Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 23. September 1998, GZ 2b Vr 1427/98-30, wurde Dr. Frank Attila B***** der Verbrechen des Beischlafs mit Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB schuldig erkannt, weil er von 1996 bis Anfang 1998 in Wien und Wiesen wiederholt mit der am 16. April 1989 geborenen Christina H***** und der am 7. Juni 1990 geborenen Stephanie H***** den außerehelichen Beischlaf unternommen sowie diese auf andere Weise als durch Beischlaf zur Unzucht missbraucht hatte, indem er die Mädchen an der Scheide abgriff und Christina H***** veranlasste, sein Glied in die Hand zu nehmen und einen Handverkehr durchzuführen.
Die vom Angeklagten dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wies der Oberste Gerichtshof mit Beschluss vom 18. Februar 1999, AZ 12 Os 12/99, zurück (ON 52); mit Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 13. April 1999, AZ 22 Bs 97/99, wurde auch seiner Berufung keine Folge gegeben (ON 54).
Daraufhin beantragte der Verurteilte unter Vorlage zweier Privatgutachten der gerichtlich beeideten Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Michael M***** (S 83 ff/II) und Primarius Univ. Prof. Dr. Georg S***** (S 153 ff/II) sowie von eidesstättigen Erklärungen mehrerer Zeugen und unter Hinweis auf ein im Pflegschaftsverfahren des Jugendgerichtshofes Wien, AZ 6 P 8/98f, eingeholtes Gutachten der Sachverständigen DDr. Gabriele W***** (ON 81) die Wiederaufnahme des Verfahrens.
Er begründete dies vor allem damit, dass das dem Ersturteil zugrunde liegende Gutachten des Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Max F***** nach den Ausführungen der beiden Privatgutachter weder ausreichend schlüssig noch wissenschaftlich begründet oder nachvollziehbar sei und somit keine profunde Quelle für die Entscheidung des Gerichtes liefern könne, zumal auch Wahrnehmungen der Kindesmutter, der mütterlichen Großeltern und anderer der Familie nahe stehender Personen zur Frage des Verhältnisses der Kinder gegenüber dem Angeklagten und ihrer Phantasieentwicklung unberücksichtigt geblieben seien.
Nach Vornahme von Erhebungen lehnte das Landesgericht für Strafsachen Wien - letztlich in gehöriger Besetzung - mit Beschluss vom 29. März 2000 die Wiederaufnahme des Verfahrens im Wesentlichen mit der Begründung ab, dem Verurteilten sei es nicht gelungen, durch neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinn des § 353 Z 2 StPO ernste Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zu erwecken. Vielmehr werde durch die vorgelegten privatgutachterlichen Stellungnahmen lediglich die Beweiswürdigung des Gerichtes bekämpft (ON 87).
Der dagegen erhobenen Beschwerde (ON 93) gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 6. Juli 2000, AZ 23 Bs 171/00 (= ON 105), nicht Folge. Es ging dabei (zutreffend) davon aus, dass zwar der Inhalt der bisherigen Akten vom Wiederaufnahmegericht in Betracht zu ziehen, diesem aber eine abschließende Würdigung der aktuellen Beweissituation verwehrt und es lediglich befugt sei, auf einer dem allein dem erkennenden Gericht vorbehaltenen Beweiswürdigungsprozess vorgelagerten Ebene zu prüfen, ob die Sachentscheidung des seinerzeit erkennenden Gerichtes anders hätte ausfallen können, wenn die neuen Verfahrensergebnisse mitberücksichtigt worden wären. Es hielt auch fest, dass für die Wiederaufnahme zu Gunsten eines Verurteilten ernste Zweifel an der Richtigkeit des Schuldspruchs genügten.
In concreto kamen die Beschwerderichter jedoch zum Ergebnis, dass die vom Verurteilten neu vorgebrachten Beweismittel weder alleine noch in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet waren, solche Zweifel zu erwecken, weil sich der Schuldspruch des Angeklagten weder ausschließlich noch überwiegend auf die Expertise des Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Max F*****, sondern einerseits auf die - vom Erstgericht als glaubwürdig angesehenen - Aussagen der (tatbetroffenen) Zeuginnen Christina und Stephanie H***** vor der Polizei und (in der kontradiktorischen Vernehmung) vor dem Untersuchungsrichter, andererseits aber auch auf die Angaben weiterer Zeugen gestützt habe und diesen belastenden Verfahrensergebnissen nur die leugnende Verantwortung des Angeklagten gegenübergestanden sei.
