OGH 2Ob25/21x

OGH2Ob25/21x29.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Steger und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei H* B*, vertreten durch Dr. Helmut Klementschitz, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei V*‑Aktiengesellschaft, *, vertreten durch Dr. Robert Schaar, Rechtsanwalt in Graz, wegen 6.082,60 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Berufungsgericht vom 29. Oktober 2020, GZ 3 R 192/20g‑27, womit das Urteil des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 23. Juli 2020, GZ 203 C 94/20b‑22, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131730

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Am 28. 8. 2018 ereignete sich in Grazan der ampelgeregelten Kreuzung der Conrad‑von‑Hötzendorf‑Straße mit der Steyrergasse, für die eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h verordnet war, ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin mit ihrem PKW Renault Twingo und ein bei der Beklagten haftpflichtversicherterPKW Audi A4 beteiligt waren. Die Kollisionsgeschwindigkeit des Klagsfahrzeugs betrug 20 bis 25 km/h, jene des Beklagtenfahrzeugs rund 50 km/h. Die Eigengewichte der Fahrzeuge wurden im polizeilichen Abschlussbericht mit 945 kg (Klagsfahrzeug) bzw 1.728 kg (Beklagtenfahrzeug) festgehalten.

[2] Die Klägerin begehrte den Ersatz ihres Schadens und brachte vor, aus der Steyrergasse bei Grünlicht in die Kreuzung eingefahren zu sein. Der aus der Conrad‑von‑Hötzendorf‑Straße gekommene Lenker des Beklagtenfahrzeugs habe das für ihn geltende Rotlicht missachtet, weshalb ihn das Verschulden an dem Unfall treffe. Hilfsweise stützte sich die Klägerin auf eine vom Beklagtenfahrzeug ausgehende überwiegende Betriebsgefahr.

[3] Die Beklagte hielt dem entgegen, die Klägerin sei ihrerseits bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren. Sie wandte eine die Klagsforderung übersteigende Gegenforderung aufrechnungsweise ein.

[4] Das Erstgericht konnte nicht feststellen, welches Fahrzeug bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren war und sprach, gestützt auf § 11 EKHG, die gleichteilige Haftung aus gewöhnlicher Betriebsgefahr aus. Das führte aufgrund der Gegenforderung zur Abweisung des Klagebegehrens.

[5] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung, ließ aber die ordentliche Revision zu, weil es die höchstgerichtliche Rechtsprechung zum Begriff der überwiegenden gewöhnlichen Betriebsgefahr als uneinheitlich erachtete.

Rechtliche Beurteilung

[6] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts ist die Revision der Klägerin nicht zulässig. Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ab:

[7] 1. § 11 EKHG stellt eine Rangordnung der bei der Beurteilung der gegenseitigen Ersatzansprüche maßgebenden Umstände auf. Mangelt es sowohl an dem in erster Linie in Betracht zu ziehenden Verschulden der Beteiligten, als auch an einer in nächster Stufe zu berücksichtigenden außergewöhnlichen Betriebsgefahr, so ist die in letzter Rangstufe stehende überwiegende gewöhnliche Betriebsgefahr als Beurteilungsmaßstab heranzuziehen (RS0058418; RS0058443). Bei der Abwägung derartiger Betriebsgefahren kommt es auf die konkreten Umstände des jeweiligen Falls an (8 Ob 5/87; RS0058418 [T3]); sie begründet daher in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO.

