European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0170OS00004.16S.0606.000
Spruch:
I/ In der Strafsache gegen Friedrich E***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB, AZ 16 Hv 73/11m des Landesgerichts für Strafsachen Wien, verletzt der Beschluss der Vizepräsidentin des Oberlandesgerichts Wien vom 30. Juli 2015, AZ 31 Ns 38/15t, § 43 Abs 1 Z 3 StPO.
II/ In teilweiser Stattgebung des Antrags auf Erneuerung des Strafverfahrens wird das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 4. August 2015, AZ 32 Bs 41/15m, das im Übrigen unberührt bleibt, im Friedrich E***** betreffenden Umfang (ausgenommen die Beseitigung des Schuldspruchs und des Strafausspruchs) aufgehoben und die Sache zur Entscheidung über die von ihm gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Oktober 2014, GZ 16 Hv 73/11m‑124, ergriffene Berufung (in ihrem für das erneuerte Verfahren relevanten Umfang) an das Oberlandesgericht Wien verwiesen.
III/ Der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wird im gegen das zu Punkt II bezeichnete Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien gerichteten Umfang zurückgewiesen.
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. Oktober 2011 (ON 43) wurde ‑ neben anderen Angeklagten ‑ Friedrich E***** des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB schuldig erkannt. Nach dem zugrunde liegenden Urteilssachverhalt habe Friedrich E***** als Vorgesetzter der Zivildienstleistenden (§ 38 Abs 5 ZDG) im A***** diese beaufsichtigen und angemessen beschäftigen müssen. Er habe seine Befugnis wissentlich missbraucht, indem er angeordnet habe, drei Zivildienstpflichtige, welche tatsächlich in einem nicht für die Ableistung des Zivildienstes anerkannten Unternehmen weiter beschäftigt gewesen seien, in den Dienstplänen der A***** tatsachenwidrig als anwesend zu führen. Dieses Verhalten habe (von seinem Vorsatz erfasst) der Gemeinde Wien einen Schaden von 22.086,76 Euro und der Republik Österreich (aus finanziellen Vergütungen für die vorgetäuschte ordnungsgemäße Ableistung des Zivildienstes) von 5.353,11 Euro zugefügt.
Unter anderem diesen Schuldspruch und den darauf beruhenden Strafausspruch hob der Oberste Gerichtshof mit Erkenntnis vom 28. August 2012, AZ 12 Os 23/12t, auf und sprach dabei aus, dass der angeklagte Sachverhalt nicht dem Verbrechen des Missbrauchs der Amtsgewalt zu subsumieren sei. Befugnismissbrauch im Rahmen ‑ hier vorliegender ‑ Privat-wirtschaftsverwaltung erfülle allenfalls den Tatbestand der Untreue. Täuschungsbedingtes Erwirken von Vergütungen könne Betrug darstellen.
Im zweiten Rechtsgang sprach die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Urteil vom 13. Dezember 2012, GZ 16 Hv 73/11m‑84, sämtliche Angeklagten vom Anklagevorwurf gemäß § 259 Z 3 StPO frei.
Dieses Urteil hob das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht mit Urteil vom 26. Februar 2014, AZ 32 Bs 11/13x (ON 94 der Hv‑Akten), in Stattgebung der von der Staatsanwaltschaft wegen des Ausspruchs über die Schuld ergriffenen Berufung bei der nichtöffentlichen Beratung auf und verwies die Sache an das Erstgericht zurück (§ 470 Z 3 erster Fall iVm § 489 Abs 1 StPO).
Im dritten Rechtsgang sprach die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien mit Urteil vom 16. Oktober 2014, GZ 16 Hv 73/11m‑124, (unter anderem) Friedrich E***** ‑ auf Basis der unveränderten Anklage ‑ der Vergehen der Untreue nach § 153 Abs 1 und 2 erster Fall StGB und des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2 StGB (jeweils idF vor BGBl I 2015/112) schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe.
