European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00202.21A.0222.000
Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Begründung:
[1] Das Erstgericht enthob den bisherigen Erwachsenenvertreter über dessen Eingabe und bestellte ohne weiteres einen neuen, weil der Betroffene seinen bisherigen gewöhnlichen Aufenthalt langfristig verlegt habe und aufgrund der Entfernung zum bisherigen Aufenthaltsort und jenem des Erwachsenenvertreters die Umbestellung dem Wohl des Betroffenen diene.
[2] In seinem Rekurs führte der Betroffene ua aus, dass der neu bestellte Erwachsenenvertreter dem Vernehmen nach über 200 Erwachsenenvertretungen übernommen habe und seine Bestellung nicht seinem Wohl entspreche.
[3] Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts. Der neu bestellte Erwachsenenvertreter sei in die Liste der besonders geeigneten Rechtsanwaltskanzleien nach § 10b RAO eingetragen. Die persönliche Kontaktaufnahme sei ohnedies nur eingeschränkt möglich und regelmäßige Telefonate könnten auch vom neu bestellten Erwachsenenvertreter organisiert werden.
[4] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Betroffenen mit dem Antrag, den bisherigen Erwachsenenvertreter bestellt zu belassen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[5] Der in Aussicht genommene Erwachsenenvertreter äußerte sich in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung dahin, dass die genannte Zahl an Erwachsenenvertretungen bei Weitem zu hoch gegriffen sei, ohne konkrete Angaben zu machen. Der Betroffene äußerte sich nicht.
Rechtliche Beurteilung
[6] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil zur Frage der Relevanz der Zahl der übernommenen Erwachsenenvertretungen für die Überprüfung des Wohls des Betroffenen bei nach der Rechtslage nach dem 2. ErwSchG in die Liste nach § 10b RAO eingetragenen Rechtsanwälten keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliegt. Er ist auch berechtigt im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags.
[7] 1. Zum in Aussicht genommenen Erwachsenenvertreter wurde der Betroffene in erster Instanz nicht gehört, er hat daher im Rekurs rechtzeitig die gegen die Person des neuen Erwachsenenvertreters sprechenden Gründe behauptet.
[8] 2. Nach § 243 Abs 2 ABGB idF des 2. ErwSchG darf eine Person nur so viele Vorsorgevollmachten und Erwachsenenvertretungen übernehmen, wie sie unter Bedachtnahme auf die damit verbundenen Pflichten, insbesondere jene zur persönlichen Kontaktaufnahme, ordnungsgemäß besorgen kann. Insgesamt darf eine Person – ausgenommen ein Erwachsenenschutzverein (§ 1 ErwSchVG) – nicht mehr als 15 Vorsorgevollmachten und Erwachsenenvertretungen übernehmen.
[9] Damitsollte nach den ErlB zur RV, 1461 der BlgNR 25. GP, 23 f, der Kritik über die im Gesetz davor genannte, später abgeschaffte (vgl Weitzenböck in Schwimann/Kodek 5, § 243 Rz 6) Zahl von 25 Vertretungen für Rechtsanwälte bzw Notare und 5 für sonstige Personen Rechnung getragen werden.
[10] 3. Ein Notar (Notariatskandidat) oder Rechtsanwalt (Rechtsanwaltsanwärter) kann diese Anzahl aber nach § 243 Abs 2 dritter Satz ABGB überschreiten, wenn er aufrecht in der Liste von zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeigneten Rechtsanwälten oder Notaren eingetragen ist.
[11] Die ErlB zur RV, 1461 BlgNR 25. GP 93 zu § 134a NO, auf die die Materalien zu § 10b RAO verweisen, halten es bei der Übernahme von mehr als 15 Vorsorgevollmachten und Erwachsenenvertretungen insbesondere für wichtig, dass angesichts der großen Anzahl an vertretenen Personen der persönliche Kontakt ausreichend wahrgenommen werden kann. Dadurch soll der Notar über die besonderen Wünsche, Bedürfnisse und Lebensverhältnisse der vertretenen Personen ausreichend informiert sein, um seine Aufgaben dementsprechend wahrnehmen zu können. Insgesamt soll durch diese hohen Qualitätsanforderungen gesichert werden, dass die Qualität der Vertretung auch bei einer höheren Anzahl an vertretenen Personen gewährleistet ist.
