OGH 21Ds11/23i

OGH21Ds11/23i25.3.2024

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 25. März 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als weiteren Richter sowie die Rechtsanwälte Dr. Fetz und Dr. Leb als Anwaltsrichter in der Disziplinarsache gegen *, Rechtsanwalt in *, AZ D 18/21, über dessen Beschwerde gegen den Beschluss des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich vom 2. August 2023 nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0210DS00011.23I.0325.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Standes- und Disziplinarrecht der Anwälte

 

Spruch:

Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.

 

Gründe:

[1] Mit dem vorliegenden Beschluss wies der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich den – im Hinblick auf die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Berufung gegen das in der Disziplinarsache AZ D 18/21 ergangene Erkenntnis des genannten Disziplinarrats vom 31. Jänner 2022 – am 21. Juni 2022 eingebrachten Antrag des Disziplinarbeschuldigten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab.

[2] Dies mit der – zusammengefassten – Begründung, aus der Verantwortung des Disziplinarbeschuldigten, aufgrund der im Zusammenhang mit anderen Schriftsätzen von der Rechtsanwaltskammer Niederösterreich geübten Praxis auch bei der Erhebung einer Berufung von der Zulässigkeit bzw Gültigkeit einer Einbringung per E-Mail ausgegangen zu sein, lasse sich angesichts der klaren Gesetzeslage und Rechtsprechung sowie der Tatsache, dass die Kenntnis der Rechtslage dem Disziplinarbeschuldigten als Rechtsanwalt zumutbar sei, kein entschuldbarer Rechtsirrtum ableiten. Außerdem habe keine Notwendigkeit bestanden, das Rechtsmittel per E‑Mail einzubringen, weil noch die zeitliche Möglichkeit bestanden habe, dieses rechtzeitig per Fax oder Post einzubringen und die Abfertigung zu kontrollieren. Die Wiedereinsetzung sei innerhalb von 14 Tagen nach Wegfall des Hindernisses zu beantragen, wobei bei Fehlleistungen eines Dritten der Zeitpunkt der (möglichen) Erlangung der Kenntnis von dieser Fehlleistung durch den Rechtsanwalt als Wegfall des Hindernisses zu sehen sei. Zudem habe ein Rechtsanwalt im Falle von Schwierigkeiten bei der Abfertigung von fristgebundenen Schriftstücken durch Abwesenheit seiner Angestellten besondere Vorkehrungen zu treffen, um die gesetzeskonforme Einbringung von Rechtsmitteln auch bei Abwesenheit seiner Angestellten zu gewährleisten. Ein Rechtsanwalt, der solche Vorkehrungen nicht treffe, habe für ein Organisationsverschulden und damit für ein Versehen nicht bloß minderen Grades einzustehen. Gegenständlich könne aufgrund eines solchen Organisationsverschuldens nicht von einem unabwendbaren bzw unvorhersehbaren Ereignis gesprochen werden.

Rechtliche Beurteilung

[3] Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten.

[4] Der dabei vom Disziplinarbeschuldigten erhobene (bzw wiederholte [vgl ON 10]) Vorwurf, eines der über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidenden Mitglieder des Disziplinarrats sei befangen, weil zwischen den Genannten im Zusammenhang mit der Vertretung von gegnerischen Parteien in einer Zivilrechtssache ein geradezu problematisches Verhältnis, das auch zu verbalen Auseinandersetzungen und zur Einbringung einer Disziplinaranzeige durch den Disziplinarbeschuldigten geführt habe, bestehe, geht schon deshalb ins Leere, weil die Erfüllung von – bei Rechtsanwälten gerade in der (auch vehementen) berufsmäßigen Vertretung entgegengesetzter Positionen gegenüber anderen Rechtsanwälten bestehenden – Dienstpflichten per se nicht geeignet ist, die Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit eines Rechtsanwalts in seiner Funktion als Mitglied des Disziplinarrats in Zweifel zu ziehen, und auch weder verbale Überreaktionen noch die Konfrontation mit Disziplinaranzeigen eine Befangenheit zu begründen vermögen (vgl Lässig, WK‑StPO § 43 Rz 12 und Rz 15).

[5] Ebenso verfehlt ist auch das auf die regelmäßige Akzeptanz von E‑Mail-Eingaben durch die Rechtsanwaltskammer Niederösterreich verweisende Vorbringen. Im Lichte der klaren Rechtslage (§ 48 Abs 1 DSt, § 84 Abs 2 erster Satz StPO) bzw eindeutigen Rechtsprechung zur Unzulässigkeit der Einbringung von Rechtsmitteln im E‑Mail-Weg (RIS‑Justiz RS0127859 [insb T2, T3]; 28 Ds 3/21m; 26 Ds 4/21v [Rz 12]; 26 Ds 11/21y; Murschetz, WK‑StPO § 84 Rz 12) und der Tatsache, dass zu einer Fristenversäumung führende Rechtsfehler eines Rechtsanwalts die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließen (Lewisch, WK‑StPO § 364 Rz 27), ging der Disziplinarrat vielmehr zu Recht von einem nicht entschuldbaren Rechtsirrtum des Disziplinarbeschuldigten und damit von einem – Wiedereinsetzung ausschließenden – Versehen nicht bloß minderen Grades im Sinn des § 364 Abs 1 Z 1 StPO iVm § 77 Abs 2 DSt aus.

[6] Angesichts der vom Disziplinarbeschuldigten und Wiedereinsetzungswerber ausdrücklich selbst zugestandenen Anweisung an seine Kanzleikraft, die Berufung per E‑Mail einzubringen, und der Tatsache, dass diese am 19. Mai 2022 ohnehin im Dienst war und diese Anweisung des Disziplinarbeschuldigten noch am selben Tag auftragsgemäß umsetzte, kommt der Frage einer unzureichenden Kanzleiorganisation in der Zeit davor (vgl hiezu im Übrigen Lewisch, WK‑StPO § 364 Rz 35) hingegen keine Bedeutung zu.

[7] Dies gilt ebenso für die Frage, ob der Disziplinarbeschuldigte noch am 19. Mai 2022 die Möglichkeit hatte, das Verhalten seiner Kanzleikraft zu kontrollieren bzw sich mit dieser zu koordinieren. Im Übrigen wäre eine aufgrund einer auswärtigen Verhandlungstätigkeit eingeschränkte Kontroll- oder Koordinationsmöglichkeit vor Ort am letzten Tag der Frist schon aufgrund der notorisch bereits im Vorfeld bestehenden Kenntnis der Verhandlungstermine weder unvorhersehbar noch (weil durch entsprechende Vorbereitung und Abfertigung während der bis dahin schon laufenden Frist – wenn auch bei [fallaktuell dem Disziplinarbeschuldigten zumindest seit 28. April 2022 bekannter] Abwesenheit der Kanzleikraft durch den Rechtsanwalt selbst – leicht zu umgehen) unabwendbar (vgl Lewisch, WK‑StPO § 364 Rz 19).

[8] Der Beschwerde war daher nicht Folge zu geben.

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