Dagegen ergriff (auch) dieser Angeklagte Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe sowie wegen der Aussprüche über die Schuld und die Strafe. Durch Zustellung der Ladung zum Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung erlangte er (wie auch sein Verteidiger) Kenntnis, dass dem zuständigen Senat des Oberlandesgerichts auch Dr. S***** als Vorsitzende angehörte, die bereits Vorsitzende des im zweiten Rechtsgang tätigen Senats gewesen war. Mit Schriftsatz vom 24. Juli 2015 stellte Friedrich E***** den mit diesem Umstand begründeten Antrag auf Ablehnung dieser Richterin wegen Ausschließung (§ 44 Abs 3 StPO).
Mit Beschluss vom 30. Juli 2015, AZ 31 Ns 38/15t, entschied die Vizepräsidentin des Oberlandesgerichts Wien, dass Dr. S***** nicht ausgeschlossen sei. Begründend führte sie ‑ nach Auseinandersetzung mit einschlägiger Rechtsprechung und Kommentarliteratur ‑ im Wesentlichen aus: Die neuerliche Befassung des Rechtsmittelgerichts mit derselben Strafsache wecke ‑ auch bei (teilweise) gleicher Zusammensetzung des Senats ‑ nicht per se Zweifel an der vollen Unbefangenheit der beteiligten Richter. Dies sei nur bei zusätzlichen Gründen möglich, welche hier nicht vorlägen, weil das Berufungsgericht im (früheren) zweiten Rechtsgang nicht nach Beweiswiederholung in der Sache entschieden habe, sondern das angefochtene Urteil „allein aufgrund begründeter Zweifel an den vom Erstgericht (insbesondere zur subjektiven Tatseite) getroffenen Feststellungen“ aufgehoben habe. Es habe die Notwendigkeit weiterer Beweiserhebungen dargelegt und der ‑ danach zu treffenden ‑ endgültigen Entscheidung in der Schuldfrage nicht vorgegriffen.
Mit Urteil vom 4. August 2015, AZ 32 Bs 41/15m (ON 144 der Hv‑Akten), hob das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht ‑ unter dem Vorsitz von Dr. S***** ‑ (soweit hier von Interesse) in teilweiser Stattgebung der Berufung des Friedrich E***** und aus Anlass der Berufungen den Schuldspruch I (wegen des Vergehens der Untreue nach § 153 Abs 1 und 2 erster Fall StGB) ersatzlos, demgemäß auch den Strafausspruch auf und gab der weiteren, von diesem Angeklagten wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe und wegen des Ausspruchs über die Schuld ergriffenen Berufung nicht Folge. Für das ihm (zu Punkt II des Schuldspruchs) weiter zur Last liegende Vergehen des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2 StGB (idF vor BGBl I 2015/112) verurteilte das Berufungsgericht Friedrich E***** zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe und verwies ihn mit seiner Strafberufung auf diese Entscheidung.
Gegen dieses Urteil und gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Oktober 2014, GZ 16 Hv 73/11m‑124 richtet sich der fristgerecht gestellte Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a StPO) des Friedrich E*****, der eine Verletzung von Art 6 Abs 1, 2 und 3 lit d MRK reklamiert.
Mit ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde bekämpft die Generalprokuratur den Beschluss der Vizepräsidentin des Oberlandesgerichts Wien vom 30. Juli 2015, AZ 31 Ns 38/15t.
Rechtliche Beurteilung
Zur Nichtigkeitsbeschwerde:
Zutreffend zeigt die Generalprokuratur eine Verletzung des § 43 Abs 1 Z 3 StPO durch den genannten Beschluss auf.
