OGH 2Ob124/88

OGH2Ob124/8820.12.1988

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Scheiderbauer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Kralik, Dr. Vogel, Dr. Melber und Dr. Kropfitsch als Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Anna B***, Hausfrau, Opalgasse 6, 9020 Klagenfurt, vertreten durch Dr. Heinz Napetschnig, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wider die beklagte Partei Sonja H***, Hausfrau, Siebenhügelstraße 54/1, 9020 Klagenfurt, vertreten durch Dr. Friedrich Staudacher, Rechtsanwalt in Klagenfurt, wegen S 75.026,-- s.A., infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes vom 27. Juli 1988, GZ 6 R 138/88-15, womit das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt vom 28. April 1988, GZ 21 Cg 409/87-10, aufgehoben wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.243,80 bestimmten Kosten des Rekursverfahrens (darin Umsatzsteuer von S 385,80, keine Barauslagen) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Begründung

Die damals achtzigjährige Klägerin wurde am 22. Mai 1987 gegen 17,15 Uhr als Fußgängerin in Klagenfurt auf der Hofzufahrt beim Haus Opalgasse 6 von dem am 19. November 1979 geborenen Sohn der Beklagten, der auf einem Fahrrad fuhr, niedergestoßen und verletzt. Im vorliegenden Rechtsstreit begehrte die Klägerin aus dem Rechtsgrund des Schadenersatzes aus diesem Unfall die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von S 75.026,-- s.A. im wesentlichen mit der Begründung, daß sie ihren Sohn nicht hinlänglich beaufsichtigt habe.

Die Beklagte wendete dem Grunde nach im wesentlichen ein, daß sie ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen sei. Die Klägerin habe ihren Unfall allein verschuldet oder zumindest überwiegend mitverschuldet, weil sie dem auf dem Fahrrad fahrenden Sohn der Beklagten nicht ausgewichen sei. Die Höhe der von der Klägerin geltend gemachten Schadenersatzansprüche wurde bestritten.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Es stellte im wesentlichen folgenden Sachverhalt fest:

Die Opalgasse in Klagenfurt verläuft in Nord-Süd-Richtung. Südlich des Hauses Opalgasse 6 zweigt von ihr die 3 m breite Hofzufahrt nach Westen ab. Im Bereich des Einmündungstrichters dieser Hofzufahrt ist die Kante des Gehsteiges der Opalgasse abgerundet. Am östlichen Beginn dieser Zufahrt steht eine Geschwindigkeitsbeschränkungstafel mit 10 km/h. Diese Hofzufahrt wird von Fahrzeugen benützt, die in die im Hofgelände befindlichen Garagen zufahren, und auch von Fußgängern, die in den umliegenden Häusern wohnen oder die durch den Hof zu den westlich davon gelegenen Geschäften gehen. Südlich der Hofzufahrt steht eine Trauerweide mit einem Stammdurchmesser von einem Meter, deren Baummitte sich 1,2 m südlich der südlichen Begrenzung der Zufahrt und 12,5 m westlich der Kante des Gehsteiges der Opalgasse befindet. Die Beklagte und ihr Ehegatte schenkten ihrem am 19. November 1979 geborenen Sohn Markus zu Ostern 1986 ein BMX-Rad, das mit zwei voneinander unabhängigen Felgenbremsen ausgestattet ist; es hat keine Rücktrittbremse. Markus fährt seit seinem vierten Lebensjahr Rad. Er unternahm seither immer wieder Fahrten mit seiner Mutter, wobei oft auch die mehrere Kilometer lange Strecke zum Wörthersee befahren wurde. Die Beklagte hatte ihren Sohn darauf aufmerksam gemacht, daß man grundsätzlich rechts zu fahren habe. Markus fuhr, wenn er mit seiner Mutter unterwegs war, nie unvorsichtig, unkontrolliert oder wild, sondern brav vor oder hinter ihr. Wenn er sich mit anderen Kindern im Hof beim Radfahren aufhielt, fuhr er jedoch ab und zu übermütig direkt auf Leute zu, um ihnen erst spät auszuweichen. Davon wußte die Beklagte jedoch nichts, weil vor dem hier zu beurteilenden Unfall noch nie etwas passiert war und die Fußgänger im Hof sie nicht von diesen gelegentlichen Streichen ihres Sohnes in Kenntnis setzten. Die Beklagte hatte das Fahrverhalten ihres Sohnes im Hof oft vom Fenster ihrer Wohnung aus beobachtet und niemals feststellen können, daß Markus Fußgänger absichtlich oder unachtsam gefährdete. Markus kann infolge ständiger Übung sehr gut radfahren. Er ist ein aufgeweckter Bub mit durchschnittlicher Intelligenz, der ein gutes Verhältnis zu seiner Mutter hat und auf sie hört.

