European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1996:E41752
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Der Nichtigkeitsbeschwerde wird Folge gegeben, das angefochtene Urteil, das im übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch des Rainer L* wegen des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83, 84 Abs 1 und Abs 2 Z 1 StGB (I/1) und wegen des Verbrechens der Körperverletzung mit tödlichem Ausgang nach §§ 83 Abs 1, 86 StGB (I/2) und demgemäß auch im Strafausspruch einschließlich des Ausspruches über die Vorhaftanrechnung aufgehoben und die Strafsache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung im Umfang der Aufhebung an das Erstgericht verwiesen.
Gründe
Mit dem angefochtenen Urteil, das ua (zu II) auch einen in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch des Mitangeklagten Markus M* wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB enthält, wurde Rainer L* des Vergehens der schweren Körperverletzung nach §§ 83, 84 Abs 1 und Abs 2 Z 1 StGB (I/1), des Verbrechens der Körperverletzung mit tödlichem Ausgang nach §§ 83 Abs 1, 86 StGB (I/2) und des Vergehens nach § 36 Abs 1 Z 1 WaffG schuldig erkannt.
Darnach hat er (zu I) am 6. Dezember 1994 in W*
1. Johann W* durch einen aus einer Entfernung von wenigen Metern aus einem Revolver der Marke Colt King Kobra, Kaliber 357 Magnum, abgegebenen Schuß vorsätzlich am Körper verletzt, wobei die Tat einen Bauchdurchschuß, sohin eine an sich schwere Verletzung, verbunden mit einer länger als 24 Tage dauernden Gesundheitsstörung, zur Folge hatte und mit einem solchen Mittel und auf solche Weise begangen wurde, womit in der Regel Lebensgefahr verbunden ist;
2. Hans Joachim W* durch mindestens zwei weitere Schüsse aus einer Entfernung von wenigen Metern am Körper verletzt, wobei die Tat den Tod des Genannten zur Folge hatte und
3. die angeführte Faustfeuerwaffe unbefugt besessen und geführt.
Rechtliche Beurteilung
Der Angeklagte L* bekämpft den Schuldspruch (nur) in Ansehung der Urteilsfakten I/1 und I/2 mit einer auf die Gründe der Z 5, 9 lit b und 10 des § 281 Abs 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde, der Berechtigung nicht abgesprochen werden kann.
Ausgehend davon, daß das Schöffengericht das Bestehen einer Notwehrsituation verneint und damit die Verantwortung des Angeklagten, in Notwehr gehandelt zu haben, verworfen hat, macht der Beschwerdeführer in beiden Fällen Rechtsirrtum, Feststellungsmängel (Z 9 lit b) sowie Begründungsmängel (Z 5) geltend und strebt zum Faktum I/2 unter Relevierung eines Subsumtionsirrtums (Z 10) hilfsweise eine Beurteilung als fahrlässige Tötung nach § 80 StGB an.
Voranzustellen ist, daß die Rechtsansicht des Erstgerichtes, wonach eine Notwehrhandlung immer nur das letzte Mittel der Verteidigung sein dürfe, nicht der herrschenden Judikatur entspricht. Keinesfalls ist nämlich der Angegriffene verhalten, immer dann, wenn ihm andere Möglichkeiten als der Eingriff in die körperliche Sicherheit des Angreifers offenstehen und zumutbar sind, grundsätzlich zunächst diese auszuschöpfen und deshalb auch tunlichst eine Konfrontation mit dem Angreifer zu vermeiden.
Vielmehr hat der Angegriffene in einer Notwehrsituation das Recht, den Angriff verläßlich, das heißt sofort und endgültig, abzuwehren und ist, von extremen Ausnahmesituationen abgesehen, wie etwa bei Angriffen von Strafunmündigen (Kienapfel AT5 Z 11 RN 19 f, Leukauf/Steininger Komm3 § 3 RN 86 ff) oder in Fällen schuldhafter Provokation (Trifterer AT2 221), nicht verpflichtet, dem Angriff auszuweichen.
