European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0140OS00125.15M.1215.000
Spruch:
In Stattgebung des Antrags der Generalprokuratur wird im
außerordentlichen Weg die
Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens verfügt, das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 5. August 2015, AZ 7 Bs 113/15i, aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 6. März 2015, GZ 12 Hv 3/15p‑21, an das Oberlandesgericht Linz verwiesen.
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 6. März 2015, GZ 12 Hv 3/15p‑21, wurde Ayndy D***** ‑ soweit hier wesentlich ‑ der Vergehen des Diebstahls nach den §§ 15, 127 StGB (A) sowie des Besitzes einer falschen besonders geschützten Urkunde nach § 224a StGB (B) schuldig erkannt und zu einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Mit einem zugleich gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und 4 StPO gefassten Beschluss wurde nach § 53 Abs 1 StGB eine dem Angeklagten zum AZ 27 U 479/09a des Bezirksgerichts Salzburg gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen und nach § 53 Abs 2 StGB vom Widerruf weiterer bedingter Strafnachsichten abgesehen (ON 21 S 3).
Rechtliche Beurteilung
Gegen dieses Urteil meldete der Angeklagte mit Schriftsatz vom 9. März 2015 „volle“ Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe an (ON 23), die in weiterer Folge unausgeführt blieb.
Die Ladung zur Berufungsverhandlung am 5. August 2015 wurde dem Angeklagten ‑ laut im Akt erliegender Hinterlegungsmitteilung ‑ nach erfolglosem Versuch persönlicher Zustellung am 15. Juli 2015 an seiner aktenkundigen Wohnadresse in S***** durch Hinterlegung zugestellt (ON 27 S 5).
Die Sendung wurde am 3. August 2015 unbehoben an das Berufungsgericht retourniert (ON 27 S 7).
Zum Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung erschien Ayndy D***** nicht. Eine Prozesserklärung betreffend einen allfälligen Verzicht auf seine Teilnahme durch seinen anwesenden Verteidiger ist dem Akteninhalt nicht zu entnehmen (ON 27).
Ausgehend von der Richtigkeit der aktenkundigen Zustelladresse und der Wirksamkeit der Zustellung der Ladung durch Hinterlegung führte das Oberlandesgericht die Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch. Mit Urteil vom 5. August 2015, AZ 7 Bs 114/15i (ON 28 der Hv‑Akten) hob es das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt blieb, „in amtswegiger Wahrnehmung des Nichtigkeitsgrundes des § 281 Abs 1 Z 10 StPO“ im Schuldspruch B, demgemäß auch im Strafausspruch sowie den gleichzeitig gefassten Beschluss auf Widerruf einer bedingten Strafnachsicht und Absehen von Widerruf weiterer bedingter Strafnachsichten auf, erkannte Ayndy D***** wegen des ihm zum aufgehobenen Schuldspruch vorgeworfenen Täterverhaltens des Vergehens der Urkundenfälschung nach § 223 Abs 2 StGB schuldig und verurteilte ihn hiefür sowie für die ihm nach dem unberührt gebliebenen Teil des Schuldspruchs
zur Last liegende strafbare Handlung unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB nach § 223 Abs 2 StGB (erneut) zu einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe. Der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der zu AZ 27 U 367/09f und AZ 27 U 479/09a des Bezirksgerichts Salzburg gewährten bedingten Strafnachsichten wurde unter einem abgewiesen, vom Widerruf der zu AZ 8 Hv 54/08t des Landesgerichts für Strafsachen Graz gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen (ON 27 S 3 f und ON 28).
Erst in einem an das Oberlandesgericht Linz gerichteten Schreiben vom 23. September 2015 behauptete der Verurteilte anlässlich seines Ersuchens um Haftunterbrechung, sich seit 9. März 2015 durchgehend in Haft zu befinden und daher weder eine Ladung zur Berufungsverhandlung am 15. August 2015 erhalten zu haben, noch sonst in Kenntnis von diesem Termin gesetzt worden zu sein (ON 34 S 3 f).