In dieser Entscheidung erblickt der Generalprokurator eine Verletzung des Gesetzes in der Bestimmung des § 353 Z 2 (iVm § 258) StPO und führt hiezu aus:
"Gemäß § 353 Z 2 StPO kann der rechtskräftig Verurteilte die Wiederaufnahme des Strafverfahrens verlangen, wenn er neue Tatsachen oder Beweismittel beibringt, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet erscheinen, seine Freisprechung oder die Verurteilung wegen einer unter ein milderes Strafgesetz fallenden Handlung zu begründen, wobei es genügt, wenn die Würdigung der neuen und der im früheren Verfahren aufgenommenen Beweise ernste Zweifel an der Richtigkeit des Schuldspruchs begründet (Bertel/Venier, Strafprozessrecht6 Rz 1022). Dabei muss das Wiederaufnahmegericht in die Prüfung der Tatfrage eintreten, sich auf den Standpunkt des (oder der) dem zum Schuldspruch führenden Verfahren erkennenden Richter(s) stellen und erwägen, ob die Tatfrage anders entschieden worden wäre, wenn außer dem dem seinerzeitigen Urteil zugrunde gelegten Material auch die nunmehr vorgebrachten neuen Tatsachenbeweise zur Verfügung gestanden oder mitberücksichtigt worden wären. Dem Wiederaufnahmsantrag ist stattzugeben, wenn sich nach den Erhebungen ergibt, dass die neuen Tatsachen oder Beweismittel geeignet sind, die Urteilsgrundlagen zu erschüttern (Mayerhofer StPO4 § 357 E 3b, 3d und 5).
Neuen Tatsachen und Beweismitteln kommt die Eignung, allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen eine für den Verurteilten günstigere Beurteilung der Beweislage zu begründen, nicht erst dann zu, wenn der Schuldspruch ausschließlich auf solche Tatsachen oder Beweismittel gestützt werden kann, deren Richtigkeit vom Wiederaufnahmswerber (nachvollziehbar und wissenschaftlich fundiert) in Zweifel gezogen wird, sondern bereits, wenn im neuen Erkenntnisverfahren eine andere Lösung der Beweisfrage (lediglich) denkbar ist (12 Os 62/94), wobei bei Prüfung dieser Frage nicht anders vorzugehen ist als bei der Relevanzprüfung von Beweisanträgen in der Hauptverhandlung.
Dies bedeutet, dass im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens eine Beurteilung des Beweiswertes eines (angebotenen) neuen Beweismittels nicht zulässig ist, sondern eine solche Würdigung ausschließlich dem erkennenden Gericht nach den das österreichische Strafverfahrensrecht beherrschenden Grundsätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit vorbehalten ist. Dem über den Wiederaufnahmsantrag entscheidenden Gericht ist daher jede vorgreifende Beweiswürdigung verwehrt (Mayerhofer aaO § 357 E 3c bis 5).
Im vorliegenden Fall hat sich das Erstgericht in seiner Urteilsbegründung zu einem (im Verhältnis zum übrigen Begründungsumfang) wesentlichen Teil auf das Gutachten des Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Max F***** gestützt (US 12 bis 14), das durch die vorliegenden Privatgutachten in Frage gestellt wird.
Da es dem über den Wiederaufnahmsantrag entscheidenden Gericht nicht zustand, selbständig eine andere Gewichtung und Bewertung der ursprünglichen Beweisergebnisse vorzunehmen, durfte das Oberlandesgericht Wien in seiner Beschwerdeentscheidung nicht sinngemäß davon ausgehen, dass sich der Schuldspruch des Betroffenen auch auf die anderen Beweismittel stützen ließe. Durch seine von der des Erkenntnisgerichtes abweichende (weitergehende) Beweiswürdigung hat es daher die Grenze zwischen einer bloßen Eignungsprüfung im Sinn des § 353 Z 2 StPO und einer - ihm nicht zustehenden - abschließenden Beweiswürdigung überschritten und demnach gegen die erwähnte Bestimmung sowie den im § 258 StPO verankerten Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen.
Demgemäß wird die Aufhebung des Beschlusses beantragt und begehrt, dem Beschwerdegericht die neuerliche Entscheidung aufzutragen."
Rechtliche Beurteilung
Dazu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
Bei Anlegung aller vom Generalprokurator zutreffend dargelegten Grundsätze zur - im jeweiligen Einzelfall (Mayerhofer aaO § 357 E 4) anzustellenden - Eignungsprüfung zeigt sich - der Beschwerde zuwider -, dass das Oberlandesgericht in durchaus rechtskonformer Entsprechung des Gesetzesauftrages des § 353 Z 2 StPO den neu beigebrachten Tatsachen und Beweismitteln die Tauglichkeit abgesprochen hat, die Entscheidungsgrundlage für ein in der Sache neuerlich erkennendes Schöffengericht entscheidend zu verbreitern, wobei es - nicht anders als bei jener Relevanzprüfung, die zu in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträgen regelmäßig vorzunehmen ist - auch die wesentlichen früher erhobenen Beweisergebnisse in die Beurteilung miteinzubeziehen hatte. Dass hiebei ein Mindestmaß an Beweiswürdigung bzw an Wertungen unvermeidbar ist (Soyer, Die ((ordentliche)) Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1998, S 119), liegt auf der Hand.
