OGH 2Ob151/22b

OGH2Ob151/22b27.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache des R*, geboren am *, über den Revisionsrekurs des Betroffenen, vertreten durch Dr. Stefan Gloß, Rechtsanwalt in St. Pölten, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 16. Februar 2022, GZ 23 R 40/22p‑92, womit infolge des Rekurses des Betroffenen der Beschluss des Bezirksgerichts St. Pölten vom 7. Jänner 2022, GZ 5 P 39/19p‑77, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00151.22B.0927.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden im Umfang der Anfechtung aufgehoben. Dem Erstgericht wird insoweit eine neuerliche Entscheidung aufgetragen.

 

Begründung:

[1] Für den Betroffenen ist ein Rechtsanwalt zum (einstweiligen) gerichtlichen Erwachsenenvertreter unter anderem für die Verwaltung von Einkommen, Vermögen und Verbindlichkeiten bestellt.

[2] Der anwaltlich vertretene Betroffene beantragte, dem einstweiligen gerichtlichen Erwachsenenvertreter aufzutragen, ihm ab 1. 1. 2022 monatlich 300 EUR zur Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse zur freien Verfügung zu überlassen. Er habe seit Bestellung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters keinen Cent erhalten, sodass er nicht einmal Güter des täglichen Lebens kaufen könne.

[3] Das Erstgericht übermittelte diesen Antrag dem gerichtlichen Erwachsenenvertreter mit dem „Ersuchen“, dem Betroffenen ein wöchentliches Taschengeld von 20 EUR zur rechnungsfreien Verwendung zukommen zu lassen, „sofern gewährleistet ist, dass der Betroffene regelmäßig durch Angehörige/Pflegedienste zum Einkaufen mitgenommen wird“. Ein monatliches Taschengeld von 300 EUR erscheine angesichts des Umstands, dass sich der Betroffene lediglich ab und zu Getränke oder Naschereien kaufen wolle, bei Weitem zu hoch. Der Betroffene verlasse sein Haus bzw seinen Garten nicht, habe keine Hobbies und keinen Überblick über den Wert des Geldes. Da er nicht begreife, als Diabetiker Ernährungsregeln einhalten zu müssen, sei eine Begleitung zu den Einkäufen sicherzustellen.

[4] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Betroffenen, mit dem er weiterhin die gänzliche Stattgebung seines Antrags anstrebte, nicht Folge und bestätigte den angefochtenen Beschluss mit der Maßgabe, dass es ein Mehrbegehren auf Überlassung weiterer 213,33 EUR monatlich abwies.

[5] Die Höhe der nach § 258 Abs 2 ABGB für Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens zur Verfügung zu stellenden Mittel hänge von den Lebensverhältnissen der vertretenen Person ab. Das Erstgericht habe „dies“ angemessen beurteilt.

[6] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nachträglich zur Frage zu, ob die Beurteilung der angemessenen Bedürfnisse einer betroffenen Person iSd § 258 Abs 1 ABGB überhaupt in die Entscheidungskompetenz des Gerichts falle oder insoweit bloß eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle in Betracht komme.

[7] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Betroffenen mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer gänzlichen Stattgebung des in erster Instanz gestellten Antrags; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] Der gerichtliche Erwachsenenvertreter erstattete keine Revisionsrekursbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[10] 1. Der Betroffene wird von einem frei gewählten Rechtsanwalt vertreten. Dies ist zulässig, weil im derzeitigen Verfahrensstadium nach der Aktenlage nicht offenkundig ist, dass ihm die Vernunft völlig fehlte und er nicht fähig wäre, den Zweck der Vollmachtserteilung zu erkennen (RS0008539; 7 Ob 31/21s [bereits zum Erwachsenenschutzverfahren]).

[11] 2. Der Beschluss des Erstgerichts enthält eine Weisung an den Erwachsenenvertreter und ist insoweit – trotz der Formulierung als „Ersuchen“ – als hoheitliche Anordnung und damit als anfechtbarer Beschluss anzusehen (2 Ob 68/14k Punkt I.). Die Beschwer des Betroffenen durch die (implizite) Abweisung seines Antrags kann nicht zweifelhaft sein.