Ein bis zwei Tage vor dem hier in Frage stehenden Unfall wurde die Hinterradbremse am Fahrrad des Sohnes der Beklagten defekt, sodaß sie überhaupt nicht mehr zog. Die Beklagte hatte davon Kenntnis, unterließ es aber, die Bremse reparieren zu lassen. Sie überprüfte aber das Rad und stellte fest, daß die Vorderradbremse gut funktionierte.

Am Unfallstag fuhr die Beklagte hinter ihrem Sohn (jeder auf seinem Fahrrad) vorerst auf dem Gehsteig der Opalgasse von Süden kommend in Richtung Norden zur Hofzufahrt. Markus fuhr vom westlichen Gehsteig der Opalgasse auf die Fahrbahn hinunter und bog in der Mitte des Zufahrtsweges in diesen ein. Die Klägerin ging mit einer Geschwindigkeit von ca 1 m/sec auf dem Zufahrtsweg von Westen nach Osten, wobei sie zum südlichen Wegrand - auf ihre Körpermitte bezogen - einen Abstand von 0,5 bis 1 m einhielt. Als Markus in den Zufahrtsweg einbog, befand sich die Klägerin etwa 8 m westlich der Bezugslinie (das ist eine Normale zur Längsachse des Zufahrtsweges 10,5 m westlich der östlichen Begrenzung des Gehsteiges der Opalgasse). Markus nahm die Klägerin hier wahr. Die Beklagte befand sich zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Gehsteig der Opalgasse auf ihrer Fahrt in Richtung Norden und hatte Sicht auf das Kind. Während Markus mit ca 10 km/h auf der Hofzufahrt in Richtung Bezugslinie fuhr, schaute er schräg in Richtung Südosten zu seiner Mutter zurück und rief ihr etwas zu. Als die Beklagte sah, daß ihr Sohn dabei unachtsam etwas nach Süden auslenkte, rief sie zurück: "Schau, wo Du hinfährst!" Markus blickte daraufhin, als er sich in seiner Sitzposition etwa auf Höhe der Bezugslinie befand, wieder in seine Fahrtrichtung, die er nach Süden hin verlagert hatte, und sah 0,8 bis 1 Sekunde vor der Kollision die Klägerin ca 3 m vor sich am südlichen Rand des Zufahrtsweges. Weil er eine Sekunde Reaktionszeit benötigte, hatte er keine Möglichkeit mehr, eine Auslenkbewegung zu machen oder die Bremse zu betätigen; er stieß ca 3 m westlich der Bezugslinie an die stehengebliebene Klägerin die stürzte und am rechten Bein verletzt wurde.

Die Klägerin hatte wegen der Kürze der von der Richtungsänderung des Radfahrers bis zum Zusammenstoß vergangenen Zeit und infolge ihrer Bewegungseinschränkung (sie ist 1907 geboren und geht mit einem Stock) keine Möglichkeit, die Kollision (etwa durch einen Schritt zur Seite) zu verhindern.

Die Beklagte befand sich im Zeitpunkt des Zusammenstoßes noch auf dem Gehsteig der Opalgasse in einem Bereich zwischen 15 und 9 m südlich der südlichen Begrenzung des Zufahrtsweges und konnte von hier aus wegen der Sichtbehinderung durch die Trauerweide den Unfall selbst nicht sehen.

Erst nach dem Unfall sagte Markus der Beklagten, daß er am Vormittag mit einem Freund am Fahrrad herumgebastelt und dabei die vorderen Bremsbacken eingeölt habe. Das Fahrrad konnte mit zwei funktionierenden Bremsen eine mittlere Verzögerung von 5,5 m/sec2, mit defekter Hinterrad- und intakter Vorderradbremse eine mittlere Verzögerung von 3,5 m/sec2 und mit eingeölter Vorderradbremse eine mittlere Verzögerung von 0,75 m/sec2 erzielen.

