OGH 1Ob502/96

OGH1Ob502/9623.4.1996

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Schlosser als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Schiemer, Dr.Gerstenecker, Dr.Rohrer und Dr.Zechner als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei M*****gesellschaft mbH, ***** vertreten durch Dr.Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei H***** Gesellschaft mbH, ***** vertreten durch Dr.Dieter Böhmdorfer und Mag.Martin Machold, Rechtsanwälte in Wien, wegen S 992.654,67 sA infolge „außerordentlichen“ Revisionsrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Wien als Rekursgerichtes vom 29.September 1995, GZ 2 R 80/95-11, womit der Beschluß des Handelsgerichtes Wien vom 24.Juli 1995, GZ 11 Cg 87/95-6, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs und der Antrag der beklagten Partei vom 22.März 1996 werden zurückgewiesen.

Text

Begründung

Auf Antrag der klagenden Partei erließ das Erstgericht am 3.7.1995 gegen die beklagte Partei ein Versäumungsurteil, weil keine Klagebeantwortung erstattet worden war. Nach Zustellung des Versäumungsurteils beantragte die beklagte Partei die Bewilligung der Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist zur Erstattung der Klagebeantwortung, holte die versäumte Prozeßhandlung nach und erhob hilfsweise Widerspruch gegen das Versäumungsurteil.

Das Erstgericht wies den Wiedereinsetzungsantrag ab; das Rekursgericht bewilligte dagegen die Wiedereinsetzung und sprach aus, daß der Revisionsrekurs jedenfalls unzulässig sei.

Der von der klagenden Partei erhobene „außerordentliche“ Revisionsrekurs ist nicht zulässig.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 153 ZPO ist gegen die Entscheidung, wodurch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt wird, ein Rechtsmittel nicht zulässig. Dies gilt auch dann, wenn die Bewilligung aufgrund eines Rekurses erst in zweiter Instanz erfolgte (Fasching, Lehrbuch2 Rz 584; Gitschthaler in Rechberger, ZPO, Rz 1 zu § 153). Die klagende Partei vertritt die Ansicht, § 153 ZPO sei in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig. Die Bestimmung widerspreche dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art.6 EMRK, Art.92 Abs.1 B-VG, weil der Oberste Gerichtshof im Wiedereinsetzungsverfahren gänzlich ausgeschlossen werde, und schließlich Art.7 B-VG, weil dem Gegner des Wiedereinsetzungswerbers im Zwischenverfahren jegliche Einflußnahme genommen sei. Der Oberste Gerichtshof kann indes die geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht teilen:

