OGH 14Os90/17t

OGH14Os90/17t7.11.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. November 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Wetter als Schriftführer in der Strafsache gegen Kamal A***** und einen anderen Angeklagten wegen des Verbrechens der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs 2 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über den Antrag des Angeklagten Kamal A***** auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Schöffengericht vom 10. Mai 2017, GZ 39 Hv 59/16t‑529, sowie über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Kamal A***** und Youcef B***** gegen dieses Urteil, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0140OS00090.17T.1107.000

 

Spruch:

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird dem Angeklagten Kamal A***** nicht bewilligt.

Mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde wird er auf diese Entscheidung verwiesen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Youcef B***** wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.

Den Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurden Kamal A***** und Youcef B***** je eines Verbrechens der terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs 2 StGB (I/1) sowie der kriminellen Organisation nach § 278a StGB (I/2), Youcef B***** zudem der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG (II/1/a) und nach § 27 Abs 1 Z 1 achter Fall, Abs 3 und Abs 5 SMG (II/1/b) sowie des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB (II/2/a und b) schuldig erkannt.

Danach haben – soweit für das Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerden relevant – in S***** und an anderen Orten des Bundesgebiets

(I) Kamal A***** und Youcef B*****

1) sich als Mitglied (§ 278 Abs 3 StGB) an einer terroristischen Vereinigung, nämlich der in der UN‑Sanktionsliste aufscheinenden Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Wissen beteiligt, dadurch die Verbindung und deren strafbare Handlungen und Ziele zu fördern, indem sie sich zumindest seit November 2015 mit den abgesondert verfolgten Mittätern Adel H***** und Muhammad U***** einer Terrorzelle der Verbindung anschlossen, welcher auch zwei Selbstmordattentäter der Attentate vom 13. November 2015 in P***** angehört hatten, und die Reorganisation der Gruppe sowie die Vorbereitungen zur Weiterreise der beiden genannten Mittäter, die den ihnen erteilten Auftrag, in Frankreich als Attentäter im Namen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ möglichst viele Menschen zu ermorden, weiterverfolgten, sowohl logistisch durch Beschaffen von Informationen und Herstellen von Kontakten als auch psychisch unterstützten, wobei sie die „Gruppenmoral“ durch die (implizierte) Zusicherung der Verschleierung und Bestreitung untereinander bestehender Kontakte und der Wahrnehmungen zur Anwesenheit eines weiteren Mitglieds der Vereinigung, Abid T*****, gegenüber den Ermittlungsbehörden stärkten, Youcef B***** zudem dem Adel H***** seine Facebook-Freundesliste zugänglich machte und ihm seine SIM-Karte mit weiteren Kontaktdaten zwecks deren Übertragung auf das Mobiltelefon des Abid T***** überließ, und Kamal A***** diese SIM-Karte nach dem Kopiervorgang übernahm und zu verbergen versuchte sowie – von einem Kontaktmann über Western Union überwiesene – finanzielle Mittel für die Weiterreise des Adel H***** übernahm;

2) sich durch die unter I/1 beschriebenen Taten an einer auf längere Zeit angelegten unternehmensähnlichen Verbindung einer größeren Zahl von Personen, die auf die wiederkehrende und geplante Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen, die das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder das Vermögen bedrohen, oder schwerwiegender strafbarer Handlungen im Bereich der sexuellen Ausbeutung von Menschen und des unerlaubten Verkehrs mit Kampfmitteln ausgerichtet ist, und dadurch eine Bereicherung im großen Umfang anstrebt, Dritte einschüchtert und sich auf besondere Weise gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abzuschirmen sucht, im Wissen als Mitglied (§ 278 Abs 3 StGB) beteiligt, dadurch diese Vereinigung und deren terroristische Straftaten nach § 278c Abs 1 StGB zur Erreichung dieses Ziels zu fördern.

Unmittelbar nach Verkündung des Urteils meldeten beide Angeklagte dagegen Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an (ON 528 S 6).

Die schriftliche Urteilsausfertigung wurde ihren gemäß § 61 Abs 2 StPO bestellten Verteidigern jeweils am 14. Juni 2017 im elektronischen Rechtsverkehr, eine Übersetzung des Urteils in die arabische Sprache dem Angeklagten Kamal A***** am 24. Juli 2017 persönlich zugestellt (vgl die Zustellnachweise, angeschlossen zu ON 529 sowie ON 549).

Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2017 gab Rechtsanwalt Dr. Wolfgang B***** bekannt, von Kamal A***** mit dessen weiterer Vertretung beauftragt worden zu sein und ersuchte gleichzeitig, Zustellungen und Ladungen künftig zu seinen Handen vorzunehmen (ON 534), wovon das Erstgericht den bisherigen Verfahrenshilfeverteidiger mit Verfügung vom 26. Juni 2017 verständigte (ON 1 S 152).

Da eine Ausführung der angemeldeten Nichtigkeitsbeschwerde dieses Angeklagten innerhalb der gemäß § 285 Abs 1 StPO offenstehenden Frist von vier Wochen, somit bis 12. Juli 2017, nicht überreicht wurde und Nichtigkeitsgründe auch anlässlich deren Anmeldung nicht deutlich und bestimmt bezeichnet worden waren, wies der Vorsitzende des Schöffengerichts die angemeldete Nichtigkeitsbeschwerde mit – unbekämpft gebliebenem – Beschluss vom 24. August 2017 gemäß § 285a Z 2 StPO zurück (ON 557).

Am 7. September 2017 stellte der Wahlverteidiger einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung und führte diese Rechtsmittel gleichzeitig aus (ON 559).

Dazu bringt er im Wesentlichen vor, er habe am 12. Juni 2017 in der zuständigen Geschäftsabteilung des Landesgerichts Salzburg die (korrekte) Auskunft erhalten, dass eine schriftliche Urteilsausfertigung noch nicht vorliege. Nach Vollmachtserteilung durch den Angeklagten am 20. Juni 2017 habe er den bisherigen Verfahrenshelfer von diesem Umstand in Kenntnis gesetzt und ihn ausdrücklich lediglich um Übermittlung der Anklageschrift und der Hauptverhandlungsprotokolle ersucht, weil ihm zufolge gleichzeitiger Vertretung eines Mittäters in einem Parallelverfahren der (idente) Ermittlungsakt ohnehin zur Verfügung stand. Diesem Begehren sei am 22. Juli 2017 entsprochen worden.

Kanzleiintern habe der Verteidiger den Akt sodann „vorläufig abgelegt“, auf die Zustellung der schriftlichen Urteilsausfertigung gewartet und für eine diesbezügliche Nachfrage bei Gericht den 1. September 2017 im Kalender vermerkt.

Die Zustellung des oben genannten Beschlusses des Landesgerichts Salzburg vom 24. August 2017 am 28. August 2017, durch die er erstmals Kenntnis von der Fristversäumnis erlangt habe, sei für ihn völlig überraschend gekommen, zumal ihm die seit mündlicher Urteilsverkündung verstrichene Zeit aufgrund des Aktenumfangs „durchaus noch plausibel“ erschienen war.

Rechtliche Beurteilung

Zum Wiedereinsetzungsantrag:

Nach § 364 Abs 1 Z 1 StPO ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einem Angeklagten– neben anderen, hier nicht aktuellen Fällen – gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung eines Rechtsmittels zu bewilligen, sofern er nachweist, dass ihm die Einhaltung der Frist durch unvorhersehbare oder unabwendbare Ereignisse unmöglich war, es sei denn, dass ihm oder seinem Vertreter ein Versehen nicht bloß minderen Grades zur Last liegt. Damit hat der Wiedereinsetzungswerber nicht nur für sein eigenes Verschulden, sondern auch für das seines Rechtsvertreters einzustehen, der einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab unterliegt (RIS‑Justiz RS0101272). Bei allen eigenen Fehlern des Verteidigers in der Handhabung des Fristenwesens ist eine Wiedereinsetzung in der Regel ausgeschlossen (Lewisch, WK‑StPO § 364 Rz 28).

Vorliegend hat es der Verteidiger unterlassen, den tatsächlichen Zeitpunkt der Zustellung der Urteilsausfertigung nach Übernahme der Verteidigung des Angeklagten zu erheben und zu überprüfen, und sich auf die mehr als eine Woche vor Vollmachtslegung erteilte (Negativ-)Auskunft des Gerichts, auf die vom früheren Verfahrenshilfeverteidiger – entsprechend eigenemErsuchen – unvollständig übermittelte Aktenabschrift sowie darauf verlassen, der Verfahrenshilfeverteidiger werde ihn eigeninitiativ von einer allenfalls zwischenzeitig erfolgten Urteilszustellung verständigen.