Unter mehreren verfügbaren Abwehrmitteln hat der Verteidiger allerdings das für den Angreifer schonendste zu wählen, muß sich aber mit Abwehrhandlungen, deren Wirkung zweifelhaft ist, nicht begnügen (Kienapfel, aaO RN 13 ff, Leukauf/Steininger aaO § 3 RN 81 ff). Die Frage, ob sich der Angegriffene nur dieser notwendigen Verteidigung bedient hat, ist objektiv und ex ante zu beurteilen (Leukauf/Steininger aaO RN 85). Wird das Maß des zur Abwehr darnach Notwendigen überschritten, dann haftet der Täter, sofern der Notwehrexzeß lediglich aus Bestürzung, Furcht oder Schrecken (= sog asthenischem Affekt) geschah, wegen des entsprechenden Fahrlässigkeitsdeliktes (§ 3 Abs 2 StGB), und zwar auch dann, wenn er über das Vorliegen der Notwehrsituation selbst irrte (Putativnotwehrexzeß).
Nach ständiger, von einem Teil der Lehre nicht unbestrittener Rechtsprechung hat derjenige, der den Angriff absichtlich, das heißt mutwillig und ausschließlich um der Gelegenheit zur Abwehr willen, provozierte, das Notwehrrecht in der Regel verwirkt. Wer dagegen den Angriff zwar nicht absichtlich, wohl aber sonst (vorsätzlich oder fahrlässig) herausforderte, hat sich mit den begrenzten Mitteln gefahrloser Abwehr, in erster Linie daher mit dem Ausweichen vor dem Angreifer zu begnügen; Notwehr als letztes Mittel und damit die Beurteilung der Tat als Notwehr, Putativnotwehr und allenfalls als Notwehrexzeß ist grundsätzlich nicht ausgeschlossen, doch sind an die Erforderlichkeit maßvoller Verteidigung strengere Anforderungen zu stellen, als bei der Abwehr eines unprovozierten Angriffes (Leukauf/Steininger aaO RN 86 und 87 a und die dort zitierten Entscheidungen; Kienapfel aaO RN 21 mit Literatur‑ und Judikaturhinweisen; Trifterer aaO).
Im vorliegenden Fall vermögen die Urteilsfeststellungen weder zur objektiven noch zur subjektiven Tatseite die Annahme einer Absichtsprovokation zu tragen.
Nach dem Urteilssachverhalt hatten L* und M* beschlossen, Johannes W* aufzusuchen und ihn (wegen eines vorangegangenen Vorfalls) „zur Rede (zu) stellen“. L* bewaffnete sich mit einem geladenen Revolver, weil er „damit rechnete, daß es mit W* zu einer gewaltsamen Konfrontation kommen wird, bei der er nicht den kürzeren zielen wollte. Sein Vorsatz war somit schon darauf gerichtet, die Waffe auch zu verwenden und allenfalls gegen W* einzusetzen“ (US 7).
Diese Konstatierungen lassen nun zwar darauf schließen, daß der Beschwerdeführer sich gegen einen möglichen, eventuell sogar erwarteten Angriff W* zur Wehr setzen wollte, doch steht die zur Vorbereitung künftiger Verteidigung erfolgende Bewaffnung an sich weder der Annahme einer späteren Notwehr entgegen (vgl Fuchs AT I 149), noch bedeutet sie eine den Notwehrexzeß einleitende Fahrlässigkeit (JBl 1982, 101), zumal dann, wenn nicht sie es ist, die den Angriff des Gegners motivierte (JBl 1990, 390). Daß der Angeklagte, der, ohne das Grundstück W* zu betreten, nur die Klingel am Gartentor betätigte und Johannes W* zu sprechen verlangte (US 7, 8), dies in der vorgefaßten Absicht tat, eine Notwehrlage zu manipulieren, einen rechtswidrigen Angriff also bewußt herausfordern wollte, um dann Notwehr üben zu können, kann demnach diesen Feststellungen nicht entnommen werden. Eine solche Absicht kann aber, der Auffassung der Generalprokuratur zuwider, auch aus der im Rahmen der Beweiswürdigung getroffenen Annahme, L* habe „geradezu die gewaltsame Konfrontation des Johannes W* gesucht“ (US 12), nicht abgeleitet werden. Damit haben die Tatrichter lediglich die Verantwortung des Erstangeklagten, die Waffe aus Angst mitgenommen zu haben, als unglaubwürdig abgelehnt, die Provokation aber nicht darin bzw im Vorhaben, Johannes W* „zur Rede zu stellen“ (und auch nicht in der Bewaffnung des Beschwerdeführers), sondern in dessen „Weigerung, sich vom Haus zu entfernen“, erblickt (US 14). Daß die vorgenannte Urteilsannahme nicht als mutwillige und nur um der Abwehr willen erfolgte Herausforderung eines Angriffes gedeutet werden kann, ergibt sich im übrigen auch daraus, daß das Schöffengericht der Provokation zwar abwehrmindernde, nicht aber das Notwehrrecht ausschließende Wirkung beigemessen hat.
