OGH 12Os68/23a

OGH12Os68/23a7.9.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 7. September 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Oshidari, Dr. Brenner, Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Besic in der Strafsache gegen St* F* wegen der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Schöffengericht vom 17. März 2023, GZ 327 Hv 150/22b‑61.4, sowie über die Beschwerde des Angeklagten gegen den zugleich gefassten Beschluss auf Verlängerung einer Probezeit nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Stani, des Angeklagten und seines Verteidigers Mag. Preclik zu Recht erkannt:

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in der Subsumtion der dem Schuldspruch III./ zugrunde liegenden Taten auch nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB ersatzlos, demgemäß auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) sowie der Beschluss auf Verlängerung einer Probezeit aufgehoben und es wird im Umfang der Aufhebung

1./ in der Sache selbst erkannt:

St* F* wird für die ihm zur Last liegenden Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und 3 vierter Fall StGB (I./1./b./), die Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I./1./a./, 2./ und 3./), das Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter sechzehn Jahren nach § 208 Abs 1 StGB (II./) sowie die Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB unter Anwendung des § 28 Abs 1 StGB nach dem ersten Strafsatz des § 206 Abs 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von

neun Jahren

verurteilt.

 

Gemäß § 38 Abs 1 Z 1 StGB wird St* F* die vom 2. Dezember 2022, 14:15 Uhr, bis 24. Jänner 2023, 08:00 Uhr, und vom 7. März 2023, 07:00 Uhr, bis 17. März 2023, 11:42 Uhr, erlittene Vorhaft auf die verhängte Freiheitsstrafe angerechnet.

Die Nichtigkeitsbeschwerde im Übrigen wird verworfen.

Mit ihren Berufungen werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

2./ der

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0120OS00068.23A.0907.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Sexualdelikte

 

Spruch:

Gemäß § 494a Abs 1 Z 2, Abs 6 StPO wird vom Widerruf der dem Angeklagten zu AZ 19 Hv 27/19d des Landesgerichts für Strafsachen Graz gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde St* F* der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und 3 vierter Fall StGB (I./1./b./), der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I./1./a./, 2./ und 3./), des Vergehens der sittlichen Gefährdung von Unmündigen nach § 208 Abs 1 StGB (II./) und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 und 2 StGB (III./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er von November 2017 bis Juni 2022 in B* und an anderen Orten

I./ mit einer unmündigen Person, und zwar seiner am 19. August 2012 geborenen Stieftochter S* F* den Beischlaf und dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem

1./ sie in zumindest zehn Angriffen dessen Penis in den Mund nehmen und Oralverkehr vollziehen musste, wobei er jeweils wiederholt auf ihren Bauch (a./) oder in ihren Mund (b./) ejakulierte, wodurch das Opfer in besonderer Weise erniedrigt wurde;

2./ er bei einem Angriff Oralverkehr an ihr vollzog, indem er über ihre Vagina leckte und dabei auch mit der Zunge in diese eindrang und sie mit den Zähnen an der Vagina berührte;

3./ er versuchte, sie anal mit seinem Penis zu penetrieren, dabei abrutschte und ihr eine blutende Wunde im Vaginalbereich zufügte;

II./ dadurch, dass er sich in Anwesenheit der S* F* selbst geschlechtlich befriedigte und auf ihren Rücken ejakulierte, eine Handlung, die geeignet war, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen unter sechzehn Jahren zu gefährden, vor einer unmündigen Person vorgenommen, um sich dadurch geschlechtlich zu befriedigen;

III./ durch die zu I./ beschriebenen Handlungen mit einer minderjährigen Person, und zwar seinem unmündigen Stiefkind, welches seiner Erziehung, Ausbildung und Aufsicht unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person, geschlechtliche Handlungen vorgenommen und von einer solchen Person an sich vornehmen lassen.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die dagegen aus Z 4, 5 und 10 des § 281 Abs 1 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten ist teilweise berechtigt.

[4] Entgegen der Verfahrensrüge (Z 4) wurden Verteidigungsrechte des Angeklagten durch die Abweisung (ON 61.3 S 13 f) dreier Beweisanträge nicht verletzt.

[5] In der Hauptverhandlung beantragte der Angeklagte zunächst die Einholung eines Gutachtens aus dem Fachbereich Gynäkologie „zum Beweis dafür, dass es denkunmöglich ist, dass die Missbrauchshandlungen in der von der Minderjährigen geschilderten Form stattgefunden haben“. Dabei bezog er sich auf einen möglichen Riss des Hymens des Opfers und schloss daraus, dass ein derartiges Geschehen mit massiven Blutungen und Schmerzen einhergehe, die von der Minderjährigen in dieser Form aber nicht beschrieben worden seien (ON 61.3 S 8).

[6] Weiters begehrte er die „Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens zum Beweis dafür, dass die Minderjährige in dem Fall, dass sie diese Blutungen und Schmerzen aufgrund des Einrisses des Jungfernhäutchens tatsächlich erlitten hätte, diese Schmerzen auch im Rahmen ihrer Aussagen so geschildert hätte“ (ON 63.1 S 8).

[7] Die offensichtlich allein das Faktum I./3./ betreffenden – und sich überdies in Spekulationen nach Art einer unzulässigen Erkundungsbeweisführung erschöpfenden – Beweisanträge ließen die Relevanz für die Lösung der Schuldfrage nicht erkennen, weil damit der zeitlich vor der in Rede stehenden Verletzung im Vaginalbereich stattgefundene Versuch der analen Penetration des Opfers gar nicht in Zweifel gezogen wurde.

