European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0150OS00070.21I.0702.000
Spruch:
In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im außerordentlichen Weg die Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens verfügt, das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Berufungsgericht vom 17. März 2021, AZ 132 Bl 5/21w, aufgehoben und die Sache an dieses Gericht zur neuen Entscheidung über die Berufung der Staatsanwaltschaft Wien gegen das Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 19. Juni 2020, GZ 18 U 69/20y‑27, verwiesen.
Gründe:
[1] Mit Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 19. Juni 2020, GZ 18 U 69/20y‑27, wurde M***** S***** des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt.
[2] Gegen dieses Urteil erhob die Staatsanwaltschaft Wien Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe. Gleichzeitig brachte sie Beschwerde gegen einen der – unter einem gefassten – Beschlüsse gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO (ON 28) ein.
[3] Am 16. Februar 2021 verfügte der Vorsitzende des Drei-Richter-Senats des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Berufungsgericht die Ladung des Angeklagten zum für den 17. März 2021 anberaumten Gerichtstag an der – zu diesem Zeitpunkt – aktenkundigen Wohnadresse des Angeklagten (vgl nicht einjournalisiertes Formular in AZ 132 Bl 5/21w des Landesgerichts für Strafsachen Wien und ON 31, 34, 36a). Laut Zustellnachricht wurde die Ladung am zuständigen Postamt zur Abholung ab 23. Februar 2021 hinterlegt, jedoch nicht behoben und aus diesem Grund an das Landesgericht retourniert (Kopie des Rückscheins bei ON 38).
[4] Zum Gerichtstag am 17. März 2021 erschien M***** S***** unentschuldigt nicht, woraufhin das Landesgericht für Strafsachen Wien die Zustellung der Ladung des Genannten durch Hinterlegung und das Vorliegen der Voraussetzungen zur Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten feststellte (ON 38 S 3). Mit Urteil vom selben Tag erhöhte das Rechtsmittelgericht in Stattgebung der Berufung der Staatsanwaltschaft Wien die über den Angeklagten verhängte Freiheitsstrafe unter Ausschaltung der bedingten Strafnachsicht nach § 43 Abs 1 StGB; deren Beschwerde gab es hingegen nicht Folge (ON 39).
[5] Erst anlässlich einer Anfrage des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 6. April 2021 (ON 43) an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien und des (bislang erfolglosen) Versuchs der Zustellung des Berufungsurteils an den Verurteilten (vgl ON 45) wurde bekannt, dass dieser seit 19. Februar 2021 nicht mehr an der seinerzeitigen Ladungsadresse gemeldet war (ON 46).
[6] Der Angeklagte hatte weder auf seine Teilnahme an der Berufungsverhandlung verzichtet noch hatte er das Bezirksgericht Innere Stadt Wien oder das Landesgericht für Strafsachen Wien von seiner Wohnsitzaufgabe informiert.
[7] In offenkundiger – nicht vorwerfbarer – Unkenntnis dieses Umstands führte das Berufungsgericht nach der zu diesem Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Aktenlage rechtsrichtig (§ 471 StPO iVm § 286 Abs 1 und § 287 Abs 3 StPO) die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch.
Rechtliche Beurteilung
[8] Wie die Generalprokuratur in ihrem auf § 362 Abs 1 Z 2 StPO gestützten Antrag zutreffend aufzeigt, bestehen gegen die Richtigkeit der der Durchführung der Berufungsverhandlung und dem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien zugrunde gelegten Annahme, dem Angeklagten sei die Ladung zur Berufungsverhandlung (wirksam) durch Hinterlegung zugestellt worden und die Voraussetzungen für eine Verhandlung und Urteilsfällung in dessen Abwesenheit seien gegeben gewesen, erhebliche Bedenken:
[9] Die (nachträglichen) Erhebungen des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien zum Aufenthalt des M***** S*****, insbesondere die Auskunft aus dem Zentralen Melderegister (ON 46), indizieren, dass dieser sich bereits seit dem 19. Februar 2021, sohin schon vor Beginn des relevanten Hinterlegungszeitraums, nicht mehr an der vom Berufungsgericht aufgrund der Aktenlage für eine Abgabestelle gehaltenen Adresse aufgehalten hat (vgl aber § 2 Z 4 und § 17 Abs 3 ZustG).
[10] Gemäß § 471 StPO gelten für die Anberaumung und Durchführung des Gerichtstags zur öffentlichen Verhandlung über Berufungen gegen Urteile der Bezirksgerichte unter anderem – soweit fallbezogen von Relevanz – die §§ 286 Abs 1, 294 StPO sinngemäß. Eine Verhandlung in Abwesenheit des auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten ist im Berufungsverfahren demnach nur dann zulässig, wenn dieser trotz wirksamer Zustellung der Ladung unentschuldigt fernbleibt (§ 286 Abs 1 letzter Satz StPO) oder am Erscheinen gehindert war und durch seinen Verteidiger ausdrücklich auf die Teilnahme am Gerichtstag verzichtet hat (RIS‑Justiz RS0124107 [T2]; vgl auch Ratz, WK‑StPO § 294 Rz 14, § 296 Rz 2, § 471 Rz 2).
[11] Nach dem Vorgesagten lag keine dieser Voraussetzungen vor.
[12] Somit erging eine (nicht vom Obersten Gerichtshof getroffene) letztinstanzliche Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv bedenklichen Verfahrensgrundlage, ohne dass dem betreffenden Gericht ein Rechtsfehler anzulasten wäre.
[13] Die entstandene Benachteiligung des Angeklagten war daher, weil sie auf anderem Weg nicht behoben werden kann, durch die analoge Anwendung der Bestimmung über die außerordentliche Wiederaufnahme gemäß § 362 Abs 2 Z 1 StPO zu sanieren (RIS‑Justiz RS0117416; RS0117312 [T3]; Ratz, WK‑StPO § 362 Rz 4).
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