Es kann nicht festgestellt werden, daß Markus grundsätzlich immer, wenn er mit dem Fahrrad unterwegs war, direkt auf Leute zufuhr, um ihnen erst im letzten Moment auszuweichen. Rechtlich beurteilte das Erstgericht den festgestellten Sachverhalt im wesentlichen dahin, daß zwar die Klägerin am Unfallsgeschehen völlig schuldlos sei, jedoch eine Haftung der Beklagten deshalb nicht in Betracht komme, weil es ihre Aufsichtspflicht gegenüber ihrem unmündigen Sohn überspannen hieße, zu verlangen, daß sie ihn ständig nur in ihrer unmittelbaren Nähe radfahren lasse. Die tatsächliche Unaufmerksamkeit des Kindes zur Unfallszeit sei von der Beklagten angesichts des von ihm bis dahin an den Tag gelegten Verhaltens nicht zu erwarten gewesen. Die Übertretung der Schutznorm des § 66 Abs 2 Z 1 StVO durch die Beklagte schade ihr deshalb nicht, weil für den Eintritt des Unfalles das Fehlen der vorgeschriebenen Bremsvorrichtungen nicht kausal gewesen sei.

Der gegen diese Entscheidung gerichteten Berufung der Klägerin gab das Berufungsgericht mit dem angefochtenen Beschluß Folge. Es hob das Urteil des Erstgerichtes unter Rechtskraftvorbehalt auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.

Das Berufungsgericht übernahm die Feststellungen des Erstgerichtes als unbedenklich und führte rechtlich im wesentlichen aus, nach § 1309 ABGB gebühre der Klägerin dann der Ersatz des erlittenen Schadens von der Beklagten, wenn dieser eine Vernachlässigung der ihr über ihren unmündigen Sohn anvertrauten Obsorge angelastet werden könne. Die Haftung nach dieser Gesetzesstelle setze voraus, daß die Beklagte die ihr obliegende Aufsichtspflicht schuldhaft vernachlässigt habe, wobei die geschädigte Klägerin die Vernachlässigung der Obsorge, die Beklagte jedoch ihre Schuldlosigkeit zu beweisen habe. Neben dieser gesetzlichen Vorschrift komme § 65 Abs 1 StVO, eine Schutznorm im Sinne des § 1311 ABGB, als Haftungsgrundlage der Beklagten für den geltend gemachten Anspruch der Klägerin in Betracht. Das im § 65 Abs 1 StVO enthaltene Gebot richte sich grundsätzlich an die Eltern bzw Erziehungsberechtigten, deren Sache es sei, den ihrer Aufsicht und Erziehung anvertrauten Kindern das Lenken eines Fahrrades zu ermöglichen oder zu verbieten. Aus dieser Schutzrichtung des § 65 Abs 1 StVO sei abzuleiten, daß sich das Verschulden aufsichtspflichtiger Personen nicht auf die Zufügung des Schadens, sondern auf die Übertretung der Schutznorm im engeren Sinne beziehen müsse. Die aufsichtspflichtige Beklagte habe für den Schaden der Klägerin dann zu haften, wenn sie nicht den Beweis erbringen könne, daß sie nicht schuldhaft die Obsorge über ihr unmündiges Kind vernachlässigt habe.

Das Maß der von der Beklagten zu erfüllenden Aufsichtspflicht bestimme sich nach dem, was angesichts des Alters, der Eigenschaften und der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen einerseits sowie der wirtschaftlichen Lage und der Lebensbedingungen der Aufsichtspflichtigen andererseits vernünftigerweise verlangt werden könne. Dabei sei allerdings auch auf die Voraussehbarkeit eines schädigenden Verhaltens des Aufsichtsbefohlenen, auf das Maß der von diesem ausgehenden dritten Personen drohenden Gefahr sowie darauf Bedacht zu nehmen, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden könne. Entscheidend sei, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen müßten, um die Schädigung Dritter durch ihre Kinder zu verhindern und welchen konkreten Anlaß sie zu bestimmten Aufsichtsmaßnahmen gehabt hätten. Höhere Anforderungen seien demnach an die Aufsichtspflicht etwa dann zu stellen, wenn nach den konkreten Verhältnissen, sei es nach der konkreten Gefahrenlage, sei es nach den Eigenschaften des Aufsichtsbefohlenen, mit der Möglichkeit eines schädigenden Verhaltens des Aufsichtsbefohlenen gerechnet werden müsse. Die Aufsichtspflicht dürfe allerdings nicht überspannt werden. Man könne von Eltern nicht verlangen, daß sie ein Kind ständig unter Kontrolle hielten, obwohl dies in ihrem Milieu nicht üblich und mit ihrer Tätigkeit unvereinbar sei.