[8] In Bezug auf das beantragte kinderpsychologische Gutachten hätte es zudem eines Vorbringens bedurft, aus welchem Grund anzunehmen sei, dass sich die Zeugin F* mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters bereitfinden werde, sich einer entsprechenden Befundung zu unterziehen (vgl RIS‑Justiz RS0098015 [insb T3, T14]).

[9] Die weitere Beschwerde behauptet, einen Antrag auf Vernehmung eines Arztes, der die Minderjährige im Jahr 2017 körperlich untersucht haben soll, gestellt zu haben. In diesem Zusammenhang finden sich aber im unbekämpft gebliebenen Hauptverhandlungsprotokoll lediglich darauf bezogene allgemeine Ausführungen des Verteidigers (ON 61.3 S 8). Eine den Erfordernissen des § 55 Abs 1 StPO entsprechende, deutliche und bestimmte Antragstellung geht daraus nicht hervor. Damit ist der Angeklagte nicht zur Beschwerde aus § 281 Abs 1 Z 4 StPO legitimiert (vgl RIS‑Justiz RS0118060; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 9.90).

[10] Die Mängelrüge (Z 5 zweiter Fall) macht nicht klar, inwieweit es von erheblicher Bedeutung sein soll, ob das Opfer ihre Mutter beim Vollzug des Geschlechtsverkehrs gesehen oder nur gehört hat.

[11] Das Vorbringen, die Staatsanwaltschaft hätte keine Zustimmung zum Vortrag des Akteninhalts gemäß § 252 Abs 2a StPO erteilt, entspricht nicht dem Hauptverhandlungsprotokoll (vgl ON 61.3 S 14). Damit geht der pauschale Einwand, das Gericht hätte sich auf in der Hauptverhandlung nicht vorgekommene Beweisergebnisse gestützt, schon im Ansatz ins Leere. Abgesehen davon könnte der Beschwerdeführer nur das Fehlen der eigenen Zustimmung ins Treffen führen (Ratz,WK‑StPO § 281 Rz 460).

[12] Ob das Opfer in einem oder mehreren Fällen Oralverkehr am Angeklagten vollzog (I./1./a./), spielt unter dem Gesichtspunkt richtiger Subsumtion keine Rolle. Im Hinblick auf die weiteren, unbekämpft gebliebenen Tatvorwürfe I./1./b, 2./ und 3./ wird nämlich die rechtliche Einordnung der Taten als mehrere Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB nicht in Frage gestellt. Das darauf bezogene Beschwerdevorbringen kann daher auf sich beruhen.

[13] Hingegen wendet sich die Subsumtionsrüge (Z 10) zutreffend gegen die Subsumtion der dem Schuldspruch III./ zugrunde liegenden Taten unter § 212 Abs 1 Z 1 und 2 StGB.

[14] Idealkonkurrenz kommt insoweit nicht in Betracht (Fabrizy/Michel‑Kwapinski/Oshidari, StGB14 § 212 Rz 16); vielmehr ist Z 2 zu Z 1 des § 212 Abs 1 StGB materiell subsidiär (RIS‑Justiz RS0129723; Philipp in WK2 StGB § 212 Rz 14; Leukauf/Steininger/Tipold, StGB Update 2020 § 212 Rz 23).

[15] Urteilsaufhebung wie im Spruch ersichtlich ist die Folge.

[16] Bei der erforderlichen Strafneubemessung wertete der Oberste Gerichtshof als erschwerend das vor allem zu Beginn des Tatzeitraums geringe Alter des Opfers (RIS‑Justiz RS0090958 [T4]) sowie das Zusammentreffen strafbarer Handlungen und den langen Tatzeitraum (§ 33 Abs 1 Z 1 StGB). Mildernd war kein Umstand.

[17] Davon ausgehend erweist sich eine Freiheitsstrafe von neun Jahren als tat‑ und schuldangemessen, wobei im Rahmen der allgemeinen Strafbemessung (§ 32 Abs 2 und 3 StGB) als erschwerend auch zu berücksichtigen war, dass die Taten teilweise während offener Probezeit und anhängigen Verfahrens begangen wurden (RIS‑Justiz RS0090597, RS0091096 [T1]).

[18] Die Anrechnung der Vorhaftzeiten beruht auf § 38 Abs 1 Z 1 StGB. Über die Anrechnung der nach Fällung des Urteils erster Instanz in Vorhaft (§ 38 StGB) zugebrachten Zeit hat gemäß § 400 Abs 1 StPO – auch im (hier vorliegenden) Fall der Strafneubemessung (RIS‑Justiz RS0091624; Lässig, WK‑StPO § 400 Rz 1) – der Vorsitzende des Gerichts, das in erster Instanz erkannt hat, mit Beschluss zu entscheiden.

[19] Mit ihren Berufungen waren der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf die Strafneubemessung zu verweisen.

[20] Mit Blick auf die nunmehrige Sanktion und auch darauf, dass die zu AZ 19 Hv 27/19d des Landesgerichts für Strafsachen Graz abgeurteilten Straftaten (§§ 127 ff, § 277 Abs 1 StGB) nicht auf gleicher schädlicher Neigung (§ 71 StGB) beruhten, bedurfte es nicht zusätzlich des Widerrufs der im früheren Urteil gewährten bedingten Strafnachsicht. Die Probezeit war jedoch auf fünf Jahre zu verlängern.

[21] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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