European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0150OS00061.20I.0615.000
Spruch:
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Aus deren Anlass wird festgestellt, dass Johann R***** durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 29. April 2020, AZ 10 Bs 101/20d, im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.
Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Wels führt zu AZ 17 St 77/19g ein Ermittlungsverfahren gegen Johann R***** wegen des Verdachts des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG und weiterer strafbarer Handlungen.
Über den Genannten wurde mit Beschluss des Landesgerichts Wels vom 17. Dezember 2019 die Untersuchungshaft verhängt (ON 27) und zuletzt mit Beschluss vom 30. März 2020 aus dem Haftgrund der Tatbegehungs‑ und Ausführungsgefahr nach § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 3 lit a, b, c und d StPO fortgesetzt (ON 101).
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Linz mit Beschluss vom 29. April 2020, AZ 10 Bs 101/20d (ON 117), nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft ebenfalls aus dem Haftgrund der Tatbegehungs‑ und Ausführungsgefahr nach § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 3 lit a, b, c und d StPO fort.
Nach den Sachverhaltsannahmen des Beschwerdegerichts ist Johann R***** dringend verdächtig, in N***** und anderen Orten
I. vorschriftswidrig Suchtgift
1. in einer das 25fache der Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge anderen überlassen zu haben, indem er seit 2018 bis Mitte Dezember 2019 an Alexander S***** wöchentlich zumindest ein Kilogramm „Speed“, enthaltend Amphetamin mit einem Reinheitsgehalt von zumindest 70 % weitergab,
2. aus dem Ausland aus‑ und nach Österreich eingeführt bzw dies versucht zu haben, indem er unbekannte Täter im „Darknet“ dazu bestimmte, 21,57 Gramm [richtig: 25,65 Gramm] Reinsubstanz MDMA sowie 200 Gramm „Speed-Paste“, enthaltend 74 % reines Amphetamin, auf dem Postweg an seine Wohnadresse zu versenden, wobei die zuerst genannte Sendung beim Zollamt Frankfurt/Deutschland sichergestellt wurde,
II. am 14. Dezember 2019 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Alexander S***** Roberto H*****
1. durch gefährliche Drohung mit dem Tod dazu zu nötigen versucht zu haben, die von H***** „gestohlenen Drogen“ des S***** oder deren Gegenwert in Höhe von 39.000 Euro wieder zu beschaffen, andernfalls er getötet werde bzw ihm zuerst ein Finger abgehackt werde, indem R***** das Tatopfer mit einer Machete bedrohte, ihm diese an den Hals ansetzte und ihm sodann zwei Schnittverletzungen am Finger zufügte, während S***** ihn festhielt und ins Gesicht schlug,
2. dadurch vorsätzlich am Körper verletzt zu haben.
Diesen als sehr wahrscheinlich angenommenen Sachverhalt subsumierte das Beschwerdegericht ersichtlich (vgl BS 1) den Tatbeständen nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 4 Z 3 SMG (I.1.), § 12 zweiter Fall StGB, § 27 Abs 1 fünfter und sechster Fall SMG und § 15 StGB (I.2.), §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB (II.1) und § 83 Abs 1 StGB (II.2.).
Gegen diesen Beschluss des Beschwerdegerichts richtet sich die Grundrechtsbeschwerde des Johann R*****, der keine Berechtigung zukommt.
Die Begründung des dringenden Tatverdachts kann im Grundrechtsbeschwerdeverfahren hinsichtlich der Sachverhaltsgrundlagen der Haftentscheidung in sinngemäßer Anwendung der Z 5 und 5a des § 281 Abs 1 StPO angefochten werden; eine am Gesetz orientierte Beschwerde hat somit einen Darstellungs‑ oder Begründungsmangel aufzuzeigen oder an Hand deutlich und bestimmt bezeichneter Aktenbestandteile erhebliche Bedenken gegen die vorläufige Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts zu erwecken (RIS‑Justiz RS0110146; RS0114488).
Diese Kriterien verfehlt die Beschwerde, indem sie die Erwägungen des Oberlandesgerichts (BS 2 und 3 f) als „eine lediglich mittelbare Ableitung“ qualifiziert und so für den Beschwerdeführer günstigere Schlussfolgerungen abzuleiten trachtet.
