Spruch:
In der Strafsache gegen Boris M***** wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB, AZ 17 U 160/13p des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien, verletzen
1. die Durchführung der Hauptverhandlung und die Fällung des Urteils am 8. August 2013 in Abwesenheit des Angeklagten § 32 Abs 1 iVm § 46a Abs 2 JGG;
2. die in der Hauptverhandlung vom 8. August 2013 vorgenommene Verlesung der Anzeige vom 1. September 2012, in der die Aussage der Zeugin Slavica J***** festgehalten wurde, und des Protokolls über die Vernehmung des Zeugen Ibrahim A***** § 252 Abs 1 iVm § 458 zweiter Satz StPO und §§ 31, 46a Abs 2 JGG;
3. das Urteil vom 8. August 2013 § 37 Abs 1 StGB.
Dieses Urteil wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innere Stadt Wien verwiesen.
Text
Gründe:
Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 8. August 2013, GZ 17 U 160/13p‑13, wurde der am 9. Juli 1993 geborene Boris M***** wegen des zwischen 10. und 31. August 2012 begangenen Vergehens der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs 1 StGB zu einer für eine dreijährige Probezeit bedingt nachgesehenen viermonatigen Freiheitsstrafe verurteilt.
Die Durchführung der Hauptverhandlung und die Fällung des Urteils erfolgten in Abwesenheit des Angeklagten, der damals das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.
In der Hauptverhandlung waren ‑ ohne Bezugnahme auf eine Gesetzesstelle ‑ die Anzeige vom 1. September 2012, die eine protokollierte Sachverhaltsdarstellung des Opfers Slavica J***** enthält (richtig: ON 3 S 5 f), sowie die Protokolle über die Vernehmung des Zeugen Ibrahim A***** (ON 2 S 16) und des Angeklagten (ON 2 S 13) verlesen worden (ON 11 S 3).
In der schriftlichen Urteilsausfertigung führte der Bezirksrichter ‑ soweit hier wesentlich ‑ aus, „besondere Gründe zur Anwendung des § 37 StGB“ lägen nicht vor (ON 13 S 5).
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, stehen die beschriebene Vorgangsweise des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien sowie das Urteil vom 8. August 2013 (ON 13) mit dem Gesetz nicht im Einklang:
1. Gemäß § 32 Abs 1 erster Satz JGG iVm § 46a Abs 2 JGG sind die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren bei jungen Erwachsenen, sofern diese im Zeitpunkt der Verfahrenshandlung das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht anzuwenden. Diese Vorschriften hat das Bezirksgericht Innere Stadt Wien bei Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils missachtet (RIS‑Justiz RS0121343).
2. Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, dürfen in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen verlesen oder vorgeführt werden. Während eine Verlesungsermächtigung im Sinn der Z 1 bis 3 dieser Bestimmung hier überhaupt nicht in Rede stand, ist aus dem Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung dessen Einverständnis mit einer diesbezüglichen Verlesung oder Vorführung im Sinn der Z 4 nicht abzuleiten (vgl RIS‑Justiz RS0117012; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 234; Bauer/Jerabek, WK-StPO § 427 Rz 13; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103).
Demnach entsprach die Verlesung der Anzeige, in der die Aussage der Zeugin Slavica J***** festgehalten wurde, und des Protokolls über die Vernehmung des Zeugen Ibrahim A***** nicht dem Gesetz (§ 252 Abs 1 iVm § 458 zweiter Satz StPO; §§ 31, 46a Abs 2 JGG).
3. Nach § 37 StGB ist die Verhängung von Geldstrafen anstelle von Freiheitsstrafen ‑ abhängig von der jeweils angedrohten Höchststrafe ‑ an verschiedene Voraussetzungen geknüpft.
Ist für eine Tat ‑ wie hier ‑ keine strengere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren (sei es auch in Verbindung mit einer Geldstrafe) angedroht, so ist statt auf eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Monaten gleichwohl auf eine Geldstrafe von nicht mehr als 360 Tagessätzen zu erkennen, wenn es nicht der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe bedarf, um den Täter von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten oder der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken.
Indem das Bezirksgericht demgegenüber ‑ bei einer Strafdrohung von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe (§ 229 Abs 1 StGB) ‑ die Verhängung einer Geldstrafe anstelle der ausgesprochenen viermonatigen Freiheitsstrafe aufgrund des Fehlens „besonderer Gründe“ hiefür als ausgeschlossen angesehen hat (US 3), hat es den in § 37 Abs 1 StGB verankerten Grundsatz der Priorität der Geldstrafe (Ultima-ratio- oder Erforderlichkeitsklausel, vgl Flora in WK² StGB § 37 Rz 3; Fabrizy, StGB11 § 37 Rz 2) missachtet und damit das Gesetz in dieser Bestimmung verletzt (vgl auch 13 Os 97/05x, 13 Os 32/79; zur dadurch bewirkten Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 11 dritter Fall StPO: Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 677 f; Fabrizy, StPO11 § 281 Rz 77b).
Eine für den Verurteilten nachteilige Wirkung der aufgezeigten Gesetzesverletzungen war nicht auszuschließen, weshalb sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah (§ 292 letzter Satz StPO), deren Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen.
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