[12] 3. Nach § 258 Abs 1 ABGB hat ein Erwachsenenvertreter, der mit der Verwaltung des Vermögens oder des Einkommens der vertretenen Person betraut ist, mit dem Einkommen und dem Vermögen ihre den persönlichen Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse zu befriedigen. Nach Abs 2 leg cit hat der Erwachsenenvertreter bei der Erfüllung der Verpflichtung nach Abs 1 auch dafür zu sorgen, dass der vertretenen Person die notwendigen finanziellen Mittel für Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens zur Verfügung stehen, soweit ihr Wohl dadurch nicht gefährdet ist. Dafür hat der Erwachsenenvertreter der vertretenen Person etwa das notwendige Bargeld zu überlassen oder den notwendigen Zugriff auf Zahlungskonten zu gewähren.

[13] Nach § 259 Abs 2 ABGB hat das Gericht die Tätigkeit eines Erwachsenenvertreters, der mit der Verwaltung des Vermögens oder des Einkommens der vertretenen Person betraut ist, zur Vermeidung einer Gefährdung des Wohls der vertretenen Person zu überwachen und die dazu notwendigen Aufträge zu erteilen. Nach Abs 4 leg cit hat das Gericht jederzeit von Amts wegen die zur Sicherung des Wohls nötigen Verfügungen zu treffen, wenn das Wohl einer vertretenen Person gefährdet ist.

[14] 4. Den Maßstab für die Angemessenheit der Bedürfnisse nach § 258 Abs 1 ABGB bilden die persönlichen Lebensverhältnisse der betroffenen Person, die neben den wirtschaftlichen Verhältnissen – also der Einkommens- und Vermögenslage – auch die gesamten Lebensumstände erfassen (Voithofer in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang³ § 258 ABGB Rz 45). Die Bestimmung des § 258 Abs 2 ABGB zielt darauf ab, dass der Betroffene im Alltag möglichst selbstbestimmt leben kann (Stefula in KBB6 § 258 Rz 2). In welchem Ausmaß und in welchen Intervallen der betroffenen Person finanzielle Mittel iSd § 258 Abs 2 ABGB überlassen werden, obliegt grundsätzlich der Beurteilung des Erwachsenenvertreters (Schauer in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.03 § 258 Rz 15).

[15] 5. Der erkennende Senat hat in der Entscheidung 2 Ob 68/14k zur Rechtslage vor dem 2. ErwSchG (BGBl I 2017/59) nach Auseinandersetzung mit früherer Judikatur und der Lehre ausgesprochen, dass das Gericht im Bereich der Verwendung des laufenden Einkommens dem (nunmehr:) Erwachsenenvertreter bei Gefährdung des Wohls der betroffenen Person Weisungen erteilen kann, deren Nichtbefolgung aber letztlich nur zur Umbestellung des (nunmehr:) Erwachsenenvertreters führen kann (RS0129756).

[16] An dieser Rechtsansicht – die mangels inhaltlicher Änderung durch das 2. ErwSchG in diesem Punkt weiterhin Anwendung finden kann (Pfurtscheller in Schwimann/Neumayr, ABGB TaKomm5 § 259 Rz 5) – ist festzuhalten. Die vom Rekursgericht als erheblich angesehene Rechtsfrage ist damit dahin zu beantworten, dass gerichtliche Weisungen an einen Erwachsenenvertreter in Fragen der Umsetzung des § 258 Abs 2 ABGB jedenfalls bei einer hier im Raum stehenden Gefährdung des Wohls des Betroffenen möglich sind (Weitzenböck, Das neue Erwachsenenschutzrecht und „Alltagsgeschäfte“, Zak 2019/667, 364 [367]; Damböck/Müller in Barth/Ganner, Handbuch des Erwachsenenschutzrechts³ 569 f; vgl auch Weitzenböck in Schwimann/Kodek 5 § 259 ABGB Rz 45 f und Stefula in KBB6 § 259 ABGB Rz 5).

[17] 6. Zutreffend zeigt der Betroffene im Revisionsrekurs auf, dass es an einer tragfähigen Sachverhaltsgrundlage fehlt, um beurteilen zu können, worin die den persönlichen Lebensverhältnissen des Betroffenen angemessenen Bedürfnisse liegen, welche finanziellen Mittel für Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens im Einzelfall notwendig sind und inwieweit durch Gewährung des beantragten „Taschengelds“ von 300 EUR monatlich das Wohl des Betroffenen gefährdet wäre.

[18] Eine Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen im Umfang der Anfechtung erweist sich damit als unumgänglich. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren insbesondere Feststellungen zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Betroffenen und dessen Bedürfnissen zu treffen haben, wobei auch die durch den zwischenzeitlichen Umzug in ein Pflegeheim geänderten Lebensumstände zu berücksichtigen sein werden.

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