Rechtssatz
Wenn ein Sachverständiger bei einem sehr allgemeinen Anfangsverdacht von der Staatsanwaltschaft mit nicht weiter determinierten Erhebungen zu einer Straftat, insbesondere ohne Nennung eines konkreten Beweisthemas beauftragt wird und das vorhandene, nicht ohne weiteres aussagekräftige Beweismaterial aufarbeitet und auf ein strafrechtliches Verdachtssubstrat hin untersucht, dann mutiert er von einem unabhängig agierenden Experten, der bei bestehender konkreter Verdachtslage zu einem Problemfeld mit Fachwissen Stellung nehmen soll, zu einem verlängerten Arm der Ermittlungsbehörden und damit funktional zu einem Organ der Ermittlungsbehörde. Je unbestimmter daher der Anfangsverdacht, je unkonkreter der Auftrag der Staatsanwaltschaft an den beigezogenen Experten, also je weniger der Beweiserhebungsauftrag den Kriterien des § 55 StPO entspricht, desto eher muss die darauf aufbauende Befundaufnahme inhaltlich als Ermittlungstätigkeit des beauftragten Gutachters gewertet werden. Insoweit wäre der solcherart eingesetzte Sachverständige mit einem „Anzeigegutachter“ vergleichbar. Wer in derselben Strafsache als Kriminalbeamter tätig war, darf nicht später als Staatsanwalt agieren und umgekehrt. Wer daher inhaltlich als Ermittlungsorgan gewirkt hat, darf darauf folgend nicht als Sachverständiger einschreiten; vielmehr bewirkt eine solche funktional als Ermittlungsorgan erfolgte Vorbefassung als Befangenheitsgrund. Auf dieser Basis besteht für das erkennende Gericht eine Pflicht, das im Ermittlungsverfahren durch einen von der Staatsanwaltschaft bestellten, nicht an die Grundsätze des § 55 StPO gebundenen, einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt erst ermittelnden Experten hervorgerufene prozessuale Ungleichgewicht durch die Bestellung eines neuen Sachverständigen für das Hauptverfahren auszutarieren und damit ein faires Verfahren zu sichern. Solcherart bestehen keine verfassungsmäßigen Bedenken gegen § 126 Abs 4 letzter Satz StPO.
verfassungskonforme Interpretation
11 Os 26/14d | OGH | 16.09.2014 |
Vgl aber; Beisatz: Antrag auf Aufhebung wegen Verfassungswidrigkeit jener Bestimmungen der StPO, die im Spannungsverhältnis zu Art 6 Abs 3 lit d zweiter Fall MRK stehen. (T1) |
13 Os 25/14x | OGH | 05.06.2014 |
Vgl auch; Beisatz: Einer aus der Prozessstellung der Staatsanwaltschaft als einerseits Leiterin des Ermittlungsverfahrens und andererseits Partei des Hauptverfahrens in der Literatur mitunter als gegeben erachteten Anscheinsproblematik wird durch die Rechte des Angeklagten, den Sachverständigen unter Beiziehung einer Person mit besonderem Fachwissen zu befragen (§ 249 Abs 3 erster Satz StPO) und unter den Voraussetzungen des § 127 Abs 3 erster Satz StPO die Bestellung eines weiteren Sachverständigen zu begehren, hinreichend begegnet. Die Sicht, dass § 126 Abs 4 letzter Satz StPO mit Art 6 Abs 3 lit d MRK vereinbar ist, wird in der Lehre geteilt. <br/>Auch der EGMR hat erst unlängst ausgesprochen, dass die vorliegende Verfahrenskonstellation (Bestellung eines Sachverständigen durch das Gericht, Möglichkeit der Befragung dieses Sachverständigen durch den Angeklagten und seinen Verteidiger unter Beiziehung eines Privatgutachters) im Einklang mit den Garantien des Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit d MRK steht. (T2) |
11 Os 103/14b | OGH | 25.11.2014 |
Gegenteilig; Beis wie T1 |
Dokumentnummer
JJR_20140123_OGH0002_0120OS00090_13X0000_002
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