Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen, die im übrigen als in Rechtskraft erwachsen unberührt bleiben, werden im Zuspruch von EUR 2.397,66 s.A. und im Kostenpunkt aufgehoben. In diesem Umfang wird die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung
Am 20. 12. 2004 ereignete sich in Wien 10, Troststraße eine Kollision zwischen dem im Gleisbereich stehenden PKW des Klägers und einem von der Beklagten gehaltenen Straßenbahnzug.
In Fahrtrichtung der unfallbeteiligten Fahrzeuge verläuft ein doppelgleisiger, niveaugleicher Schienenstrang, der in einem Rechtsbogen in die in beiden Fahrtrichtungen befahrene Troststraße weiterführt. Vor der Kreuzung der Neilreichgasse mit der Troststraße besteht ein Haltestellenbereich mit einer Haltestelleninsel, rechts daneben befindet sich ein etwa 3,5 m breiter Fahrstreifen, dessen Haltelinie etwa 17 m vor der Verschneidungslinie mit der Troststraße liegt. Etwa 12 m nach dem rechten Randstein der Neilreichgasse beginnt am südlichen Rand der Troststraße eine etwa 2 m breiter, markierter Parkstreifen zum Längsparken. Der niveaugleiche Gleiskörper verläuft etwa 1,3 m neben der Parkflächenmarkierung. In der Troststraße ist in der Mitte des Gleiskörpers eine Leitlinie markiert. Am nördlichen Rand der Troststraße liegt vor der Kreuzung ebenfalls ein Haltestellenbereich der Straßenbahn. Die Kreuzung ist durch eine Verkehrslichtsignalanlage geregelt, es bestehen eigene Fahrsignale für die Straßenbahn.
Der Straßenbahnzug stand in der Haltestelle vor der Kreuzung der Neilreichgasse mit der Troststraße und fuhr nach einem Fahrgastwechsel los. Das Klagsfahrzeug fuhr dem Straßenbahnzug rechts vor und befand sich ca 8 m vor dem Schienenfahrzeug auf den Schienen, als der Straßenbahnzug ca 8 m zurückgelegt hatte. Der PKW beschleunigte auf 30 km/h und wurde mit einer Verzögerung von ca 3 m/sec² zum Stillstand gebracht, weil die PKW-Lenkerin nach drei rechts fahrbahnparallel auf dem Parkstreifen geparkten PKWs eine Parklücke gesehen hatte. Während der Führer des Straßenbahnzuges auf ca 19 km/h beschleunigte, achtete er zunächst nur auf ein anderes, in Gegenfahrtrichtung stehendes Fahrzeug. Er leitete deshalb erst ca 2,5 sek nach Aufleuchten der Bremslichter am Klagsfahrzeug eine Notbremsung ein. Bei sofortiger Reaktion auf das Aufleuchten der Bremslichter hätte der Straßenbahnzug mit einer Betriebsbremsung (0,8 m/sec² Verzögerung) in einem Abstand von ca 10,5 m hinter dem - sich unverändert in der Stillstandsposition befindenden - Klagsfahrzeug kollisionsfrei anhalten können. Die PKW-Lenkerin hätte in diesem Fall in die am rechten Fahrbahnrand freie Parklücke im Rückwärtsgang einparken können. Das „Anhalten" des Klagsfahrzeuges war außerhalb des Betriebsanhalteweges des Straßenbahnzuges erfolgt.
Der Straßenbahnzug hatte vom Losfahren aus der Haltestelle bis zur Kollision eine Wegstrecke von ca 48 m zurückgelegt (S 7 in ON 21). Der Kläger wendete Reparaturkosten von EUR 4.562,06 auf. Welche Schäden an der Straßenbahn eingetreten sind, kann nicht festgestellt werden.
Das Erstgericht gab dem auf Bezahlung des Reparaturaufwandes und der Generalunkosten von EUR 70,-- gerichteten Klagebegehren mit Ausnahme der Abweisung eines Betrages von EUR 35,-- statt. Es ging vom Alleinverschulden des Führers des Straßenbahnzuges aus und verneinte einen, der PKW-Lenkerin anzulastenden (im Revisionsverfahren ausschließlich strittigen) Verstoß gegen § 28 Abs 2 StVO. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung in der Hauptsache. Es teilte die Auffassung des Erstgerichtes, dass der PKW-Lenkerin kein Verstoß gegen § 28 Abs 2 StVO vorzuwerfen sei. Fahre nämlich der Straßenbahnzug in einem Abstand hinter dem PKW, der etwas größer als der Anhalteweg sei, könne ein PKW-Lenker nie rückwärtsschiebend einparken, sondern müsse regelmäßig die „Flucht" vor dem Schienenfahrzeug ergreifen. In diesem Sinn habe der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung ZVR 1980/63 eine Verpflichtung eines PKW-Lenkers, das zulässigerweise begonnene Einparkmanöver wegen eines herannahenden Straßenbahnzuges abzubrechen, verneint. Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision änderte das Berufungsgericht über Antrag der Beklagten ab und begründete dies mit fehlender oberstgerichtlicher Judikatur zu der Frage, ob ein außerhalb des Bremsweges eines Schienenfahrzeuges eingeleitetes Einparkmanöver nach der Novellierung des § 28 Abs 2 StVO durch die 10. StVO-Novelle (BGBl I 1983/174) zulässig sei.