Die Beklagte habe zur Unfallszeit ihren damals 7 1/2jährigen Sohn, der bereits seit seinem vierten Lebensjahr mit dem Fahrrad gefahren sei und sich in Gegenwart der Beklagten bis dahin nie unvorsichtig, unkontrolliert oder wild gezeigt habe, sondern immer "brav" vor oder hinter ihr gefahren sei, in der Weise beaufsichtigt, daß sie ihm in einem Abstand von 20 bis 30 m vor sich mit einer Geschwindigkeit von 10 km/h fahren gelassen habe. Grundsätzlich wäre ein solches Verhalten nicht zu beanstanden, weil es die Aufsichtspflicht einer Mutter überfordern hieße, wollte man von ihr verlangen, daß sie in der Lage wäre, auf das Verhalten ihres Kindes jederzeit unmittelbar körperlich einzuwirken. Vielmehr genüge es in nicht besonders gefahrengeneigten Fällen, wenn ein aufsichtspflichtiger Elternteil zumindest in einer solchen Nähe des Unmündigen bleibe, daß er dessen Verhalten - etwa durch einen bloßen Zuruf - jederzeit steuern könne.

Im vorliegenden Fall sei aber eine konkrete erhöhte Gefahrenlage gegeben gewesen, habe doch der Sohn der Beklagten ein Fahrrad gelenkt, von dem die Beklagte gewußt habe, daß es nicht ordnungsgemäß im Sinne des § 66 Abs 2 Z 1 StVO ausgerüstet war, was zur Folge gehabt habe, daß damit gerechnet werden mußte, daß bei Auftauchen überraschender Hindernisse eine Gefahrenerhöhung eintreten werde. In einem solchen Fall sei das objektiv zu ermittelnde Maß der vom Aufsichtspflichtigen anzuwendenden Sorgfalt höher anzusetzen als in einem Normalfall. Dazu komme, daß der Beklagten bekannt gewesen sei, daß ihr unmündiges Kind eine Verkehrsfläche befahren werde, die sie infolge Sichtbehinderung nicht voll einsehen konnte, wie auch tatsächlich die Beklagte den Unfallshergang selbst nicht wahrgenommen habe. In diesem besonders gelagerten Fall habe sich die Beklagte nicht damit begnügen dürfen, ihren mit einem ungenügend ausgerüsteten Fahrrad fahrenden unmündigen Sohn in einem Abstand von 20 bis 30 m vorausfahren zu lassen; sie habe vielmehr - nicht zuletzt auch wegen des geplanten Abbiegemanövers in eine von ihr nicht voll eingesehene Verkehrsfläche, in der sie auch die Fahrlinie des Kindes nicht ausreichend verfolgen habe können - ausreichend dafür sorgen müssen, daß von ihrem Kind für dritte Personen keine Gefahr ausgehe. Dies hätte dadurch geschehen können, daß sie ihren Sohn vor dem Einbiegen in den Zufahrtsweg aufgefordert hätte, nur langsam einzubiegen und genau zu schauen, ob nicht Fußgänger entgegenkommen. Den gleichen Effekt hätte die Beklagte auch erzielt, wenn sie in diesem besonderen Fall verlangt hätte, daß ihr Sohn an der Ecke der Zufahrt auf sie zu warten habe, wobei in beiden Fällen angesichts des festgestellten Verhaltens des Kindes zu seiner Mutter durchaus damit zu rechnen gewesen sei, daß es ihr gefolgt hätte und daß demnach bereits diese für die Beklagte durchaus zumutbaren und nach der Lage des besonderen Falles auch gebotenen Maßnahmen ausgereicht hätten, den Eintritt des Unfalles aller Voraussicht nach hintanzuhalten. Daß die Beklagte solche einfache Maßnahmen nicht ergreifen hätte können oder daß diese sie überfordert hätten und für sie unzumutbar gewesen wären, behaupte sie nicht einmal.

Unter den im vorliegenden Fall gegebenen besonderen Umständen sei die Beklagte der ihr gemäß § 65 Abs 1 StVO obliegenden Aufsichtspflicht nicht gerecht geworden.

Die Klägerin sei daher grundsätzlich berechtigt, von der Beklagten den Ersatz ihrer beim Unfall erlittenen Schäden zu verlangen. Da ein Mitverschulden der Klägerin nicht nachgewiesen worden sei, hafte die Beklagte für sämtliche Schäden, die die Klägerin bei dem Unfall erlitten habe.