[12] Diese Ausnahme beruht somit auf dem Gedanken, dass zahlenmäßige Begrenzungen nicht erforderlich sind, wenn die Einhaltung bestimmter Qualitätsstandards gewährleistet ist (Schauer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 243 Rz 16).
[13] Die Überwachung der Einhaltung der Qualitätsanforderungen sowie die Führung der Listen überlässt der Gesetzgeber den Kammern der angesprochenen Berufe (vgl § 154 Abs 1a NO, § 23 Abs 4a RAO; Schauer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.03 § 243 Rz 16; Weitzenböck in Schwimann/Kodek 5 § 243 Rz 11).
[14] 4. Nach § 273 Abs 1 ABGB ist bei der Auswahl des gerichtlichen Erwachsenenvertreters auf die Bedürfnisse der volljährigen Person und deren Wünsche, die Eignung des Erwachsenenvertreters und auf die zu besorgenden Angelegenheiten Bedacht zu nehmen.
[15] Im Rahmen der Eignungsprüfung ist etwa zu untersuchen, ob ein ins Auge gefasster Erwachsenenvertreter die Anzahl an übernommenen Erwachsenenvertretungen bereits überschritten hat. Dies ist nun durch die Eintragung aller Erwachsenenvertretungen in das ÖZVV gut möglich (ErlB zur RV 1461 BlgNR 25. GP 43; Zierl/Schweighofer/ Wimberger, Erwachsenenschutzrecht: Praxiskommentar2 Rz 498).
[16] 5. § 247 ABGB bestimmt, dass ein Erwachsenenvertreter mit der vertretenen Person in dem nach den Umständen des Einzelfalls erforderlichen Ausmaß persönlichen Kontakt zu halten hat. Sofern ihm nicht ausschließlich Angelegenheiten übertragen worden sind, deren Besorgung vorwiegend Kenntnisse des Rechts oder der Vermögensverwaltung voraussetzen, soll der Kontakt demnach mindestens einmal im Monat stattfinden.
[17] 6. Angesichts dieser gesetzlichen Vorgaben ist, auch wenn für in die Liste nach § 10b RAO eingetragenen Rechtsanwälte keine strikte Obergrenze für übernommene Erwachsenenvertretungen (und Vorsorgevollmachten) normiert ist, wegen des beherrschenden Grundsatzes für die Auswahl des Erwachsenenvertreters in Form des Wohls der betroffenen Person (RS0048982; Weitzenböck in Schwimann/Kodek 5 § 273 Rz 2) auch bei der Bestellung eines als besonders qualifiziert eingetragenen Rechtsanwalts bei konkreter Behauptungslage zu prüfen, ob im Hinblick auf die Zahl der übernommenen Fälle im Vergleich zur vorhandenen Organisation und der Anzahl der besonders qualifizierten Kanzleimitarbeiter (§ 10b RAO) ausreichende, gesetzeskonforme Betreuungsmöglichkeiten des Betroffenen gegebensind.
[18] 7. Da nach § 128 Abs 1 AußStrG idF des 2. ErwSchG die Vorschriften über das Verfahren zur Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters grundsätzlich auch auf das Verfahren über die Übertragung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung anzuwenden sind, sind sie auch im vorliegenden Fall zu beachten.
[19] 8. Konkrete Behauptungen, die die adäquaten Betreuungsmöglichkeiten des in Aussicht genommenen Erwachsenenvertreters in Frage stellen, liegen hier – auch nach dessen Stellungnahme – weiter vor. Selbst wenn die vom Betroffenen behauptete Zahl „bei Weitem zu hoch gegriffen“ sein sollte, ist gänzlich unklar, wie viele qualifizierte Personen in seiner Rechtsanwaltskanzlei konkret mit welcher organisatorischen Unterstützung wie viele Fälle mit welchem erforderlichen Aufwand betreuen. Damit kann in keiner Weise beurteilt werden, ob nach der Übertragung den in den Materialien betonten hohen Qualitätsstandards, insbesondere was die Kontakte bzw die Informationssammlung über die Wünsche, Bedürfnisse und Lebensverhältnisse der vertretenen Personen betrifft, entsprochen werden kann. Erst nach Nachholung dieser Erhebungen und darauf aufbauender Feststellungen kann aber verlässlich beurteilt werden, ob die Übertragung dem Wohl des Betroffenen entspricht oder nicht.
[20] 9. Es ist daher dem Revisionsrekurs Folge zu geben und dem Erstgericht die nähere Prüfung all dieser Umstände vor neuerlicher Entscheidung aufzutragen.
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