Gegen den Zuspruch von EUR 2.397,66 s.A. richtet sich die wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene, eine Schadensteilung im Verhältnis 1 : 1 anstrebende Revision der Beklagten mit dem Abänderungsantrag, das Klagebegehren auch in diesem Umfang abzuweisen. Hilfsweise beantragt die Beklagte, das Berufungsurteil, in eventu auch auf das Ersturteil aufzuheben. Der Kläger beantragt in der ihm vom Berufungsgericht freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und im Sinn einer Aufhebung der Entscheidung der Vorinstanzen auch berechtigt.
Die Bestimmung des § 28 Abs 2 Satz 1 StVO lautete in der vor der 10. StVO-Novelle geltenden Fassung (BGBl I 1964/204) wie folgt:
„Sofern sich aus den Bestimmungen des § 19 Abs 2 bis 6 über den Vorrang nichts anderes ergibt, haben beim Herannahen eines Schienenfahrzeuges andere Straßenbenützer die Gleise jedenfalls so rasch wie möglich zu verlassen, um dem Schienenfahrzeug Platz zu machen; beim Halten auf Gleisen müssen die Lenker während der Betriebszeiten der Schienenfahrzeuge entweder im Fahrzeug oder in dessen unmittelbarer und leicht erreichbarer Nähe verbleiben, um dieser Verpflichtung nachkommen zu können."
Die 10. StVO-Novelle (BGBl I 1983/174) brachte insofern eine Verschärfung der andere Straßenbenützer treffenden Räumungsverpflichtung, als die Lenker beim Halten auf Gleisen während der Betriebszeiten der Schienenfahrzeuge im Fahrzeug verbleiben müssen, um dieser Verpflichtung nachkommen zu können. Gestrichen wurde der Passus über das Verbleiben in unmittelbarer und leicht erreichbarer Nähe, was die Möglichkeit des auch nur kurzfristigen Verlassens des Fahrzeuges nach der neuen Rechtslage ausschloss. Nach den bei Dittrich-Veit-Veit, Straßenverkehrsordnung II, § 28 StVO Rz 14 wiedergegebenen Materialien geht die Bestimmung, dass beim Herannahen eines Schienenfahrzeuges andere Straßenbenützer die Gleise so rasch wie möglich freizumachen haben, von der Überlegung aus, dass Schienenfahrzeuge wegen ihrer besonderen Betriebsweise teilweise ein geringes Bremsvermögen haben.
Bereits in der zu § 28 Abs 2 StVO in der vor der 10. StVO-Novelle geltenden Fassung ergangenen Judikatur wurde ein Schienenfahrzeug als herannahend gewertet, wenn seine Entfernung etwa dem Bremsweg entsprach (ZVR 1970/224; ZVR 1981/182; ZVR 1982/356; ZVR 1984/259). An diese Definition des Begriffes „herannahend" hielt der Oberste Gerichtshof auch in der Entscheidung 2 Ob 2305/96a (ZVR 1998/51) fest, der bereits ein nach der neuen Rechtslage zu beurteilender Sachverhalt zugrundelag.