Nach Art.6 Abs.1 erster Satz EMRK hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich gehört wird, und zwar vor einem unabhängigen und unparteiischen, auf dem Gesetz beruhenden Gericht („tribunal“), das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat. Zu den Garantien, die Art.6 Abs.1 MRK gewährleistet, zählt auch - und vor allem - das rechtliche Gehör, und es ist allgemein anerkannt, daß das rechtliche Gehör im Sinne dieser Bestimmung im Zivilverfahren nicht nur verletzt wird, wenn einer Partei die Möglichkeit, sich im Verfahren zu äußern, überhaupt genommen wurde, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrundegelegt wurden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Das Gericht hat daher den Parteien Verfahrensvorgänge, die erkennbar für sie wesentliche Tatsachen betreffen, bekanntzugeben und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, dazu Stellung zu nehmen. Die Beteiligten haben also Anspruch auf Gelegenheit zur tatsächlichen und rechtlichen Äußerung. Unter der Voraussetzung, daß der Grundsatz des Zugangs zu den Gerichten gewahrt ist, bleibt die weitere Ausgestaltung der Gerichtsbarkeit dem Ermessen der Staaten überlassen. Das Recht auf Zugang zu den Gerichten gewährt kein Recht auf einen Instanzenzug oder - wo ein solcher besteht - auf Gerichtsbarkeit in allen Instanzen; es garantiert deshalb auch keinen Zugang zu einem Höchstgericht. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs wirkt deshalb auch nicht absolut, sondern unterliegt Einschränkungen. Besteht somit nach der Europäischen Menschenrechtskonvention kein Recht auf einen Instanzenzug, bleiben im Sinne der vorstehenden Ausführungen die näheren Umstände, unter denen der Zugang zu einer höheren Instanz gewährt wird, dem Ermessen der Staaten überlassen. Die Rechtsmittelbeschränkung des § 153 ZPO bildet dementsprechend keinen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention (9 ObA 86/95 zu § 519 Abs.1 Z 2 ZPO; SZ 64/1 zu § 60 Abs.2 JN iVm § 500 Abs.3 ZPO; EvBl 1990/77 zu § 84 Abs.3 KO; JBl 1980, 607 zum Fehlen von Anfechtungsmöglichkeiten bei schöffen- und geschwornengerichtlichen Entscheidungen; JBl 1975, 379 zum Rekurs als einseitiges Rechtsmittel, vgl EvBl 1970/211). Schon in seinem Aufsatz „Der Einfluß der Verfassung auf das Zivilprozeßrecht“ in ZZP 1983, 409, 474, meinte Ballon, bedenklich seien lediglich solche Bestimmungen, die die Einseitigkeit des Rekurses normieren, sofern sich das Rechtsmittel gegen Beschlüsse richtet, die in der Sache selbst entscheiden oder doch das Meritum betreffen. Nichts davon berührt aber die Bewilligung der Wiedereinsetzung, wird doch dadurch die säumige Partei nur wieder in die Lage versetzt, in der Sache zu verhandeln. Auch Ballon (Die Beachtung des rechtlichen Gehörs im Sinne des Art.6 MRK durch die Rechtsmittelgerichte, JBl 1995, 623, 626), auf den sich die klagende Partei in diesem Zusammenhang beruft, räumt ein, daß die Garantien des Art.6 Abs.1 MRK - also auch das rechtliche Gehör - nicht unbedingt für sämtliche Handlungen, Maßnahmen und Verfahrensabschnitte gelten müßten. Soweit Maßnahmen lediglich rein verfahrenstechnische Angelegenheiten - die also keinen Einfluß auf die Rechtsdurchsetzung und auf das Meritum haben - betreffen, unterlägen sie nicht den Garantien der MRK. In diesen Punkten sei die Einseitigkeit des Rekursverfahrens unbedenklich. Hier läge ein nach der EMRK im Prinzip zulässiger Kompromiß zwischen dem Anspruch auf rechtliches Gehör und dem auf möglichst rasche Verfahrensdurchführung vor. Anders verhalte es sich nur, wenn diese Handlungen und Verfahrensschritte Auswirkungen auf die Sachentscheidung oder - allgemein gesagt - auf die Rechtsdurchsetzung selbst haben könnten.

Nach den Materialien zur Zivilverfahrens-Novelle 1983 (RV, 669 BlgNR, 15.GP, 60) sollte die Einseitigkeit des Rekursverfahrens schon aus Gründen der Verfahrensökonomie aufrechterhalten werden, zumal in den Fällen, in denen ein zweiseitiges Rekursverfahren nicht vorgesehen ist, die aus der Sicht des beiderseitigen Gehörs erhobenen Bedenken zumindest von wesentlich geringerem Gewicht seien, weil in diese Fällen die die Rechtssache in der jeweiligen Instanz abschließende Entscheidung wohl mittels eines zweiseitigen Rechtsmittels angefochten werden könne. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die Möglichkeit eines zweiseitigen Rekursverfahrens geschaffen (§ 521a ZPO), weil es Parteien möglich sein müsse, sich gegen die endgültige Versagung des Rechtsschutzes zur Wehr zu setzen; auch dann, wenn über den Rekurs eine für den Rechtsstreit richtungsweisende, die Untergerichte bindende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu ergehen habe (§ 519 Abs.2 ZPO), sollte der Rekursgegner gehört werden. Der Rechtsmittelausschluß des § 153 ZPO stellt sohin eine - auch aus der Sicht der EMRK - unbedenkliche Einschränkung des rechtlichen Gehörs (vgl auch Fucik in Rechberger, ZPO, Rz 9 vor § 171) dar.

