European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0130OS00136.16Y.0628.000
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Aus ihrem Anlass werden das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch 2, demzufolge auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) und der Beschluss auf Erteilung einer Weisung und Anordnung von Bewährungshilfe aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Steyr verwiesen.
Mit ihren Berufungen gegen den Strafausspruch werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft, Ersterer auch mit seiner Beschwerde, auf diese Entscheidung verwiesen.
Der Berufung des Angeklagten gegen das Adhäsionserkenntnis wird nicht Folge gegeben.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Ibrahim N***** mehrerer Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (1/a und 1/b), des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach §§ 15, „83 Abs 1,“ 84 Abs 4 StGB (1/c) und des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 3 WaffG (2) schuldig erkannt.
Danach hat er in S*****
1) am 26. Juli 2016
a) Namuk V***** dadurch, dass er ihn umstieß und auf ihn einschlug in Form von Abschürfungen am Körper verletzt;
b) Tolga V***** durch einen Faustschlag ins Gesicht, wodurch der Genannte Abschürfungen im Bereich des linken Ohres und der linken Wange erlitt, am Körper verletzt;
c) Tolga V***** (nach kurzfristigem Verlassen des Tatorts, US 6) durch Seitwärtsbewegungen mit einem 37 cm langen Messer mit einer 23 cm langen Klinge vorsätzlich (US 6) eine schwere Körperverletzung zuzufügen versucht, wodurch der Genannte eine Ritzung im Brustbereich erlitt;
2) vom 24. bis zum 26. Juli 2016, wenn auch nur fahrlässig, das unter 1/c bezeichnete Messer besessen, obwohl ihm dies gemäß § 12 WaffG aufgrund des Waffenverbots des Polizeikommandos S***** vom 28. Oktober 2015 verboten war.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen aus Z 5, 10 und 11 des § 281 Abs 1 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt keine Berechtigung zu.
Die aus der verbalen Aggression („Ich bringe Euch um“) und der Attacke mit einem seitwärts geführten Messer erfolgte Ableitung der Feststellungen zu einem auf eine schwere Verletzung bezogenen Vorsatz des Angeklagten (Schuldspruch 1/c; US 12) ist unter dem Aspekt der
Begründungstauglichkeit nicht zu beanstanden (RIS‑Justiz RS0098671). Indem die Mängelrüge eine unzureichende Fundierung der Feststellungen zur subjektiven Tatseite (Z 5 vierter Fall) behauptet, sich dabei aber nicht an der Gesamtheit der Entscheidungsgründe orientiert, ist sie nicht gesetzmäßig ausgeführt (RIS‑Justiz RS0119370).
Dass die im Urteil dargelegten Gründe den Beschwerdeführer
nicht überzeugen, vermag keine Nichtigkeit herzustellen (RIS‑Justiz RS0118317 [T9]).
Soweit er anhand eigener Beweiswerterwägungen für sich günstige Schlüsse ableitet, wendet er sich nach Art einer im schöffengerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) Schuldberufung in unzulässiger Weise gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung (§ 258 Abs 2 StPO). Gleiches gilt für die Kritik der Mängelrüge (Z 5) an der tatrichterlichen Überzeugung von der Glaubwürdigkeit der Angaben von in der Hauptverhandlung vernommenen Zeugen und der Unglaubwürdigkeit der leugnenden Verantwortung des Angeklagten (RIS‑Justiz RS0106588 [T2]).
Die weiters kritisierten Erwägungen des Schöffensenats, wonach sich der Angeklagte zum Schädiger seiner Uhr widersprüchlich verantwortet habe (US 7), scheiden als Anfechtungsbasis der Mängelrüge aus, weil das Erstgericht dem Widerspruch im Rahmen der Beweiswürdigung bloß ergänzende Bedeutung beimisst (US 7; RIS‑Justiz RS0116737, RS0099507).
Die Beurteilung der Überzeugungskraft von Aussagen kann zwar unter dem Gesichtspunkt der Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) mangelhaft erscheinen, wenn sich das Gericht mit gegen die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit sprechenden Beweisergebnissen nicht auseinandergesetzt hat, dies trifft aber auf den von der Beschwerde angeführten Umstand der erst nachträglichen Erwähnung einer in der Hand des Zeugen gehaltenen Schere nicht zu (US 10). Einem Zeugen nur bezüglich eines Teils seiner Angaben Glauben zu schenken, bezüglich anderer Angaben nicht, ist im Übrigen sehr wohl zulässig (RIS‑Justiz RS0098372).