Da zur Höhe der von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche keine Feststellungen getroffen worden seien, sei das Urteil des Erstgerichtes aufzuheben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung unter Bindung an die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes aufzutragen.

Den angeordneten Rechtskraftvorbehalt begründete das Berufungsgericht damit, daß die Entscheidung dieser Rechtssache von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechtes abhänge, der zur Wahrung der Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukomme. Die Ausformung der Haftung aufsichtspflichtiger Eltern im Sinne der §§ 1309 ABGB und 65 Abs 1 StVO könne nämlich immer nur an Hand bestimmter Fallkonstellationen vorgenommen werden, wobei dem Obersten Gerichtshof gerade in solchen Fragen eine Leitfunktion zukomme und ein Fall wie der vorliegende - soweit vom Berufungsgericht überblickbar - bisher vom Obersten Gerichtshof noch nicht entschieden worden sei. Es stehe nicht etwa eine Verschuldensteilung und das Ausmaß derselben zur Diskussion, sondern ob überhaupt die Beklagte eine Haftung treffe und wie weit Aufsichtspflichten der Eltern reichten. Diese Fragen seien sowohl für die Rechtssicherheit als auch für die Rechtsentwicklung in besonderer Weise bedeutsam.

Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichtes richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, "den angefochtenen Beschluß abzuändern und das erstgerichtliche Urteil wiederherzustellen", allenfalls "den angefochtenen Beschluß aufzuheben und den Untergerichten die neuerliche Entscheidung aufzutragen". Die Klägerin hat eine Rekursbeantwortung erstattet, mit der sie einleitend darauf hinweist, daß die Voraussetzungen des § 502 Abs 4 ZPO nicht gegeben seien und das Berufungsgericht zu Unrecht einen Rechtskraftvorbehalt gesetzt habe; im übrigen beantragt sie, dem Rekurs der Beklagten keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs der Beklagten ist unzulässig.

Der Rekurs gegen einen unter Rechtskraftvorbehalt gefaßten Aufhebungsbeschluß des Berufungsgerichtes im Sinne des § 519 Abs 1 Z 3 ZPO ist in beiden Fällen des § 502 Abs 4 ZPO zulässig. § 508a Abs 1 ZPO gilt sinngemäß auch im Rekursverfahren über einen derartigen Aufhebungsbeschluß. Die dem Rechtskraftvorbehalt zugrundegelegte Ansicht des Berufungsgerichtes über das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 502 Abs 4 Z 1 ZPO ist für den Obersten Gerichtshof nicht bindend. Für den Rekurs gegen den berufungsgerichtlichen Aufhebungsbeschluß gilt kraft Größenschlusses ebenfalls die Beschränkung der Anfechtungsgründe im Sinne des § 503 Abs 2 ZPO (siehe dazu Fasching, Zivilprozeßrecht Rz 1884; Petrasch in ÖJZ 1983, 203; 6 Ob 666/84; 8 Ob 553/85; 8 Ob 17/87 ua). Durch die in der ZVN 1983 getroffenen Regelungen ist somit der Rekurs gegen Aufhebungsbeschlüsse des Berufungsgerichtes mit Rechtskraftvorbehalt weitgehend der Revision angeglichen worden (Fasching aaO Rz 1983).

Der Oberste Gerichtshof hat bei Entscheidungen über Revisionen im Zulassungsbereich bereits mehrfach ausgesprochen, daß in derartigen Rechtsmitteln nur Rechtsfragen des materiellen Rechtes oder des Verfahrensrechtes im Sinne des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO geltend gemacht werden dürfen. Werden im Rechtsmittel keine solchen Rechtsfragen aufgeworfen, dann ist das Rechtsmittel nicht gesetzmäßig im Sinne des § 503 Abs 2 ZPO ausgeführt und damit zurückzuweisen (6 Ob 523/84; 8 Ob 553/85 ua).

