Spruch:
1. Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluss ersatzlos aufgehoben.
2. Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.
3. Die „Schuldberufung“ wird zurückgewiesen.
4. Mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde und der (gegen den Strafausspruch gerichteten) Berufung wird der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.
Gründe:
Rechtliche Beurteilung
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Mehmet A***** des Verbrechens der vorsätzlichen Gemeingefährdung nach § 176 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
Danach hat er am 10. September 2010 in Brunn am Gebirge dadurch anders als durch eine der in den §§ 169, 171 und 173 StGB mit Strafe bedrohten Handlungen eine Gefahr für Leib oder Leben (§ 89 StGB) einer größeren Zahl von Menschen und für fremdes Eigentum in großem Ausmaß herbeigeführt, dass er „die Gefahr von Massenkarambolagen bewirkte, indem er als Lenker eines Pkw […] in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand sein zunächst in Fahrtrichtung St. Pölten gelenktes Fahrzeug auf der A21 (Außenringautobahn) im Bereich des Straßenkilometers 35,8 wendete, als 'Geisterfahrer' in Richtung der zuvor von ihm verpassten Ausfahrt Brunn am Gebirge auf der Richtungsfahrbahn St. Pölten in Richtung Wien zurückfuhr, wobei er mit einer Geschwindigkeit von ca 70 bis 80 km/h den ersten Fahrstreifen benützte, dadurch andere Fahrzeuglenker zur Durchführung von Notbremsungen und Ausweichmanövern veranlasste und mit dem von Daniel F***** gelenkten Pkw [...] kollidierte“, wobei drei der Insassen dieses Pkw Verletzungen leichten Grades erlitten (US 5).
Unmittelbar nach dessen Verkündung meldete der Angeklagte gegen das Urteil Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an (ON 19 S 41).
Die Verfügung der Vorsitzenden des Schöffengerichts vom 20. Juni 2011, dem Verteidiger eine Abschrift des Hauptverhandlungsprotokolls und eine Urteilsausfertigung zuzustellen, wurde nach dem entsprechenden Kanzleivermerk im Anordnungs- und Bewilligungsbogen am 29. Juni 2011 abgefertigt (ON 1 S 8). Tatsächlich unterblieb die Zustellung der Urteilsausfertigung versehentlich (vgl den ‑ nur das Hauptverhandlungsprotokoll ON 19 betreffenden ‑ Zustellnachweis zu ON 1 S 8 und den AV vom 17. August 2011, ON 1 S 9) und wurde erst am 22. August 2011 nachgeholt (vgl Rückschein zu ON 1 S 10).
Da bis zum 2. August 2011 keine Ausführung der angemeldeten Rechtsmittel bei Gericht einlangte, wies die Vorsitzende des Schöffengerichts die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten gemäß § 285a Z 2 StPO mit der Begründung zurück, dass bei deren Anmeldung keiner der im Gesetz angegebenen Nichtigkeitsgründe deutlich und bestimmt bezeichnet und innerhalb der ‑ durch Zustellung einer Ausfertigung des Urteils am 30. Juni 2011 an den Verteidiger „per ERV“ ausgelösten ‑ Frist des § 285 Abs 1 StPO keine Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde eingebracht worden sei (ON 23).
Der dagegen erhobenen Beschwerde, die nach dem Vorgesagten zutreffend aufzeigt, dass die Frist des § 285 Abs 1 StPO erst durch die Zustellung der Urteilsausfertigung am 22. August 2011 ausgelöst wurde und damit zum Zeitpunkt der Beschlussfassung noch nicht zu laufen begonnen hatte, war daher Folge zu geben und der angefochtene Beschluss ersatzlos zu kassieren.
Aus Anlass der ‑ am 19. September 2011 im elektronischen Rechtsverkehr, somit rechtzeitig eingebrachten ‑ Nichtigkeitsbeschwerde überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass dem Urteil nicht geltend gemachte Nichtigkeit (Z 10) anhaftet, die sich zum Nachteil des Angeklagten auswirkt und daher amtswegig wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO).
