European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0010OB00180.16A.1123.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 5.317,06 EUR bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
Die Klägerin stützt ihre Amtshaftungsansprüche darauf, dass in zwei Verfahren ihrem jeweiligen Prozessgegner zu Unrecht und in unvertretbarer Weise die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen den Ablauf der Berufungsfrist gegen das Ersturteil in seinem klageabweisenden Teil bewilligt worden sei. Im ersten Verfahren sei es schließlich zu einer für die Klägerin ungünstigen Sachentscheidung gekommen, im zweiten stehe die endgültige Urteilsfällung noch aus. Die Beklagte habe für alle Rechtsnachteile zu haften, die der Klägerin ohne die gesetzwidrige Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht entstanden wären. Sie begehrte die Zahlung von 151.767,66 EUR samt Zinsen sowie die Feststellung der Haftung für (zukünftige bzw noch nicht bezifferbare) Schäden aus der Bewilligung der Wiedereinsetzung zu Gunsten ihres damaligen Prozessgegners.
Die Beklagte wandte gegen die behauptete Haftung einen Verstoß der Klägerin gegen die Rettungspflicht sowie die Vertretbarkeit der Wiedereinsetzungs-entscheidungen in den Anlassverfahren ein. Die geltend gemachten Schäden lägen auch außerhalb des Schutzzwecks der Wiedereinsetzungsnormen, die nur den Wiedereinsetzungswerber schützten.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass die Gerichte im Anlassverfahren ihren Entscheidungen keine unvertretbare Rechtsansicht zugrunde gelegt hätten. Sie hätten sich sowohl mit Judikatur als auch Lehrmeinungen auseinandergesetzt und abgewogen, ob die damaligen Vertreter der Prozessgegner bei Unterlassung der rechtzeitigen Erhebung einer Berufung einem vertretbaren Rechtsirrtum unterlegen sind.
Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im Sinne einer Klagestattgebung ab und erklärte die ordentliche Revision für zulässig. Die Annahme des Vorliegens eines Wiedereinsetzungsgrundes sei unvertretbar gewesen. Die Argumente der Beklagten zum Schutzzweck der Normen über die Wiedereinsetzung seien nicht überzeugend. Naturgemäß stünden die Bestimmungen zur Wiedereinsetzung mit dem Institut der Rechtskraft in einem Spannungsverhältnis, greife doch eine bewilligte Wiedereinsetzung regelmäßig in die Rechtskraft und damit in die streitbereinigende Wirkung eines Zivilprozesses ein. Die ordentliche Revision sei zulässig, zumal sich das Höchstgericht zur Frage eines „Wiedereinsetzungsgrundes aufgrund schwankender oder fehlender Rechtsprechung“ bislang nicht habe äußern müssen.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen erhobene Revision der Beklagten ist zulässig und berechtigt.
Zutreffend wird darin insbesondere aufgezeigt, dass sich das Berufungsgericht mit der von ihr schon im Verfahren erster Instanz angesprochenen Problematik des Schutzzwecks der Wiedereinsetzungsnormen nicht ausreichend auseinandergesetzt hat. Zu diesen hat der Oberste Gerichtshof schon wiederholt Stellung genommen, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit dem (von betroffenen Verfahrensparteien erhobenen) Vorwurf der Verfassungswidrigkeit des § 153 ZPO, durch den ein Rechtsmittel gegen eine die Wiedereinsetzung bewilligende Entscheidung ausgeschlossen wird.
