Spruch:
Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben; dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Text
Begründung
Der Magristrat der Stadt W***** stellte am 22. 8. 1991 den Antrag, den Eltern die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung zu entziehen und diese dem Magistrat der Stadt W***** zu übertragen, die Erziehung des Kindes in einem Heim anzuordnen und die bereits erfolgte Unterbringung in einem bestimmten Kinderheim zu genehmigen. Hiezu brachte er vor, das Kind sei bereits mehrmals mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden, die den Verdacht einer Mißhandlung rechtfertigten. Am 7. 9. 1988 und am 8. 8. 1991 sei vom Krankenhaus deshalb jeweils Anzeige erstattet worden. Am 15. 11. 1989 sei der Antragsteller von der Leiterin des vom Kind besuchten Kindergartens verständigt worden, daß das Kind bereits öfter Anzeichen von Verletzungen an sich getragen habe, für die die Mutter keine plausiblen Gründe habe angeben können. Eine Gefährdung des Kindes könne bei dieser Sachlage nicht ausgeschlossen werden, wenn es wieder den Eltern überlassen werde.
Die Eltern sprachen sich gegen diese Anträge aus, stellten in Abrede, daß sie das Kind mißhandelt hätten, und brachten vor, das Kind neige infolge eines ärztlichen Kunstfehlers bei Behandlung einer Speiseröhrenanomalie zu Wutanfällen, lege deshalb geradezu einen Selbstzerstörungstrieb an den Tag und verletze sich dabei immer wieder.
Das Erstgericht gab dem Antrag des Magistrats der Stadt W***** statt. Der gerichtsärztliche Sachverständige sei aufgrund eines "ausführlichen Befunds" zum Ergebnis gelangt, daß das Kind ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Betreuerin im Heim habe und deshalb in die Gruppe gut eingegliedert sei; die Heimunterbringung habe sich deshalb auf seine körperliche Entwicklung und sein Sozialverhalten überaus günstig ausgewirkt. Die liebevolle Betreuung im Heim biete ihm deshalb die besten Voraussetzungen für die Ausheilung seiner Verletzungen. Der Verbleib im Heim sei deshalb zur Zeit im Interesse des Kindeswohls dringend geboten.
Das Gericht zweiter Instanz bestätigte diesen Beschluß und sprach aus, daß der "Rekurs" an den Obersten Gerichtshof nicht zulässig sei. Die Voraussetzungen für die Übertragung der Obsorge für das Kind an den Jugendwohlfahrtsträger lägen auf der Hand. Das Kind sei mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden, deren Zurückführung auf Mißhandlungen nicht ausgeschlossen werden könne. Daraus folge, daß die Eltern nicht in der Lage gewesen seien, dem Kind die gebotene Hilfe angedeihen zu lassen. Sie hätten daher - zumindest objektiv gesehen - ihre mit der Erziehungsgewalt verbundenen Pflichten nicht erfüllt. Nach dem gerichtsärztlichen Gutachten stehe fest, daß die Vorkehrungen durch das Pflegschaftsgericht derzeit im Interesse des Kindeswohls erforderlich seien. Bei dessen Rückkehr zu seinen Eltern bestünde die Gefahr schwerer seelischer Schäden und einer erheblichen Beeinträchtigung der weiteren geistigen und seelischen Entwicklung.
Rechtliche Beurteilung
Der von den Eltern dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig, weil zur Frage, unter welchen Voraussetzungen die Obsorge dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen werden könne, Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes noch weitgehend fehlt; er ist aber auch berechtigt.
Das Erstgericht hat den Eltern die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung entzogen und dem Jugendwohlfahrtsträger übertragen. Gemäß § 176 a ABGB darf das Gericht dem Jugendwohlfahrtsträger die Obsorge für das Kind nur dann ganz oder teilweise übertragen, wenn das Wohl des Kindes gefährdet und deshalb die gänzliche Entfernung aus seiner bisherigen Umgebung gegen den Willen des Obsorgeberechtigten (vgl. hiezu Schwimann in Schwimann, ABGB § 176 a Rz 2) notwendig und seine Unterbringung bei Verwandten oder anderen geeigneten Personen nicht möglich ist. Gemäß § 176 b ABGB, der Ausdruck des Grundsatzes der Familienautonomie ist (1 Ob 602/91; 7 Ob 585/90; Schwimann aaO § 176 b Rz 2), darf das Gericht jedoch die Obsorge durch eine Verfügung nach den §§ 176 und 176 a ABGB nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohls des Kindes erforderlich ist. In Entsprechung des Grundsatzes der Familienautonomie soll daher den Familienmitgliedern die Obsorge so lange gewahrt bleiben, als sich das mit dem Kindeswohl verträgt, sodaß die Beschränkung der Obsorge nur das letzte Mittel sein und nur insoweit angeordnet werden darf, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist (Schwimann aaO § 176 b Rz 2). Das Gericht darf also nur aus schwerwiegenden Gründen davon Gebrauch machen (RV 172 BlgNR, 17.GP, 17).
