Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
2. den Beschluss
gefasst:
Das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 17. September 2002, AZ 22 Bs 134/02, wird im außerordentlichen Weg aufgehoben und die Wiederaufnahme des Berufungsverfahrens verfügt.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 26. Februar 2002, GZ 043 Hv 15/02t-42, wurde Ladislav K***** des Verbrechens des schweren Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt, wovon gemäß § 43a Abs 3 StGB ein Teil von zehn Monaten für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde. Die Staatsanwaltschaft bekämpfte dieses Urteil mit Berufung wegen des Ausspruches über die Strafe (ON 47). Der Angeklagte erhob Berufung wegen Nichtigkeit und des Ausspruches über die Schuld (ON 49). Das Oberlandesgericht Wien ordnete zur öffentlichen Verhandlung über diese Rechtsmittel einen Gerichtstag für den 17. September 2002 an. Mit einer am 24. Juli 2002 zur Post gegebenen Note ersuchte es das Rechtshilfegericht Bratislava II um Zustellung der Ladung an den laut Mitteilung des Bundesministeriums für Inneres vom 3. Juli 2002 (damals) in Gabcikova 10, Bratislava, aufhältigen (AS 281) Ladislav K*****.
In Abwesenheit des Angeklagten fand am 17. September 2002 die Berufungsverhandlung statt, bei welcher der Verfahrenshilfeverteidiger die Rechtsmittel des Angeklagten vortrug (AS 293). Eine Prozesserklärung betreffend einen allfälligen Verzicht des Angeklagten auf Teilnahme an der Berufungsverhandlung ist dem Protokoll nicht zu entnehmen.
Mit Urteil vom 17. September 2002, AZ 22 Bs 134/02, gab das Oberlandesgericht Wien der Berufung des Angeklagten nicht Folge, eliminierte jedoch in Stattgebung der Berufung der Staatsanwaltschaft den Ausspruch über die Anwendung des § 43a Abs 3 StGB und sprach aus, dass die vom Erstgericht verhängte Freiheitsstrafe von zwölf Monaten "unter Bedachtnahme gemäß §§ 31, 40 StGB auf jedenfalls das Urteil des Bezirksgerichtes Bratislava V vom 24. Februar 2000 (Bezirksgericht Bratislava I vom 6. August 2001) als Zusatzstrafe zu gelten" habe.
In seiner zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt der Generalprokurator Folgendes aus:
Nachträglich stellte sich heraus, dass eine rechtswirksame Ladung des Ladislav K***** zur Berufungsverhandlung nicht erfolgt war, weil das Schriftstück mit der Vorladung dem Genannten - entgegen dem Vermerk im Protokoll über die Berufungsverhandlung (AS 293) - vom Bezirksgericht Bratislava II laut (im Berufungsakt erliegender) Mitteilung vom 26. November 2002 nicht zugestellt werden konnte. Die Durchführung der Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten steht mit dem Gesetz nicht im Einklang. Gemäß §§ 489 Abs 1, 471 Abs 1 und 2 StPO ist der auf freiem Fuß befindliche Angeklagte zum Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung so rechtzeitig vorzuladen, dass ihm wenigstens drei Tage zur Vorbereitung seiner Verteidigung frei bleiben (vgl auch Art 6 Abs 3 lit b MRK). Da dem Angeklagten die Ladung zur Berufungsverhandlung nicht rechtswirksam zugestellt werden konnte, verletzt die Durchführung der Berufungsverhandlung in dessen Abwesenheit den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Mayerhofer StPO4 § 471 E 2a, b; Ratz WK-StPO § 471 Rz 3; zuletzt 12 Os 4/03). Diese Gesetzesverletzung gereicht dem Angeklagten Ladislav K***** zum Nachteil.
Die Generalprokuratur erhebt daher gemäß § 33 Abs 2 StPO die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes.
Rechtliche Beurteilung
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Wird über die Berufung nicht schon in der nichtöffentlichen Sitzung entschieden, so hat der Vorsitzende einen Gerichtstag zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung anzuordnen und dazu jedenfalls den Ankläger, den - nicht verhafteten - Angeklagten und dessen Verteidiger rechtzeitig vorzuladen. Dem Angeklagten müssen mit Rücksicht auf seine Entfernung vom Sitze des Berufungsgerichtes wenigstens drei Tage zur Vorbereitung seiner Verteidigung freibleiben (§§ 489 Abs 1 zweiter Satz, 471 Abs 1 und 2 StPO).