Aus der mit der StVO-Novelle 1964 eingeführten Erlaubnis des Verlassens des Fahrzeuges beim Halten auf Schienen (verbunden mit der Verpflichtung, in unmittelbarer Nähe zu bleiben), wurde geschlossen, dass der Gesetzgeber ganz kurzfristige Beeinträchtigungen des Verkehrs mit Schienenfahrzeugen durch haltende Kraftfahrzeuge in Kauf genommen hat (ZVR 1980/63; vgl RIS-Justiz RS0075177), weshalb eine Verpflichtung eines PKW-Lenkers, das mangels eines herannahenden Schienenfahrzeuges zulässigerweise begonnene Rückwärtseinparkmanöver abzubrechen, verneint wurde (ZVR 1980/63). Eine andere Argumentationslinie schlagen die ebenfalls Einparkmanöver betreffende, auf Grund der vor der 10. StVO-Novelle bestandenen Rechtslage ergangenen Entscheidungen ZVR 1977/51 und ZVR 1984/259 ein: In der zuerst genannten Entscheidung lastete der Oberste Gerichtshof einem PKW-Lenker, der auf Grund der Enge der Parklücke mehrmals reversieren musste und dem daher das gänzliche Verlassen des Schienenbereiches nicht mehr rechtzeitig gelang, einen Verstoß gegen § 28 Abs 2 StVO und ein gleichteiliges Mitverschulden an. In der zu ZVR 1984/259 veröffentlichten Entscheidung unterschied der Oberste Gerichtshof bei Würdigung des Verhaltens des PKW-Lenkers zwischen zwei Phasen: Zum Zeitpunkt, als der PKW auf den Gleisen stehen blieb, war die Entfernung zum Schienenfahrzeug noch weiter als dessen Bremsweg. Das Stehenbleiben wurde daher nicht als vorwerfbar gesehen. Der dort gegen die PKW-Lenkerin erhobene Vorwurf, in zweiter Spur stehen geblieben zu sein und in dieser bei dem herrschenden Verkehr gefährlichen Situation während eines relativ langen Zeitraumes von 15 Sekunden einen Parkplatz zu suchen, lässt sich teilweise mit der hier vorliegenden Konstellation vergleichen.
Zwar erfolgte auch hier der nicht verkehrsbedingte und daher als Halten iSd § 2 Abs 1 Z 27 StVO zu qualifizierende (ZVR 1984/259 mwN) Stillstand des PKW außerhalb des Bremsweges des damit zu diesem Zeitpunkt nicht herannahenden Straßenbahnzuges. Entscheidend für die Beurteilung ist dann aber die zweite Phase des Stillstandes. Wäre der PKW-Lenkerin das beabsichtigte Reversieren in die Parklücke bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Schienenfahrzeug als herannahend im Sinn des § 28 Abs 1 erster Halbsatz StVO zu qualifizieren gewesen wäre, nicht möglich gewesen, hätte sie ihre Fahrt vorwärts fahrend fortsetzen müssen. Die Pflicht, die Gleise möglichst rasch zu verlassen, bedeutet nämlich, dass der zur Räumung Verpflichtete in seine Fahrtrichtung weiterfahren muss, soferne es die Verkehrslage zulässt (s die Nachweise bei Dittrich-Veit-Veit aaO § 28 StVO Rz 15). Feststellungen über den für das Einparkmanöver - verbunden mit dem vollständigen Verlassen des Gleisbereiches - zu veranschlagenden Zeitbedarf wurden hier nicht getroffen. Das Erstgericht hat lediglich im Rahmen der rechtlichen Beurteilung (S 15 in ON 15) ausgeführt, die PKW-Lenkerin hätte zum Zeitpunkt der Kollision bereits den Rückwärtsgang eingelegt, um in die Parklücke einzufahren. Die Auffassung des Berufungsgerichtes, einem PKW-Lenker, der in einem Abstand größer als der Anhalteweg der Straßenbahn vorfahre, müsse der Abschluss eines reversierenden Einparkmanövers ermöglicht werden, anstelle ihn zur „Flucht nach vorne" zu zwingen, steht mit der in § 28 Abs 2 StVO statuierten Räumungsverpflichtung, insbesondere in ihrer durch die 10. StVO-Novelle verschärften Form, nicht in Einklang. Die StVO räumt nämlich Schienenfahrzeugen eine bevorzugte Stellung ein, um ihnen als Massenbeförderungsmittel ungeachtet der für sie nachteiligen Art ihres Betriebes, vor allem des längeren Bremsweges und der Unmöglichkeit eines Ausweichens eine zweckentsprechende Teilnahme am Straßenverkehr zu ermöglichen (Dittrich-Veit-Veit aaO Rz 2). Was die Zumutbarkeit einer „Flucht nach vorne" betrifft, so ist im konkreten Fall zu berücksichtigen, dass der PKW-Lenkerin die Gefahr eines herannahenden Straßenbahnzuges bewusst sein musste: Immerhin war sie nach dem festgestellten Sachverhalt dem Straßenbahnzug rechts vorgefahren und es hatte die Entfernung zwischen Schienenfahrzeug und PKW zunächst nur 8 m betragen. Aus diesem Grund wäre die PKW-Lenkerin bei der Einschätzung der Zulässigkeit des Einparkens zu einer besonderen Vorsicht verpflichtet gewesen.
Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht konkrete Feststellungen über die Entfernung des Straßenbahnzuges zum Zeitpunkt des zum Stillstandbringens des PKW, den für das beabsichtigte Einparkmanöver nötigen Zeitbedarf und die der PKW-Lenkerin offenstehende Möglichkeit, den Gleisbereich zu räumen, zu treffen haben. Ob es dabei eine Ergänzung des Beweisverfahrens für zweckmäßig hält, bleibt seiner Beurteilung vorbehalten.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 52 ZPO.
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