Diese Bestimmung sichert ‑ als einfach-gesetzliche Umsetzung der in Art 6 Abs 1 MRK normierten Garantie ‑ den Anspruch jedermanns darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen Gericht gehört wird, ab. Nach (übereinstimmender) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Obersten Gerichtshofs wird die Prüfung der Unparteilichkeit getrennt in (hier nicht angesprochener) subjektiver und objektiver Perspektive vorgenommen. Letztere stellt darauf ab, ob ‑ einzelfallbezogen und unter Berücksichtigung des äußeren Anscheins ‑ Umstände vorliegen, die objektiv gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit wecken können. Solche Umstände können sich auch aus der Vorbefasstheit von Richtern eines Rechtsmittelgerichts in der Schuldfrage ergeben (zum Ganzen Lässig , WK-StPO § 43 Rz 13 bis 15 und 31a; Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 24 Rz 48 ff). Hatte das Rechtsmittelgericht ‑ hier mit eigenständiger Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Verantwortung der Angeklagten und diese belastender Zeugenaussagen durch Bezugnahme auf Beweisergebnisse (vgl US 30 f, 33 und 37 f) sowie mit Hinweis auf Strafbarkeit des angelasteten Verhaltens indizierende Verfahrensergebnisse (US 40) ‑ im früheren Rechtsgang die Tatfrage mit voller Kognitionsbefugnis zu beurteilen oder hat es dazu ‑ wenngleich bloß aus Anlass einer Rechtskontrolle ‑ (jedenfalls in einer für den Angeklagten nachteiligen Weise) beweiswürdigend Stellung bezogen, liegt Anschein von Befangenheit im Sinn des § 43 Abs 1 Z 3 StPO vor (EGMR 24. 6. 2010, 22349/06, Mancel und Branquart/Frankreich [Z 38 ff]; weiters [mit Hinweisen auf den ‑ nach französischem Strafverfahrensrecht ‑ wesensmäßigen Unterschied von Berufung und Beschwerde an das Kassationsgericht] 10. 2. 2004, 53971/00, D. P./Frankreich [Z 37 ff] und 22. 11. 2005, 65823/01 und 65273/01, Golinelli und Freymuth/Frankreich [Z 41 ff] sowie [zur Befassung mit ähnlichen Fragen in derselben Rechtssache zunächst beim Arbeits- und Sozialgericht und nachfolgend beim Verfassungsgericht] 5. 6. 2014, 50996/08, Hit D. D. Nova Gorica/Slowenien [Z 36 ff]; zur Rechtsprechung des OGH 12 Ns 53/10f; vgl auch [Ausgeschlossenheit bejahend] 12 Ns 23/15a; 12 Ns 1/14i und 12 Ns 48/13z). An einer kassatorischen Entscheidung in Stattgebung einer zum Nachteil des Angeklagten ergriffenen Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld beteiligte Richter sind daher in einem weiteren Berufungsverfahren ausgeschlossen.
Zum Erneuerungsantrag:
Der Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens reklamiert, soweit er sich auf das ‑ von der Generalprokuratur nicht angefochtene ‑ Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 4. August 2015, AZ 32 Bs 41/15m, bezieht, zutreffend eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art 6 Abs 1 MRK. Dazu kann auf die Beantwortung der im Wesentlichen inhaltsgleichen Argumentation der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes verwiesen werden. Da ein nachteiliger Einfluss dieser Grundrechtsverletzung auf den Inhalt dieser Entscheidung hinsichtlich Friedrich E***** nicht auszuschließen war, war diese insoweit in Stattgebung des Antrags wie im Spruch ersichtlich aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht Wien in diesem Umfang zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung dieses Angeklagten zu verweisen (§ 363c Abs 2 StPO).
Auf das weitere, in Bezug auf diese Entscheidung erstattete Antragsvorbringen musste demnach nicht eingegangen werden.
Soweit sich der Antrag auch gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 16. Oktober 2014, GZ 16 Hv 73/11m‑124, richtet, war er zurückzuweisen, weil es sich beim ‑ nicht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestützten ‑ Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens um einen subsidiären Rechtsbehelf handelt, für den unter anderem die Zulässigkeitsvoraussetzung der Rechtswegerschöpfung nach Art 35 Abs 1 MRK sinngemäß gilt. Ein gegen ein Urteil, das der Erneuerungswerber mit Berufung anfechten kann (und hier auch angefochten hat), gerichteter Erneuerungsantrag ist daher unzulässig (vgl RIS-Justiz RS0124739 [T2]).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)