Motiv des Gesetzgebers für die Bestimmung des § 153 ZPO war, daß dadurch kein berechtigtes Interesse einer Partei verletzt und die Wahrheitsfindung nur gefördert werden könne (SZ 13/167). Der Zwischenstreit über die Bewilligung der Restitution sollte rasch und ohne große Mühe überwunden werden (B.Fink, Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Zivilprozeßrecht, 182 mwN).

Auch aus Art.92 Abs.1 iVm Art.7 B-VG läßt sich nicht der Schluß ziehen, daß jede Entscheidung einem Rechtszug an den Obersten Gerichtshof unterworfen sein müsse (9 ObA 86/95). Gemäß Art.92 Abs.1 B-VG ist oberste Instanz in Zivilrechtssachen der Oberste Gerichtshof. Diese Verfassungsnorm enthält nur eine sogenannte Bestandsgarantie des Obersten Gerichtshofs, sodaß Rechtsmittelbeschränkungen solange und in dem Ausmaß verfassungskonform sind, als sie die Funktion des Obersten Gerichtshofs nicht aushöhlen oder ihn ganz ausschalten (Ballon aaO mwN). Art.92 Abs.1 B-VG enthält aber keine Regelung des Instanzenzuges und nimmt damit dem einfachen Gesetzgeber nicht das Recht, in bestimmten Fällen einen Rechtszug an den Obersten Gerichtshof auszuschließen, die Garantie eines durchlaufenden Instanzenzuges an den Obersten Gerichtshof ist aus der genannten Verfassungsbestimmung nicht abzuleiten (SZ 66/87; JBl 1993, 794; ÖBl 1985, 166, EvBl 1972/344; EvBl 1970/211 uva; Walter/Mayer, Bundesverfassungsrecht7 Rz 766; Ringhofer, Bundesverfassung, 289).

Der im Art.7 B-VG verankerte Gleichheitsgrundsatz gebietet es zwar, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, läßt aber doch „sachlich gerechtfertigte“ Differenzierungen zu. Unterschiedliche Regelungen sind dort zulässig, wo sie durch entsprechende Unterschiede im Tatsächlichen gerechtfertigt sind (JBl 1992, 249; EvBl 1989/114; SZ 61/141 und 261; JBl 1976, 35; VfSlg 7996/1977, 7973/1976 uva). Die Gründe, von denen sich der Gesetzgeber bei Schaffung des § 153 ZPO leiten ließ, waren keinesfalls unsachlich (vgl. B.Fink aaO). Der Gesetzgeber ist auch nicht gehindert, in sogenannte „wohlerworbene Rechte“ einzugreifen, wenn dadurch das Gleichheitsgebot gewahrt wird. Der Verfassungsordnung ist ein „Grundrecht wohlerworbener Rechte“ fremd (JBl 1991, 665 mzN aus verfassungsgerichtlicher Judikatur). Das Recht der klagenden Partei, aufgrund eines Formalverfahrens gegen die beklagte Partei Exekution zu Sicherstellung führen zu können, muß gegenüber dem Recht der beklagten Partei, das gegen sie erhobene Begehren einer sachlichen Prüfung zuzuführen, in den Hintergrund treten.

Der Oberste Gerichtshof sieht sich daher nicht veranlaßt, die Aufhebung des § 153 ZPO gemäß Art.140 Abs.1 B-VG beim Verfassungsgerichtshof zu beantragen.

Der Revisionsrekurs ist als unzulässig zurückzuweisen.

Die Beantwortung eines Rechtsmittels ist im Wiedereinsetzungsverfahren nicht vorgesehen, sodaß der Schriftsatz der beklagten Partei, mit dem sie die Zurückweisung des „außerordentlichen“ Revisionsrekurses der klagenden Partei begehrte, zurückzuweisen ist.

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