Die eine Unterstellung des zu 1/c festgestellten Tatgeschehens unter § 83 Abs 1 StGB anstrebende Subsumtionsrüge (Z 10) verweist auf die in ständiger Rechtsprechung zur alten Rechtslage ergangenen Judikate (RIS‑Justiz RS0089439) und vertritt die Auffassung, Versuch einer schweren Körperverletzung sei nicht denkbar, weil auch die Neufassung des § 84 Abs 4 StGB den entsprechenden Erfolgseintritt voraussetze.
Dieser Argumentation kann sich der Oberste Gerichtshof – im Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – nicht anschließen. Das StRÄG 2015 hat das System der Körperverletzungsdelikte grundlegend geändert. Davon, dass Versuch nach dem eindeutigen Wortlaut des § 84 Abs 4 StGB bereits begrifflich ausgeschlossen sei (RIS‑Justiz RS0089439 zur alten Rechtslage), kann zufolge der Neuformulierung des Qualifikationstatbestands keine Rede sein. § 84 Abs 4 StGB stellt, wofür bereits der fehlende Verweis auf § 83 Abs 1 StGB spricht, eine selbständige Qualifikation des (im Urteilsspruch nicht mitzuzitierenden) § 83 Abs 1 StGB dar (vgl auch Burgstaller / Fabrizy in WK 2 StGB § 84 Rz 2, 76; Kienapfel/Schroll , StudB BT I 4 § 84 Rz 3; Messner , ÖJZ 2016, 117; aA Leukauf/Steininger/Nimmervoll , StGB 4 § 84 Rz 3 f unter Hinweis auf die für die Frage der Selbständigkeit nicht entscheidende Wortlautidentität der Ausführungshandlungen). Die Anwendung des § 84 Abs 4 StGB setzt Verletzungsvorsatz und die „wenn auch nur fahrlässige“ Herbeiführung einer der dort genannten schweren Folgen voraus. Damit unterscheidet sich § 84 Abs 4 StGB sprachlich in auffälliger Weise von der früheren Rechtslage.
Die schwere Folge kann im Fall des § 84 Abs 4 StGB fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführt werden. Demgemäß ist im Schrifttum von „zwei Varianten desselben Delikts“ die Rede: § 84 Abs 4 StGB lässt sich bei vorsätzlicher Herbeiführung des schweren Erfolgs als reines Vorsatzdelikt auffassen, bei fahrlässiger Herbeiführung als Vorsatz‑Fahrlässigkeits‑Kombination ( Fuchs AT I 9 28/24). In der Vorsatzvariante kann § 84 Abs 4 StGB dementsprechend nunmehr sehr wohl versucht werden (zur Strafbarkeit des Versuchs der Herbeiführung einer Folge nach § 84 Abs 4 StGB vgl auch Burgstaller / Fabrizy in WK 2 StGB § 84 Rz 76, Fabrizy StGB 12 § 84 Rz 33, Kienapfel/Schroll StudB BT I 4 § 84 Rz 22, Fuchs AT I 9 28/24, Tipold JSt 2015, 407, Birklbauer/Hilf/Tipold BT I 3 § 84 Rz 6; aM dagegen Leukauf/Steininger/Nimmervoll , StGB 4 § 84 Rz 56, der der Gegenseite in Rz 57 aber immerhin gewichtige Argumente zugesteht, und Bertel/Schwaighofer/Venier BT I 13 § 84 Rz 8 mit Verweis auf Judikate zur alten Rechtslage).
Die Anerkennung der Versuchsstrafbarkeit wird auch dem höheren Handlungs‑ und Gesinnungsunwert des vorsätzlich Handelnden gerecht, dessen Tatplan misslingt (ebenso Kienapfel/Schroll StudB BT I 4 § 84 Rz 22).
Die Sanktionsrüge (Z 11 dritter Fall) behauptet, das Erstgericht habe einen klaren Bezug „zwischen der ethnischen und der religiösen Identität des Angeklagten und der über ihn verhängten Strafe hergestellt“. Eine derartige Aussage ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Die vom Beschwerdeführer hervorgehobene Passage betrifft vielmehr einen Aspekt der Generalprävention (vgl US 14).
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen.
Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde überzeugte sich der Oberste Gerichtshof, dass zum Nachteil des Angeklagten das Strafgesetz beim Schuldspruch 2 unrichtig angewendet worden ist (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO):
Anders als beim strafrechtlichen (funktionalen) Waffenbegriff, der nach herrschender Meinung und ständiger Rechtsprechung neben Waffen im technischen Sinn (nach § 1 WaffG) auch solche Gegenstände umfasst, die diesen nach ihrer Anwendbarkeit und Wirkung gleichkommen, ist nach der Legaldefinition des § 1 WaffG für die Qualifikation eines Gegenstandes als Waffe im Sinn des Waffengesetzes nur die objektive Zweckwidmung maßgeblich, die subjektive Zweckwidmung durch den Inhaber des Gegenstandes spielt dabei keine Rolle
(RIS‑Justiz RS0122916). „Waffen“ nach § 1 WaffG sind Gegenstände, die ihrem Wesen nach dazu bestimmt sind, die Angriffs- oder Abwehrfähigkeit von Menschen durch unmittelbare Einwirkung zu beseitigen oder herabzusetzen (Z 1) oder bei der Jagd oder beim Schießsport zur Abgabe von Schüssen verwendet zu werden (Z 2). Diesem technischen Waffenbegriff unterliegen neben allen Schusswaffen insbesondere auch Hieb‑, Stich‑ und Stoßwaffen, wie Säbel, Degen, Stilette, Dolche, Spring‑ und Fallmesser ( Eder‑Rieder in WK 2 StGB § 143 Rz 16). Andere Messer als Spring‑ und Fallmesser, nämlich „gewöhnliche“ Messer mit stumpfem Rücken, wie etwa Hirschfänger, Jagd‑, Brot‑ oder Küchenmesser sind in der Regel nicht als Waffen im technischen Sinn, sondern als Gebrauchsgegenstände anzusehen (RIS‑Justiz RS0082031). Dass das nach den Feststellungen eine Gesamtlänge von 37 cm und eine Klingenlänge von 23 cm aufweisende Messer seinem Wesen nach dazu bestimmt war, die Angriffs‑ oder Abwehrfähigkeit von Menschen durch unmittelbare Einwirkung zu beseitigen oder herabzusetzen, lässt sich dem Urteilssachverhalt (US 6), worauf auch die Generalprokuratur zutreffend hinweist, nicht entnehmen (§ 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO).
Demzufolge waren das angefochtene Urteil im Schuldspruch 2, demgemäß auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung), und der Beschluss auf Erteilung einer Weisung (vgl dazu RIS‑Justiz RS0101841) und auf Anordnung von Bewährungshilfe aufzuheben.
Mit ihren Berufungen wegen des Ausspruchs über die Strafe waren der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft, Ersterer auch mit seiner (implizierten) Beschwerde (§ 498 Abs 3 StPO), auf diese Entscheidung zu verweisen.
Zu einem amtswegigen Vorgehen hinsichtlich der Einziehung (§ 26 StGB) des vom Schuldspruch 2 umfassten Messers (vgl dazu RIS‑Justiz RS0082031) sah sich der Oberste Gerichtshof nicht veranlasst, weil im Hinblick darauf, dass jedenfalls die Voraussetzungen für eine Konfiskation nach § 19a Abs 1 StGB vorliegen, ein konkreter Nachteil (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO) für den Angeklagten nicht auszumachen ist (vgl Ratz , WK‑StPO § 290 Rz 22).
Im (nicht von der Aufhebung betroffenen) Adhäsionserkenntnis verpflichtete das Erstgericht den Angeklagten gemäß § 369 Abs 1 StPO zur Zahlung von 500 Euro an den Privatbeteiligten Tolga V*****. Dagegen richtet sich die Berufung des Angeklagten. Diese geht fehl.
Das Schmerzengeld hat die Aufgabe, eine Globalentschädigung für alle durch die eingetretenen und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen zu gewähren (RIS‑Justiz RS0031191 [T5]). Tolga V***** erlitt durch die Faustschläge Abschürfungen und durch die Messerattacke eine Schnittwunde an der Brust. Der vom Erstgericht für die rechtswidrig und schuldhaft verursachten Körperverletzungen (§ 1325 ABGB; RIS‑Justiz RS0030778) zuerkannte Betrag an Schmerzengeld ist angesichts der konkreten Umstände als pauschale Abgeltung des erlittenen Unbills nicht zu beanstanden.
Die Kostenentscheidung, die die amtswegige Maßnahme nicht umfasst (Lendl, WK‑StPO § 390a Rz 12), beruht auf § 390a StPO.
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