Die gleichen Überlegungen haben uneingeschränkt auch für Rekurse gegen Aufhebungsbeschlüsse des Berufungsgerichtes unter Rechtskraftvorbehalt im Zulassungsbereich bei einem S 300.000,-- nicht übersteigenden Streitwert Geltung. Auch hier ist der Rechtsmittelwerber, wie bereits ausgeführt, auf die Anfechtungsgründe im Sinne des § 503 Abs 2 ZPO beschränkt. Macht er derartige Anfechtungsgründe nicht geltend, dann ist sein Rechtsmittel auch hier nicht gesetzmäßig im Sinne dieser Gesetzesstelle ausgeführt und auch dann, wenn das Berufungsgericht im Sinne des § 519 Abs 2 ZPO zulässigerweise einen Rechtskraftvorbehalt ausgesprochen hat, aus den dargelegten Erwägungen zurückzuweisen (8 Ob 553/85; 8 Ob 17/87 ua).

Für den vorliegenden Fall ergibt sich daraus folgendes:

Die Beklagte bestreitet in ihrem Rechtsmittel nicht die Richtigkeit der vom Berufungsgericht im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vertretenen Rechtsansicht, daß sich das Maß der Aufsichtspflicht im Sinne der §§ 1309 ABGB, 65 Abs 1 zweiter Satz StVO nach dem Alter, der Entwicklung und der Eigenart des Kindes, der Voraussehbarkeit eines schädigenden Verhaltens des Aufsichtsbefohlenen, dem Ausmaß der von diesem ausgehenden dritten Personen drohenden Gefahr sowie danach richtet, was dem Aufsichtspflichtigen in seinen jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihre Kinder zu verhindern und welchen konkreten Anlaß sie zu bestimmten Aufsichtsmaßnahmen hatten (ZVR 1982/109; ZVR 1983/206; ZVR 1984/324 uva).

Wenn das Berufungsgericht, von diesen in ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vertretenen rechtlichen Grundsätzen ausgehend, unter Bedachtnahme auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falles zu dem Ergebnis kam, daß die Beklagte ihrer Aufsichtspflicht gegenüber ihrem Sohn nicht hinlänglich nachgekommen sei, liegt darin nicht die unrichtige Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechtes, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt (§ 502 Abs 4 Z 1 ZPO), weil diese in ihren Grundsätzen durch die ständige Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes gedeckte rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes auf den vorliegenden Einzelfall beschränkt ist und ihre Bedeutung nicht über diesen hinausreicht. Die Frage des genauen Ausmaßes des Folgeabstandes der Beklagten zu ihrem Sohn ist für die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichtes ohne wesentliche Bedeutung. Das Berufungsgericht hat den Vorwurf der mangelnden Beaufsichtigung des Sohnes der Beklagten durch diese im wesentlichen nicht damit begründet, daß die Beklagte in einem geringeren Abstand hinter ihrem Sohn nachfahren hätte sollen, sondern damit, daß sie ihn unter den besonderen im vorliegenden Fall gegebenen Umständen dazu anhalten hätte sollen, nur langsam mit besonderer Vorsicht in den Zufahrtsweg einzubiegen oder vor dem Abbiegen in den Zufahrtsweg auf sie zu warten. Wenn das Berufungsgericht unter den im vorliegenden Fall gegebenen besonderen Umständen derartige Maßnahmen der Beklagten für erforderlich hielt, hat es damit keinesfalls den oben dargestellten in ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes vertretenen Grundsätzen über das Ausmaß der Aufsichtspflicht im Sinne der §§ 1309 ABGB, 65 Abs 1 zweiter Satz StVO widersprochen, sondern in Anwendung dieser Grundsätze eine auf den vorliegenden Einzelfall beschränkte rechtliche Beurteilung getroffen, der nicht die im § 502 Abs 4 Z 1 ZPO für die Rechtsmittelzulässigkeit vorausgesetzte Bedeutung zuerkannt werden kann und die nicht auf einer wesentlichen Verkennung der Rechtslage beruht.

Es waren daher weder die Voraussetzungen für einen Rechtskraftvorbehalt gegeben (§ 519 Abs 2 ZPO) noch zeigt die Beklagte mit ihren Rechtsmittelausführungen auf, daß die Entscheidung des Berufungsgerichtes auf der unrichtigen Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechtes beruht, der erhebliche Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO zukommt.

Der Rekurs der Beklagten ist daher als unzulässig zurückzuweisen. Die Beklagte hat die Kosten ihres unzulässigen Rechtsmittels selbst zu tragen. Hingegen hat die Klägerin, die den vorliegenden Zurückweisungsgrund in ihrer Rekursbeantwortung geltend gemacht hat, Anspruch auf Ersatz der Kosten dieses Schriftsatzes (§§ 41, 50 ZPO).

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