Liegt aber keine Absichtsprovokation vor, so kann die Frage, ob das Verhalten des Angeklagten als notwehreinschränkende Provokation anzusehen ist, zunächst dahingestellt bleiben. Vorab ist nämlich, wie dem Beschwerdeführer zuzugeben ist, zu prüfen, ob er sich überhaupt in einer Notwehrsituation befunden hat. Diese wird durch einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden, rechtswidrigen Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut begründet (§ 3 Abs 1 StGB) und muß tatsächlich gegeben sein; handelt der Täter in der irrigen Annahme einer Notwehrlage, ist sein Verhalten nach den Regeln über die irrtümliche Annahme eines rechtfertigenden Sachverhaltes nach § 8 StGB (Putativnotwehr) zu beurteilen.
Die hiefür maßgebenden Kriterien außer acht lassend, hat das Erstgericht, das eine Notwehrsituation verneinte und sich mit der Frage einer allfälligen Putativnotwehr nicht auseinandersetzte, ausreichende Konstatierungen nicht nur zur behaupteten Notwehrlage, sondern, insoweit allerdings folgerichtig, auch zum Maß der notwendigen Verteidigung unterlassen.
Zum Urteilsfaktum I/1 stellte das Schöffengericht fest, daß Johannes W* mit einem Samuraischwert (mit einer 80 cm langen hölzernen Scheide) in der Hand aus dem Haus rannte, über den Zaun auf den Gehweg sprang und L*, der vom ca 2,5 m breiten Gehsteig über den daran anschließenden, ca 3 m breiten Grünstreifen in Richtung Fahrbahn zurückgewichen war, folgte. Dort gab der Beschwerdeführer auf den nur wenige Meter entfernten W*, ohne diesen vorher aufzufordern, stehen zu bleiben oder einen Warnschuß abzugeben, drei Schüsse ab, von denen der letzte W* in den Bauch traf. In subjektiver Hinsicht gingen die Tatrichter davon aus, daß L* W* daran hindern wollte, ihm zu folgen und ihn vom Haus zu vertreiben (US 8, 9 und 12).
Nähere Feststellungen über die Bewaffnung des Angreifers sowie über Art, Intensität und Verlauf des Angriffs enthält das angefochtene Urteil trotz hiezu vorliegender Verfahrensergebnisse nicht, sodaß sich auf der Basis des Urteilssachverhaltes weder entscheiden läßt, ob der (nach der Aktenlage jedenfalls rechtswidrige) Angriff des Johannes W* bereits eine so enge zeitliche und räumliche Nähe aufwies, daß eine konkrete Gefährdung des Beschwerdeführers unmittelbar bevorstand, noch, ob dies, und damit die Annahme einer Notwehrsituation, auszuschließen ist.
Der darin gelegene, von der Beschwerde zutreffend aufgezeigte Feststellungsmangel (Z 9 lit b) erzwingt die Aufhebung des angeführten Schuldspruches und die Anordnung der Verfahrenserneuerung (§ 285 e StPO), ohne daß es noch einer Befassung mit den weiters hiezu erhobenen Beschwerdeeinwendungen bedurfte.
Gleiches gilt für den zum Urteilsfaktum I/2 ergangenen Schuldspruch. Das Erstgericht hat auch hier eine Notwehrlage des Beschwerdeführers verneint und festgestellt, daß L* nach der Verletzung des Johannes W* quer über die Fahrbahn davonlief und ihm Hans Joachim W* mit dem Schwert in der Hand laut schimpfend folgte. Als dies L* – nach ca 20 m – merkte, lief er zunächst weiter, wandte sich nach ca 40 m um und schoß aus einer Distanz von wenigen Metern mindestens zweimal auf Hans Joachim W*, ohne diesen vorher zum Stehenbleiben aufgefordert oder einen Warnschuß abgegeben zu haben, und fügte ihm hiedurch tödliche Verletzungen zu (US 9).
Auch hier reichen die Konstatierungen des Schöffengerichtes aus den nämlichen Gründen wie zum Faktum I/1 nicht hin, um über das Vorliegen einer Notwehrsituation, die nach den gegebenen Umständen jedenfalls indiziert war, verläßlich entscheiden zu können. Es war daher der Nichtigkeitsbeschwerde (Z 9 lit b) auch insoweit Folge zu geben und der Schuldspruch zu I/2 zu kassieren (§ 285 e StPO).
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