Nach einem ‑ durch Erhebungen des Landesgerichts Ried im Innkreis verifizierten ‑ Auszug aus dem VJ-Register verbüßt Ayndy D***** seit 9. März 2015 eine mit Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 19. März 2014, AZ 64 Hv 41/13z, über ihn verhängte Freiheitsstrafe in der Dauer von 20 Monaten (ON 30, 31, 36).
Bei der Prüfung der Akten ergeben sich - wie die Generalprokuratur in ihrem gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO gestellten Antrag zutreffend aufzeigt ‑ erhebliche Bedenken (§ 362 Abs 1 Z 2 StPO) gegen die Richtigkeit der dem Beschluss auf Durchführung der Berufungsverhandlung und dem Urteil des Oberlandesgerichts Linz zu Grunde gelegten Annahme, dem Angeklagten sei die Ladung zur Berufungsverhandlung (wirksam) durch
Hinterlegung zugestellt worden und die Voraussetzungen für eine Verhandlung und Urteilsfällung in dessen Abwesenheit seien gegeben gewesen.
Vielmehr indizieren die oben bezeichneten (nachträglich zum Akt gekommenen) Urkunden sowie die Erhebungen des Landesgerichts Ried im Innkreis, dass sich der Angeklagte seit dem 9. März 2015 durchgehend, sohin sowohl zum Zeitpunkt der Hinterlegung der Ladung als auch am Tag der Berufungsverhandlung ‑ zu einem anderen Verfahren ‑ in Haft befand.
Gemäß § 489 Abs 1 StPO iVm § 471 StPO gelten für die Anberaumung und Durchführung des Gerichtstags zur öffentlichen Verhandlung über Berufungen gegen Urteile des Einzelrichters des Landesgerichts ‑ soweit hier von Relevanz ‑ §§ 286 Abs 1, 294 StPO sinngemäß, für den Angeklagten daher unabhängig vom Gegenstand der Berufung stets § 294 Abs 5 zweiter Satz, nicht § 286 Abs 2 StPO.
Demzufolge ist ein nicht verhafteter Angeklagter (zusätzlich zu seinem Verteidiger) jedenfalls an einer regelmäßig genutzten Abgabestelle (vgl dazu RIS‑Justiz RS0083950, RS0083895) zu laden. Ein verhafteter Angeklagter ist ohne den in § 286 Abs 2 StPO genannten Beisatz vom Gerichtstag in Kenntnis zu setzen und seine Vorführung zu veranlassen, es sei denn, dieser hätte durch seinen Verteidiger ausdrücklich darauf verzichtet (vgl auch RIS‑Justiz RS0124107). Eine Verhandlung in Abwesenheit des verhafteten Angeklagten ist im Berufungsverfahren nur in diesem Fall zulässig, in Abwesenheit des auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten nur dann, wenn dieser trotz wirksamer Zustellung der Ladung unentschuldigt fernbleibt (§ 286 Abs 1 letzter Satz StPO) oder am Erscheinen gehindert war und durch seinen Verteidiger ausdrücklich auf die Teilnahme am Gerichtstag verzichtet hat (vgl zum Ganzen
Ratz, WK‑StPO § 294 Rz 14, § 296 Rz 2, § 471 Rz 2).
Keine dieser Voraussetzungen lag nach dem Vorgesagten vor.
Somit ist eine (nicht vom Obersten Gerichtshof getroffene) letztinstanzliche Entscheidung eines Strafgerichts auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv bedenklichen Verfahrensgrundlage ergangen, ohne dass dem betreffenden Gericht ein Rechtsfehler anzulasten wäre. Dies war durch Verfügung der außerordentlichen Wiederaufnahme auf die im Spruch ersichtliche Weise in analoger Anwendung des § 362 Abs 1 Z 2 StPO zu sanieren, (RIS-Justiz RS0117416; RS0117312 [T3]; Ratz , WK-StPO § 362 Rz 4).
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