OGH 1Ob206/20f

OGH1Ob206/20f27.11.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Astrid Wagner, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 30.000 EUR sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 5. Oktober 2020, GZ 14 R 125/20k‑25, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 30. Juli 2020, GZ 31 Cg 24/19f‑21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00206.20F.1127.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin stürzte in einem Supermarkt über den Fuß einer anderen Kundin und verletzte sich dabei. Zwei Polizisten in Uniform, die dort zufällig einkauften, kamen erst hinzu, als die Klägerin nach dem von ihnen nicht beobachteten Sturz bereits am Boden saß. Neben ihr kniete der stellvertretende Filialleiter, der ihr ein Glas Wasser gebracht hatte. Er und eine Kundin (die aber nicht jene war, die am Sturz beteiligt war) kümmerten sich um die Klägerin. Die Frau, über deren Fuß die Klägerin gestürzt war, hielt sich noch im Umfeld, aber „deutlich im Hintergrund“ auf. Die Polizisten erkundigten sich, was los sei, und unterhielten sich kurz mit der Frau „im Vordergrund“, die sich um die Klägerin gekümmert hatte, über die Verletzung der Klägerin und „möglicherweise deren Hergang“. Dass die Klägerin die Polizisten während der Anwesenheit der „Unfallverursacherin“ auf diese hingewiesen hätte, konnte nicht festgestellt werden; ebensowenig, dass die Polizeibeamten diese sich unauffällig vom Ort des Geschehens entfernende Kundin „bewusst als mit dem Unfall in Verbindung stehend überhaupt wahrgenommen“ hätten. Eine konkrete Unterhaltung mit der Klägerin an Ort und Stelle fand erst statt, nachdem sich „sämtliche anderen Beteiligten“ entfernt hatten und auch die „Unfallverursacherin“ nicht mehr zu sehen war.

[2] Die Klägerin begehrt Schadenersatz für entgangenes Schmerzengeld und die Feststellung der Haftung des Bundes nach dem AHG, mit der Begründung, die Polizisten wären verpflichtet gewesen, die Identität der Kundin, die am Sturz beteiligt gewesen war, festzustellen. Dann wäre sie an der Geltendmachung von Ansprüchen gegen diese Kundin nicht gehindert gewesen.

[3] Das Berufungsgericht bestätigte das die Klage abweisende Ersturteil.

[4] In ihrer dagegen erhobenen außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine erhebliche Rechtsfrage auf:

Rechtliche Beurteilung

[5] 1. Sie vertritt darin die Auffassung, dass der Bund – auch wenn das Erstgericht „festgestellt“ habe, dass sie die Beamten nicht auf die Unfallverursacherin hingewiesen habe – dennoch für den erlittenen Schaden hafte, weil die einschreitenden Polizisten „dienstrechtliche Pflichten“ verabsäumt hätten. Es fehle Rechtsprechung des Höchstgerichts dazu, ob Polizeibeamte die Identität von Personen aufzunehmen hätten, wenn „die Umstände eine Klärung der Situation“ erforderten.

[6] 2. Mit dieser vage und ohne jede Darstellung von konkreten Umständen oder Dienstpflichten bleibenden Bemängelung geht sie (wie schon in der Berufung) über die Argumentation der Vorinstanzen hinweg, dass für das Einschreiten eines Polizisten ein Anfangsverdacht gegeben sein muss. Sowohl das Erstgericht als auch das Berufungsgericht haben der Klägerin auseinandergesetzt, dass die amtswegige Ermittlungspflicht nach § 2 Abs 1 StPO das Bestehen eines den Organen zur Kenntnis gelangten Anfangsverdachts (hier) einer (schon begangenen) Straftat voraussetzt (vgl dazu, dass der Begriff Anfangsverdacht eine qualifizierte Verdachtslage bezeichnen soll Schmoller in Fuchs/Ratz , WK‑StPO § 2 [Stand 1. 4. 2016] Rz 3/1). Welche Umstände im vorliegenden Fall das Bestehen eines im Gesetz geforderten Anfangsverdachts nahegelegt hätten oder aus welchen Gründen oder nach welchen Bestimmungen „Vorfeldermittlungen“ (dazu etwa Vogl in Fuchs/Ratz , WK‑StPO § 91 [Stand 1. 11. 2019] Rz 10) zwingend durchzuführen gewesen wären, bemüht sich die Klägerin in der Revision gar nicht darzustellen, wenn sie bloß darauf Bezug nimmt, dass sie (richtig betreffend die Polizeibeamten überhaupt nur: zuvor) am Boden gelegen sei, nachdem sie auf die rechte Schulter gefallen sei, wobei sie sich schwer verletzt habe. Dass im vorliegenden Fall eine Kundin in einem Supermarkt am Boden saß (als die Organe des Bundes hinzutraten), mag vielleicht noch (wenn auch keineswegs zwingend) einen Sturz nahegelegt haben. Es ist aber bei weitem nicht jeder Sturz fremdverschuldet, noch weniger lässt der bloße Umstand, dass sich jemand bei einem Sturz verletzt hat, darauf schließen, dass diese Verletzung auf eine Straftat zurückgeht.

[7] Die Beurteilung, ob in einer konkret vorgefundenen Situation von (nicht dazu herbeigerufenen) Polizeibeamten auf das Vorliegen eines Anfangsverdachts einer „Straftat, die nicht bloß auf Verlangen einer hiezu berechtigten Person zu verfolgen ist“ (§ 2 Abs 1 StPO), zu schließen ist, und sie daher von Amts wegen Ermittlungen einzuleiten haben, hängt schon wegen der Vielzahl von unterschiedlichen Delikten in Kombination mit der Mannigfaltigkeit von Lebenssituationen von der Konstellation des Einzelfalls ab. Eine Ermittlungspflicht bei jeder vorläufig noch unklaren Situation in dem Sinne, dass zwar kein Anfangsverdacht besteht, aber (umgekehrt) mangels Kenntnis der näheren Umstände das Vorliegen einer Straftat noch nicht ausgeschlossen werden kann, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen; umso weniger eine Verpflichtung, die Identität aller Anwesenden festzustellen.

[8] War für die Beamten die konkrete Wahrscheinlichkeit einer fahrlässigen Körperverletzung nicht erkennbar und musste im vorliegenden Fall von ihnen ein solcher Verdacht aufgrund der Umstände auch nicht angenommen werden, liegt in der Beurteilung des Berufungsgerichts, es könne ihnen die Unterlassung von Ermittlungsschritten nicht als Pflichtverletzung angekreidet werden, keinesfalls eine Fehlbeurteilung im Einzelfall, die einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedürfte.

[9] Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).

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