OGH 13Os99/24v

OGH13Os99/24v18.12.2024

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Dezember 2024 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Richteramtsanwärterin Mag. Prieth in der Finanzstrafsache gegen * M* und eine andere Angeklagte wegen des Verbrechens des Abgabenbetrugs nach §§ 33 Abs 1, 39 Abs 2 und 3 lit c FinStrG sowie weiterer strafbarer Handlungen, AZ 126 Hv 3/16h des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen einen Vorgang und den Beschluss dieses Gerichts vom 18. Jänner 2024 (ON 412) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Staatsanwältin Mag. Weber LL.M. und des Verteidigers Rechtsanwalt Mag. Schuster zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0130OS00099.24V.1218.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Finanzstrafsachen

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 126 Hv 3/16h des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzen

das Unterbleiben der Anhörung der Verurteilten * M* und der Einholung einer Strafregisterauskunft vor der Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht § 495 Abs 3 StPO iVm § 195 Abs 1 FinStrG sowie

der Beschluss des genannten Gerichts vom 18. Jänner 2024 (ON 412) § 86 Abs 1 StPO iVm § 53 Abs 2 StGB.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien die neuerliche Entscheidung über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht aufgetragen.

 

Gründe:

[1] Mit in Rechtskraft erwachsenem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 29. Jänner 2019 (ON 259) wurde * M* wegen mehrerer Finanzvergehen und Verbrechen nach dem FinStrG zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie zu einer Geldstrafe von 6.000.000 Euro verurteilt. Gemäß § 26 Abs 1 FinStrG iVm § 43a Abs 1 StGB wurde ein Teil der verhängten Geldstrafe in der Höhe von 2.000.000 Euro unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen. Unter einem erteilte das Landesgericht für Strafsachen Wien * M* gemäß (richtig) § 26 Abs 2 FinStrG – verfehlt in Urteilsform (RIS‑Justiz RS0086112 [T3]) – die Weisung, binnen eines Jahres den verkürzten Betrag von 19.215.951,86 Euro zu entrichten (US 4). Die für den Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe an deren Stelle tretende Ersatzfreiheitsstrafe setzte das Oberlandesgericht mit Urteil vom 9. Juni 2020 (ON 301) in Stattgebung der Berufung der Angeklagten mit vierzehn Monaten fest.

[2] Seit 15. März 2023 verbüßt die Verurteilte die verhängte Freiheitsstrafe in der Justizanstalt Wien-Josefstadt (ON 405).

[3] Mit Note vom 25. April 2023 ersuchte die Vorsitzende des Schöffengerichts die Verurteilte um Bekanntgabe, ob sie der Weisung entsprochen habe (ON 1 S 201). Diese teilte mit Schreiben vom 8. Mai 2023 mit, dass sie aufgrund hoher Schulden bei insgesamt drei Gläubigern Privatkonkurs angemeldet habe, sich derzeit im Abschöpfungsverfahren befinde, im Übrigen ihre Pension seit ihrem Haftantritt ruhe und sie der gerichtlichen Weisung daher nicht nachkommen könne (ON 408).

[4] Mit Beschluss vom 18. Jänner 2024 (ON 412) widerrief die Vorsitzende des Schöffengerichts die bedingte Strafnachsicht, erklärte den unbedingten Teil der Geldstrafe von 4.000.000 Euro für uneinbringlich (vgl auch ON 356) und ordnete den Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe an. Mit Verfügung vom 14. August 2024 widerrief sie die diesbezügliche Strafvollzugsanordnung (ON 431).

Rechtliche Beurteilung

[5] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht das Vorgehen des Gerichts in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[6] Nach § 53 Abs 2 StGB, der zufolge § 26 Abs 1 FinStrG auch im gerichtlichen Finanzstrafverfahren gilt, hat das Gericht die bedingte Strafnachsicht – soweit hier von Interesse – zu widerrufen und die Strafe vollziehen zu lassen, wenn der Rechtsbrecher während des vom Gericht bestimmten Zeitraums eine Weisung trotz förmlicher Mahnung mutwillig nicht befolgt und dies nach den Umständen geboten erscheint, um diesen von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten.

[7] Gemäß § 495 Abs 3 StPO, der zufolge § 195 Abs 1 FinStrG auch im gerichtlichen Finanzstrafverfahren gilt, hat das Gericht vor der Entscheidung über den Widerruf einer bedingten Strafnachsicht den Ankläger, den Verurteilten und (gegebenenfalls) den Bewährungshelfer zu hören sowie eine Strafregisterauskunft einzuholen. Von der Anhörung des Verurteilten (dazu Jerabek/Ropper, WK‑StPO § 495 Rz 4 und 6) kann nur dann abgesehen werden, wenn sich erweist, dass sie ohne unverhältnismäßigen Aufwand nicht durchführbar ist. Ziel des Verfahrens ist die Schaffung einer zur verlässlichen Beurteilung der Widerrufsfrage hinreichenden Tatsachengrundlage (jüngst 13 Os 36/24d, 37/24a; Jerabek/Ropper, WK‑StPO § 495 Rz 4).

[8] Da die Vorsitzende des Schöffengerichts die bedingte Strafnachsicht – trotz Durchführbarkeit – ohne Anhörung der Verurteilten und ohne eine Strafregisterauskunft einzuholen widerrief, verletzte sie § 495 Abs 3 StPO.

[9] Ein Beschluss hat neben Spruch und Rechtsmittelbelehrung eine Begründung zu enthalten (§ 86 Abs 1 erster und vierter Satz StPO).

[10] Entscheidungen (§ 35 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StPO) sind unter anderem dann rechtsfehlerhaft, wenn die Ableitung der Rechtsfolge aus dem vom Entscheidungsträger zugrunde gelegten Sachverhaltssubstrat das Gesetz verletzt (jüngst 13 Os 36/24d, 37/24a; RIS‑Justiz RS0126648).

[11] Indem die Vorsitzende des Schöffengerichts mit Beschluss vom 18. Jänner 2024 (ON 412) die bedingte Strafnachsicht widerrief, ohne in der Entscheidung eine Sachverhaltsgrundlage zur Beurteilung der (oben dargelegten) diesbezüglichen Voraussetzungen zu schaffen, verletzte sie § 86 Abs 1 StPO iVm § 53 Abs 2 StGB.

[12] Da nicht auszuschließen ist, dass sich die aufgezeigten Gesetzesverletzungen zum Nachteil der Verurteilten auswirken, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung auf die im Spruch ersichtliche Weise mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

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