Hingewiesen wurde dabei etwa auf ein Motiv des Gesetzgebers, nach dem durch den Rechtsmittelausschluss kein berechtigtes Interesse einer Partei verletzt und die Wahrheitsfindung nur gefördert werden könne; der Zwischenstreit über die Wiedereinsetzung solle rasch und ohne große Mühe überwunden werden (1 Ob 502/96; 4 Ob 27/97t). Der Rechtsmittelausschluss des § 153 ZPO wurde daher vom Obersten Gerichtshof auch immer wieder als eine – auch aus der Sicht der EMRK – unbedenkliche Einschränkung des rechtlichen Gehörs beurteilt, weil die Garantien des Art 6 EMRK nicht für rein verfahrenstechnische Angelegenheiten gelten, die keinen Einfluss auf die Rechtsdurchsetzung in der Sache selbst haben (RIS‑Justiz RS0102361 [T1]). Der Ausschluss diene der Förderung der Wahrheitsfindung, ohne berechtigte Interessen einer Partei zu verletzen (6 Ob 282/01s mwN). Die Konsequenz des Rechtsmittelausschlusses ist es nun, dass die Richtigkeit des die Wiedereinsetzung bewilligenden Beschlusses selbst dann nicht überprüft werden kann, wenn „elementare Verfahrensgrundsätze“ verletzt wurden, weil auch in einem solchen Fall die Wahrheitsfindung durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung nur gefördert wird und daher berechtigte Interessen einer Partei nicht verletzt werden (4 Ob 27/97t; 6 Ob 282/01s; 6 Ob 137/06z). Wird nun aber durch die Bewilligung eines Wiedereinsetzungsantrags kein berechtigtes Interesse einer Partei – nämlich an einer rechtsrichtigen und auf ausreichender Tatsachengrundlage beruhenden Sachentscheidung – verletzt, ist nicht zu erkennen, inwieweit der Wiedereinsetzungsgegner vom Schutzzweck der Normen über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfasst sein sollte.
Auch zu anderen gerichtlichen Verfahrensschritten wird etwa judiziert, dass eine Prozesspartei nie durch ein „Zuviel“ an Beweisaufnahme beschwert sein kann, ist doch das Ziel jedes Verfahrens eine (materiell richtige) Entscheidung auf der Basis einer möglichst vollständigen Tatsachengrundlage (vgl nur RIS‑Justiz RS0040415). Hat etwa ein Erstgericht ein im Sinne des § 179 ZPO verspätetes Beweisanbot akzeptiert und hat die beweisführende Partei aufgrund dieses Beweismittels den Prozess gewonnen, kann ihr Prozessgegner nicht verlangen, im Amtshaftungsweg vermögensrechtlich so gestellt zu werden, als hätte er den Prozess gewonnen, weil bei der gebotenen Zurückweisung des Beweismittels der Gegner seiner Beweislast nicht nachgekommen wäre (idS etwa auch Liebhart/Herzog, Fristenhandbuch Rz 383 f).
Letztlich läuft die Auffassung der Klägerin darauf hinaus, dass sie ein Recht darauf hätte, dass eine zu ihren Gunsten ergangene, materiell aber unrichtige Entscheidung, aufrecht bleibt. Dafür vermag sie selbst keine überzeugenden Argumente ins Treffen zu führen. Sie gesteht in ihrer Revisionsbeantwortung vielmehr ausdrücklich das Ziel der Wiedereinsetzungsregeln zu, materielle Gerechtigkeit zu verwirklichen. Gegen die nach der Bewilligung der Wiedereinsetzung ergangene bzw ergehende Sachentscheidung standen/stehen der Klägerin ohnehin alle nach den Verfahrensvorschriften vorgesehenen Möglichkeiten der Bekämpfung im Rechtsmittelweg zu. Wird schließlich rechtskräftig entschieden, dass ihr Prozessgegner mit seinem Verfahrensstandpunkt im Recht ist, hat sie sich damit abzufinden, dass eine zwischenzeitig zu ihren Gunsten ergangene Sachentscheidung einer Vorinstanz unrichtig war und von einer höheren Instanz korrigiert wurde.
Da somit der geltend gemachte Vermögensschaden vom Schutzzweck der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfasst ist, erweist sich das Urteil des Erstgerichts jedenfalls im Ergebnis als richtig und ist damit wiederherzustellen.
Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittelverfahrens beruht auf § 50 Abs 1 iVm § 41 Abs 1 ZPO.
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