In dieser anwaltlichen Fehlleistung kann angesichts der besonderen Bedeutung betroffener Rechtsmittelinteressen und der daraus resultierenden erhöhten Sorgfaltspflicht beruflicher Parteienvertreter – gemessen am Standard eines gewissenhaften und umsichtigen Rechtsanwalts (vgl Lewisch, WK‑StPO § 364 Rz 25) – kein Versehen bloß minderen Grades erblickt werden. Die Wiedereinsetzung war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zu verwehren.

Mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde war der Angeklagte Kamal A***** auf den in Rechtskraft erwachsenen Zurückweisungsbeschluss des Erstgerichts vom 24. August 2017, GZ 39 Hv 59/16t‑557, zu verweisen.

Bleibt anzumerken, dass die – ausschließlich auf § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO gestützte – Nichtigkeitsbeschwerde bei Rechtzeitigkeit der Ausführung vom Obersten Gerichtshof zurückzuweisen gewesen wäre, weil dem Urteil die geltend gemachten Rechtsfehler nicht anhaften.

 

Zur Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten Youcef B***** :

Der inhaltlich nur gegen den Schuldspruch I/1 gerichteten, nominell aus § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde kommt keine Berechtigung zu.

Die gesetzmäßige Ausführung eines materiell-rechtlichen Nichtigkeitsgrundes hat das Festhalten am gesamten im Urteil festgestellten Sachverhalt, dessen Vergleich mit dem darauf anzuwendenden Gesetz und die Behauptung zur Voraussetzung, dass das Erstgericht bei Beurteilung dieses Sachverhalts einem Rechtsirrtum unterlegen ist (RIS‑Justiz RS0099810).

Diesen Anfechtungsrahmen verlässt die Beschwerde (nominell Z 9 lit a, im Hinblick auf die tateinheitliche Verwirklichung des Verbrechens der kriminellen Organisation nach § 278a StGB [I/2] der Sache nach Z 10), indem sie den Sachverhaltsannahmen der Tatrichter zur objektiven und subjektiven Tatseite (US 9 ff)– zudem nur hinsichtlich einer einzelnen der konstatierten (im Rahmen einer tatbestandlichen Handlungseinheit begangenen; vgl RIS‑Justiz RS0127374; zu § 278b StGB: 14 Os 112/16a mwN) Beteiligungshandlungen (vgl auch US 12) – urteilsfremde Behauptungen zur Intention des Beschwerdeführers bei Übergabe seiner Geldbörse samt der darin befindlichen SIM‑Karte mit Kontaktdaten an Adel H***** entgegenstellt (vgl dazu auch US 22), weiters auf (vom Schöffengericht als unglaubwürdig eingestufte; US 25) Aussagen des Letztgenannten und des Zeugen Muhammad U***** verweist, nach denen Youcef B***** nicht mit dem „Islamischen Staat“ sympathisiere, und auf dieser Basis die Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens bestreitet.

Bei ihrer Kritik an den Feststellungen zur subjektiven Tatseite zufolge substanzlosen Gebrauchs der verba legalia bezieht sich die Rüge auf eine einzelne Urteilspassage und übergeht solcherart sowohl die entsprechenden (hinreichend deutlichen) Urteilsannahmen zum Wissen und Wollen des Beschwerdeführers (US 11 f, vgl auch US 24 f, 2), als auch den vom Erstgericht– insbesondere durch den Verweis auf dessen in objektiver Hinsicht detailliert dargestellten (oben wiedergegebenen) Beteiligungshandlungen (US 12 iVm US 9 ff, 24 f, 27) – hergestellten Sachverhaltsbezug (RIS‑Justiz RS0119090; vgl zur Beteiligung auf andere Weise iSd § 278b iVm § 278 Abs 3 dritter Fall StGB Plöchl in WK² StGB § 278b Rz 11 iVm § 278 Rz 39; s auch RS0129800), womit sie erneut den Bezugspunkt materieller Nichtigkeit verfehlt (RIS‑Justiz RS0099810).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).

Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen (§ 285i StPO).

Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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