Die rechtliche Annahme einer der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren prüft der Oberste Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens nur dahin, ob sie aus den vom Oberlandesgericht in Anschlag gebrachten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich – mit anderen Worten also nicht oder nur offenbar unzureichend begründet – angesehen werden müsste (RIS‑Justiz RS0117806).
Indem die Beschwerde bloß das Vorliegen der vom Beschwerdegericht angeführten, seiner Prognose zugrunde gelegten bestimmten Tatsachen bestreitet und behauptet, durch die „seit der Corona‑Krise geschlossenen Grenzen“ sei eine „grenzüberschreitende Suchtgiftkriminalität aktuell de facto nicht möglich“, zeigt sie keine Willkür des Oberlandesgerichts auf.
Die von der Beschwerde problematisierten „anlässlich der Corona-Krise“ zum Schutz der Insassen angeordneten Einschränkungen in der Haft sind (als im Wesentlichen den Schutzbereich von Art 3 und 8 EMRK betreffend) nicht vom Grundrecht auf persönliche Freiheit erfasst und daher nicht Gegenstand der Grundrechtsbeschwerde (§ 2 Abs 1 GRBG; vgl RIS‑Justiz RS0133002; Grabenwarter/Pabel, EMRK6 § 21 Rz 2).
Beruft sich die Grundrechtsbeschwerde auf die Erreichbarkeit der Haftzwecke durch gelindere Mittel, hat sie diese konkret zu bezeichnen (RIS-Justiz RS0116422). Diesem Erfordernis wird der Beschwerdeführer mit dem Hinweis, er würde „sämtlichen Weisungen nachkommen“, nicht gerecht. Im Übrigen zeigt das Vorbringen auch nicht auf, worin dem Beschwerdegericht in seiner Einschätzung, der Hintanhaltung der Haftgründe könne durch gelindere Mittel nicht begegnet werden (BS 5), ein Beurteilungsfehler unterlaufen wäre.
Soweit das Beschwerdevorbringen die Überschreitung der in § 178 Abs 2 StPO genannten Frist kritisiert, wird übersehen, dass die angesprochene Höchstdauer von sechs Monaten zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung noch gar nicht erreicht war (vgl Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 14).
Aus Anlass der Grundrechtsbeschwerde war jedoch der in der Beschwerde nicht gerügte Umstand aufzugreifen, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts keine Sachverhaltsannahmen zum dringenden Tatverdacht enthält, die eine rechtliche Beurteilung ermöglichen, ob durch die als sehr wahrscheinlich angenommenen Tatsachen die im Beschluss genannten strafbaren Handlungen begründet wurden (§ 10 GRBG iVm § 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO).
Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat der Fortsetzungsbeschluss des Oberlandesgerichts die erstinstanzliche Entscheidung nicht bloß zu beurteilen, sondern zu ersetzen und solcherart eine neue – reformatorische – Entscheidung darzustellen (RIS‑Justiz RS0116421). Nach § 174 Abs 3 Z 4 StPO iVm § 174 Abs 4 zweiter Satz StPO hat jede solche Entscheidung „die bestimmten Tatsachen, aus denen sich der dringende Tatverdacht“ für das Oberlandesgericht ergibt, zu enthalten. Vorliegend lässt der angefochtene Beschluss jegliche Ausführungen zur subjektiven Tatseite vermissen, womit er in Betreff der Sachverhaltsgrundlagen für die Haftvoraussetzung des dringenden Tatverdachts in einer das Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzenden Weise unklar geblieben ist (RIS‑Justiz RS0120817, RS0119859).
Das aufgezeigte Defizit der Sachverhaltsannahmen erfordert die unverzügliche Klärung der Haftvoraussetzungen. Der angefochtene Beschluss war jedoch nicht aufzuheben, weil entsprechende Sachverhaltsannahmen durch eine solcherart grundrechtskonforme Entscheidung der ersten Instanz nach der Aktenlage getroffen werden können (RIS‑Justiz RS0112914, RS0119858).
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