Nach § 79 Abs 3 StPO idF BGBl I 2000/26 kann die - an ihn selbst zu richtende (§ 79 Abs 4 zweiter Satz StPO) - Vorladung des Angeklagten ohne Zustellnachweis erfolgen, weil deren Befolgung weder durch Beugemittel noch durch andere Zwangsmittel durchgesetzt werden kann (§ 79 Abs 1 erster Satz StPO).
Ob der Angeklagte mit der in § 471 Abs 4 StPO vorgesehenen Bemerkung rechtzeitig geladen wurde, ist eine Frage tatsächlicher Natur, die das Berufungsgericht in freier Beweiswürdigung zu entscheiden hat. Ein Berufungsgericht, das auf rechtlich einwandfreie Weise zur tatsächlichen Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte samt Belehrung über die Abwesenheitsfolgen so rechtzeitig zur öffentlichen Verhandlung über die Berufung geladen wurde, dass ihm mit Rücksicht auf seine Entfernung vom Sitze des Berufungsgerichtes wenigstens drei Tage zur Vorbereitung seiner Verteidigung frei blieben und mit Blick auf diese Sachverhaltsgrundlage die prozessleitende Verfügung trifft, trotz Ausbleibens des - nicht verhafteten - Angeklagten "mit Berücksichtigung des in der Berufungsausführung und in der Gegenausführung Vorgebrachten über die Berufung dem Gesetze gemäß zu erkennen", befolgt nur die Vorschrift der §§ 489 Abs 1 zweiter Satz, 471 Abs 4 StPO und verletzt das Gesetz folgerichtig nicht. Gesetzwidrigkeit drückt nämlich eine Relation aus und bedeutet verfehlte Rechtsanwendung auf einen Lebenssachverhalt (Ratz, WK-StPO § 292 Rz 7).
Dass das Oberlandesgericht Wien die Tatfrage rechtzeitiger ordnungsgemäßer Zustellung der Vorladung des Angeklagten in rechtlich zu beanstandender Weise gelöst hätte, also eine just darin gelegene Gesetzesverletzung, macht die Beschwerde nicht geltend (vgl aaO § 281 Rz 40 ff, § 292 Rz 7, 40 f). Sie beruft sich - ganz im Gegenteil - sogar ausdrücklich auf eine erst nachträglich geänderte tatsächliche Beurteilungsgrundlage.
Stellt sich jedoch heraus, dass eine (nicht vom Obersten Gerichtshof selbst getroffene) letztinstanzliche Entscheidung eines Strafgerichtes auf einer in tatsächlicher Hinsicht objektiv falschen Verfahrensgrundlage ergangen ist, ohne dass dem Gericht ein Rechtsfehler anzulasten ist, kommt - wie hier - analoge Anwendung der Bestimmungen über die außerordentliche Wiederaufnahme nach § 362 StPO (durch den Obersten Gerichtshof) in Betracht, sei es auf besonderen Antrag des Generalprokurators, sei es aus Anlass einer von diesem erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (SSt 62/149, 12 Os 4/03, 14 Os 159/02, aaO § 292 Rz 15 ff). Ob dem Rechtsmittelgericht die neuerliche Entscheidung über die Berufung in Stattgebung einer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach § 292 letzter Satz StPO (idS 12 Os 44/88, 13 Os 36/00; beides erwägend: 12 Os 4/03) oder in analoger Anwendung der Bestimmung über die außerordentliche Wiederaufnahme (idS 14 Os 159/02, 13 Os 35, 36/03) aufgetragen wird, betrifft - wie der Vollständigkeit halber angemerkt sei - keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung (§ 8 Abs 1 Z 1 OGHG).
Mit der in Hinsicht auf die Entscheidung über die ergriffenen Berufungen verfügten Wiederaufnahme tritt (erneut) die von §§ 466 Abs 4, 489 Abs 1 StPO mit der Berufungsanmeldung verbundene aufschiebende Wirkung ein (WK-StPO § 362 Rz 7).
Sollte das Oberlandesgericht Wien erneut eine Zusatzstrafe nach § 31 StGB verhängen, wird es in eindeutiger Weise klarzustellen haben, auf welche Urteile es Bedacht nimmt.
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