[8] 2. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass die Abwägung der gewöhnlichen Betriebsgefahr zweier PKWs grundsätzlich zu einer Schadensteilung im Verhältnis 1 : 1 führt (vgl 2 Ob 158/82 ZVR 1983/306; 2 Ob 169/82 ZVR 1983/324; 2 Ob 263/82; 2 Ob 339/00t mwN). Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die von der Klägerin ins Treffen geführten Umstände würden eine abweichende Beurteilung nicht rechtfertigen, verlässt nicht den ihm zur Verfügung stehenden Ermessensspielraum:

[9] 3. Die Klägerin beruft sich insbesondere auf die Entscheidung 2 Ob 36/83 ZVR 1984/180, wo nach den dort maßgeblichen Feststellungen die Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs lediglich ein Viertel bis ein Drittel der Kollisionsgeschwindigkeit des Klagsfahrzeugs betragen hatte. Der Oberste Gerichtshof billigte damals die zweitinstanzliche Schadensteilung im Verhältnis von 1 : 2 zu Lasten des Klägers, weil von dessen Fahrzeug eine größere gewöhnliche Betriebsgefahr ausgegangen sei.

[10] Im vorliegenden Fall betrug die Geschwindigkeit der Klägerin aber jedenfalls mehr als nur ein Viertel oder ein Drittel jener des gegnerischen Fahrzeugs. Überdies steht das Unfallgeschehen mit der festgestellten Geschwindigkeits‑differenz, deren Grund in den unterschiedlichen Geschwindigkeitsbeschränkungen lag, in keinem relevanten ursächlichen Zusammenhang (vgl auch 8 Ob 4/83 ZVR 1984/244, wonach eine notwendigerweise höhere Geschwindigkeit im Zug eines Überholmanövers noch keinen Anlass für die Annahme einer überwiegenden gewöhnlichen Betriebsgefahr bietet). Schon daran scheitert eine Übertragung der Wertungen der Entscheidung 2 Ob 36/83 auf den vorliegenden Fall.

[11] 4. Weiters verweist die Klägerin auf jene Rechtsprechung, nach der aus dem unterschiedlichen Gewicht der beteiligten Fahrzeuge eine unterschiedliche Betriebsgefahr abgleitet wird.

[12] 4.1. In diesem Zusammenhang wurde zwar ausgesprochen, dass die gewöhnliche Betriebsgefahr eines aus einer Halteposition anfahrenden Sattelschleppers mit Rücksicht auf sein Gewicht, seine Länge und Breite, den erhöhten Raumbedarf beim Einbiegen sowie die wegen der Fahrzeuglänge erschwerte Möglichkeit der Verkehrsbeobachtung gegenüber der gewöhnlichen Betriebsgefahr eines anfahrenden PKW deutlich überwiegt (Schadensteilung 2 : 1; vgl 2 Ob 88/80 ZVR 1981/101; RS0058677). Diese Beurteilung, dass von dem wesentlich größeren und schwereren LKW im Vergleich zu einem PKW eine erhöhte Betriebsgefahr ausgeht, wurde auch in 2 Ob 80/16b als mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs im Einklang stehend gesehen.

[13] 4.2. Dagegen wurde in Bezug auf das Verhältnis zwischen einem PKW und einem einspurigen Fahrzeug ausgesprochen, dass ebenso wenig allgemein gesagt werden könne, dass die Betriebsgefahr des PKWs stets höher sei als jenedes einspurigen Fahrzeugs, wie umgekehrt, dass die Betriebsgefahr eines Motorfahrrads wegen seiner Labilität stets größer sei als jene eines PKWs. Es ist vielmehr jeweils auf die im konkreten Fall die Betriebsgefahr erhöhenden Umstände Bedacht zu nehmen (2 Ob 39/94; RS0058619).

[14] 4.3. Umso weniger kann das unterschiedliche Gewicht zweier PKWs zur Annahme einer unterschiedlichen gewöhnlichen Betriebsgefahr führen. Mit dem Verhältnis zwischen PKW und LKW sind die Gewichtsrelationen zwischen zwei PKWs im Regelfall – so auch hier – nicht vergleichbar.

[15] 5. Da somit im vorliegenden Einzelfall, den die Vorinstanzen im Einklang mit der Rechtsprechung gelöst haben, keine entscheidende Rechtsfrage von der nach § 502 Abs 1 ZPO erforderlichen Bedeutung geltend gemacht wird, ist die Revision zurückzuweisen.

[16] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen hat, hat sie Anspruch auf Kostenersatz.

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