Die Vorinstanzen haben jedoch keine solche Notvorkehrungen rechtfertigende Feststellungen getroffen. Das Erstgericht hat sich überhaupt darauf beschränkt, Teile des Gutachtens des von ihm beigezogenen gerichtsärztlichen Sachverständigen wiederzugeben; es kann seinen Ausführungen zur Not aber immerhin noch entnommen werden, daß es diese Teile des Gutachtens seiner Beschlußfassung zugrundelegen wollte. Der Sachverständige hat die Unterbringung im Heim als für die Entwicklung des Kindes förderlich bezeichnet und ist deshalb zu dem Schluß gelangt, daß die Versorgung im Heim dem Kind derzeit die beste Möglichkeit zur Ausheilung seiner Verletzungen biete. Weitere für eine Entscheidung nach § 176 a ABGB verwertbare Schlußfolgerungen können dem Gutachten dagegen nicht entnommen werden, vor allem finden die Prognosen des Gerichtes zweiter Instanz, das Kind wäre bei der Rückkehr zu seinen Eltern der Gefahr schwerer psychischer Schäden und einer erheblichen Beeinträchtigung der weiteren geistigen und seelischen Entwicklung ausgesetzt, in diesem Gutachten keine ausreichende Deckung. Der Sachverständige hat vielmehr (S. 31) lediglich die Ansicht vertreten, das Kind befinde sich nach seinen schweren Verletzungen noch in Rekonvaleszenz und es bestünden angesichts der liebevollen und pädagogisch versierten Versorgung und Führung im Heim die besten Möglichkeiten zur Überwindung dieser schweren körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Der Sachverständige hat andererseits aber auch bekundet, daß das Kind körperlich und psychosozial normal entwickelt sei und seine Sprechweise auf eine bemühte Förderung hinweise (S. 28 und 31). Soweit dem Gutachten überhaupt verwertbare Hinweise für die Rechtfertigung einer derart weitgehenden Vorkehrung, wie sie die Vorinstanzen getroffen haben, entnommen werden können, sollte wenigstens der Ausgang des wegen Verdachts der Kindesmißhandlung gegen die Eltern eingeleiteten Strafverfahrens abgewartet werden. Die Vorinstanzen haben aber auch keine Feststellungen getroffen, ob ein solches Strafverfahren gegen die Eltern überhaupt eingeleitet wurde bzw. in welchem Stadium es sich befinde.
In den vorinstanzlichen Entscheidungen fehlen aber vor allem Feststellungen über Zeitpunkt, Hergang und Ursache der den gerichtsärztlichen Gutachten zugrunde gelegten Verletzungen des Kindes, den Grad deren Ausheilung und die hiefür erforderliche Dauer der Heilungsmaßnahmen. Ferner fehlen Feststellungen, ob mit dem angeborenen Leiden des Kindes (Speiseröhrenanomalie) allenfalls gewisse Verhaltensstörungen verbunden sind, die an die Obsorgeberechtigten besondere Anforderungen stellen, und bejahendenfalls, ob die Eltern solchen Anforderungen gerecht werden können. Erst danach wird, was vom Rekursgericht ohne entsprechende Sachverhaltsgrundlage angenommen wurde, verläßlich geprüft werden können, ob die Eltern ihren mit der anvertrauten "Erziehungsgewalt" verbundenen Pflichten - ob nun schuldhaft oder auch nur ohne ihr Verschulden - nicht nachgekommen sind bzw. möglicherweise gar nicht imstande sind, sie zu erfüllen.
Diese Feststellungen wird das Erstgericht nach Durchführung geeigneter Erhebungen nachzutragen und danach neuerlich zu entscheiden haben, ob die von ihm angeordnete Notvorkehrung oder welche andere Verfügung zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich ist.
An sich kann das Gericht zwar bis zur endgültigen Entscheidung nach den §§ 176 und 176 a ABGB vorläufige dringende Maßnahmen treffen (1 Ob 602/91; Pichler in Rummel, ABGB2 § 176 Rz 8). Solcher vorläufiger gerichtlicher Vorkehrungen bedarf es im vorliegenden Fall jedoch deshalb nicht, weil der Jugendwohlfahrtsträger die Heimunterbringung im Rahmen seiner Befugnisse vorläufig selbst bis zur gerichtlichen Entscheidung treffen kann, wenn er nur die erforderlichen gerichtlichen Verfügungen unverzüglich, jedenfalls binnen acht Tagen beantragt (§ 215 Abs.1 zweiter Satz ABGB); das ist hier geschehen, sodaß die vom Antragsteller als Sachwalter getroffenen Maßnahmen bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung ohnehin Bestand haben.
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