Tatbestandsvoraussetzung des § 176 Abs 1 StGB ist (anders als bei der ‑ nach den Urteilsfeststellungen in Frage kommenden ‑ Bestimmung des § 89 StGB) die Herbeiführung einer Gefahr für Leib oder Leben einer größeren Zahl von Menschen (die nach der Rechtsprechung ab einem Richtwert von etwa 10 Personen gegeben ist; Jerabek in WK² § 69 Rz 7; Fabrizy, StGB10 § 176 Rz 3 mwN; RIS‑Justiz RS0066542) oder für fremdes Eigentum in großem Ausmaß. Dieses muss einen Wert darstellen, der zumindest die bei den meisten Vermögensdelikten zweite Wertgrenze von aktuell 50.000 Euro annähernd erreicht, wobei zusätzlich eine größere (nicht aber notwendigerweise unbegrenzte) Ausdehnung des Eigentums vorausgesetzt ist (vgl etwa 14 Os 87/99; Fabrizy, StGB10 § 176 Rz 3 mwN).
Die Urteilsannahmen des Schöffengerichts (US 4 f), wonach sich in dem vom Angeklagten durch Umkehren auf der Autobahn A21 und Fahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung geschaffenen Gefahrenbereich fünf Insassen zweier Pkw (der Marken VW Passat und Golf) befanden, beschreiben eine durch die Tathandlung herbeigeführte Gemeingefahr der zuvor beschriebenen (auch im übrigen Urteilsinhalt nicht angesprochenen) Art gerade nicht.
Die Verwendung von dem Tatbestand des § 176 Abs 1 StGB entnommenen Rechtsbegriffen („verba legalia“) bei den Feststellungen zur subjektiven Tatseite, denen zufolge der Angeklagte es „zumindest ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand, durch sein Handeln eine Gefahr für Leib und Leben einer größeren Anzahl von Menschen und für fremdes Eigentum in großem Ausmaß durch das Verursachen von Verkehrsunfällen herbeizuführen“ (US 4), bleibt daher ohne Bezug auf eine konkret vorgestellte (den oben dargestellten Anforderungen entsprechende) Gefahrenlage, damit ohne hinreichenden Sachverhaltsbezug, und ist nicht geeignet, den Schuldspruch wegen des Verbrechens der vorsätzlichen Gemeingefährdung nach § 176 Abs 1 StGB ‑ auch nicht in der rechtlich ohne weiters möglichen (vgl RIS-Justiz RS0089971; Kodek, Der Begriff der Gemeingefahr im österreichischen Strafrecht, ÖJZ 1981, 483 [488 f]; Mayerhofer in WK² § 176 Rz 13; Flora, SbgK § 176 Rz 30) Entwicklungsstufe des Versuchs (§ 15 Abs 1 StGB) ‑ zu tragen (RIS-Justiz RS0119090; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 8).
Da schon der aufgezeigte Rechtsfehler mangels Feststellungen eine Aufhebung des Urteils samt Verweisung der Sache an das Erstgericht zu neuer Verhandlung und Entscheidung bereits in nichtöffentlicher Sitzung erfordert (§§ 285e, 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO), erübrigt sich ein Eingehen auf die Nichtigkeitsbeschwerde, welche sich im Übrigen - unter nomineller Berufung auf § 281 Abs 1 Z 5 erster, zweiter und vierter Fall StPO ‑ ausschließlich gegen die Begründung des festgestellten Umkehrens auf der Autobahn zufolge nicht „mit entsprechender Gewichtung“ erfolgter Berücksichtigung der Verantwortung des Beschwerdeführers und Nichtanwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ wendet, ohne aber Mängel im Sinn des in Anspruch genommenen Nichtigkeitsgrundes aufzuzeigen.
Die gegen kollegialgerichtliche Urteile gesetzlich nicht vorgesehene „Schuldberufung“ war zurückzuweisen.
Mit seiner Nichtigkeitsbeschwerde und der gegen den Strafausspruch gerichteten Berufung war der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung zu verweisen.
Im zweiten Rechtsgang werden bei Nichterweislichkeit tatsächlicher Verwirklichung einer in Rede stehenden Gemeingefahr (vgl ON 3 S 5) ‑ unter Berücksichtigung eines zur Tatzeit in dem hier betroffenen Streckenabschnitt der A21 typischerweise vorherrschenden Verkehrsaufkommens und den Kenntnissen des Angeklagten davon ‑ konkrete Feststellungen dazu zu treffen sein, ob nach seinen Vorstellungen eine nach dem Vorgesagten erforderliche Anzahl von Menschen und Fahrzeugen in den von ihm konkret geschaffenen, im Einzelnen zu konstatierenden räumlichen und zeitlich begrenzten Gefahrenbereich (Umkehren zur Ausfahrt Brunn am Gebirge bis zum nachfolgenden Verschaffen der Unfallfahrzeuge von der Fahrbahn) geraten hätten können und ob sich sein Vorsatz auf die Herbeiführung einer Gefahrenlage für diese bezog.
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