrzeugen rechnen muß (ZVR 1983/75 ua). Grundsätzlich geht der Vorrang durch ein verkehrswidriges Verhalten des Bevorrangten diesem nicht verloren, bezieht sich auf den gesamten Bereich der bevorrangten Fahrbahn und gilt bis zum vollständigen Verlassen derselben mit der gesamten Länge des Fahrzeuges (ZVR 1987/62 ua).

Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht ohne Einschränkung:

Wie bereits mehrfach ausgesprochen wurde (ZVR 1972/49, ZVR 1982/397, ZVR 1983/75), wahrt der Wartepflichtige im allgemeinen den Vorrang des Rechtskommenden schon dann, wenn er sein Fahrzeug vor der verlängert gedachten, ihm zunächstliegenden Begrenzungslinie der bevorrangten Querfahrbahn (im vorliegenden Fall vor dem Schutzweg als Anfang der Kreuzung) anhält oder anhalten könnte. Erfordern es schlechte Sichtverhältnisse, hat sich der Wartepflichtige anschließend schrittweise in mehreren Etappen auf den Kreuzungsbereich vorzutasten (ZVR 1982/238 ua).

Sobald jedoch für den Wartepflichtigen bei Einhaltung der nötigen Sorgfalt erkennbar ist, daß ein bevorrangter Abbieger etwa wegen der Größe seines Fahrzeuges oder wegen der geringen Straßenbreite gezwungen sein wird, die Fahrbahnhälfte des Wartepflichtigen beim Verlassen der Kreuzung in Anspruch zu nehmen, ist er jedoch verpflichtet, in entsprechend größerem Abstand von der Querstraße zu warten (ZVR 1982/397, ZVR 1972/49). Ist dem Wartepflichtigen rechtzeitig vor Durchführung entsprechender Vorkehrungen erkennbar, daß solche besonderen Umstände vorliegen, muß er schon in einer Entfernung von der Kreuzung anhalten, die dem Bevorrangten ein unbehindertes und ungefährdetes Verlassen der Kreuzung erlaubt. Dann erstreckt sich nämlich der Vorrang des nach links abbiegenden Lenkers außerhalb des Kreuzungsbereiches auch auf die für diesen linke Straßenseite bis zum vollständigen Verlassen der Kreuzung.

Ist für den seine Richtungsfahrbahn ordnungsgemäß befahrenden Wartepflichtigen hingegen nicht rechtzeitig erkennbar, daß ein linksabbiegender Bevorrangter seine Fahrbahnhälfte befahren wird oder muß, begeht er keine Vorrangverletzung, wenn er eine Fahrweise einhält, die es ihm erlaubt, bis zum Beginn der Querstraße anzuhalten.

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, daß der Kläger den Vorrang des Beklagtenfahrzeuges wahrte, da er auf seiner Fahrbahnhälfte ordnungsgemäß, ohne die Fahrbahnmitte zu überragen, zum Linksabbiegen eingeordnet war, eine Geschwindigkeit einhielt, die ohne Kollision ein Anhalten noch vor dem Schutzweg ermöglicht hätte und für ihn das Vorliegen besonderer Umstände bezüglich des Bevorrangten nicht erkennbar waren; mit einer kraß kurvenschneidenden Fahrweise des Abbiegers an sich mußte er nicht rechnen (2 Ob 11/91). Das Berufungsgericht wies in diesem Zusammenhang zutreffend auf die für den Lenker des Beklagtenfahrzeuges günstigen Voraussetzungen zum Linksabbiegen (relativ weitläufiges Kreuzungsplateau, großer Abstand zur linken Fahrbahnseite der Weihburggasse) hin.

Im vorliegenden Fall bog der Lenker des Beklagtenfahrzeuges entgegen der Vorschrift des § 13 Abs 1 StVO in zu engem Bogen nach links ein. Ihn trifft daher das Alleinverschulden, weshalb der Revision ein Erfolg zu versagen war.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41 und 50 ZPO.

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