Angesichts der im Sinn des Schuldspruchs kontextgestützt verdichteten Beweislage, nämlich insbesondere des vom Erstgericht (US 10 f) und der Beschwerdeinstanz (ON 105, S 12 f) tragfähig hervorgehobenen Zugeständnisses des (damals) Angeklagten, die tatbetroffenen Mädchen mit seinem erigierten Glied immerhin (wenn auch angeblich ohne deliktischen Vorsatz) berührt zu haben (S 101 ff, 215 ff/I), der Angaben des Kindesvaters und dessen Lebensgefährtin, deren finanzielle Situation entgegen der Spekulation des Wiederaufnahmswerbers von der Übernahme der Obsorge für die Kinder plausibel keine günstigere Entwicklung erwarten lässt, der Aussagen der familienexternen Zeugin Sabine Z***** und der berufsbedingt in der Konfrontation mit sozialen Extremkonstellationen erfahrenen erhebenden Polizeibeamtin Ulrike A***** in Bezug auf die Spontaneität der Aussagen der vom Erstgericht als glaubwürdig beurteilten tatbetroffenen Mädchen kommt nämlich dem zu deren Aussagefähigkeit und -ehrlichkeit (S 3a verso/I) erstatteten Gutachten des - notorisch - erfahrenen Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Max F***** nach den Urteilsgründen keineswegs die von der Generalprokuratur betonte zentral auschlaggebende Bedeutung für den Verfahrensausgang zu, mag sich auch das Erstgericht auf drei von zehn Seiten Beweiswürdigung damit auseinandergesetzt haben.
Davon ausgehend sind nach Lage des Falles die beigebrachten Privatgutachten - der Beschwerde wurde noch ein weiteres von Prof. Dr. Burkhard S***** angeschlossen (Beilage A bei ON 94) - zwar grundsätzlich nicht vorweg obsolet (Mayerhofer aaO § 353 E 11), hier aber nicht geeignet, die in Entsprechung des Gerichtsauftrags erstatteten gutächtlichen Äußerungen des Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Max F***** über die Aussagefähigkeit und -ehrlichkeit der Tatopfer in aus der Sicht des § 353 Z 2 StPO beachtlicher Weise zu problematisieren. Hat doch lediglich der vom Gericht bestellte Sachverständige die Kinder persönlich exploriert, wobei in Ansehung deren kindlichen Alters von sieben und acht Jahren die Vernehmungsdauer von 21 bzw 13 Minuten durchaus nicht unangemessen kurz erscheint und zudem evident ist, dass die beiden Kinder bei ihrer Befragung altersbedingt und anlassbezogen auch einer gewissen pädagogischen Unterstützung bedurften, ohne dass dabei fassbare Anhaltspunkte für eine in entscheidenden Punkten suggestive Beeinflussung hervorgekommen wären (vgl die Protokollierung S 385 ff/II). Zudem mussten auch die Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Michael M***** und Prim. Univ. Prof. Dr. Georg S***** einräumen, dass es keine speziellen "guide lines" für kinderpsychiatrische Untersuchungen gibt.
Deren Kritik zuwider hat sich Univ. Prof. Dr. Max F***** mit allfälligen Aggravierungstendenzen in den Aussagen der Kinder ebenso befasst wie mit dem Aspekt einer sie allenfalls motivierenden Eifersucht (S 329/I). Korrekterweise überließ er aber die abschließende Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Tatopfer der Beweiswürdigung des Gerichtes (S 140/I), indem er insbesondere auch sein in der Hauptverhandlung abgegebenes Gutachten mit der seine - keineswegs durch einseitige Festlegung beeinträchtigte - Objektivität zwanglos zum Ausdruck bringenden Äußerung, "denkbar sind alle menschlichen Variationen, die wir wahrnehmen können", abschloss (S 337/I). Ob die nach der einschlägigen Fachliteratur für denkbar sachdienlich erachteten Explorationsmodalitäten jeweils ausnahmslos oder aber fallbezogen nur partiell bedeutsam ins Gewicht fallen können, ist eine Frage, die der beauftragte Sachverständige im Einzelfall primär auf Grund seines unmittelbaren Eindrucks von der untersuchten Kontaktperson selbst zu beantworten hat.
Die von Univ. Prof. Dr. Michael M***** erhobene Kritik, Univ. Prof. Dr. Max F***** habe den sexuellen Kindesmissbrauch selbst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bejaht (S 127/II), geht somit ins Leere. Dass auch Univ. Prof. Dr. Michael M***** - wenngleich ohne Schluss auf sexuelle Tendenz - einräumte, "es sei durchaus glaubwürdig, dass es wiederholte Berührungen des KV-Penis (richtig: jenes des Verurteilten) durch die Kinder gegeben habe" (S 147/II), und auch Prim. Univ. Prof. Dr. Georg S***** eine - durch die Sicherstellung umfangreichen pornographischen Materials dokumentierte (ON 8) - erotisch aufgeladene Atmosphäre im Haushalt des Verurteilten und der Kinder attestierte (S 465/II), sei vollständigkeitshalber hinzugefügt.
Schließlich weist Prim. Univ. Prof. Dr. Georg S***** selbst auf den eingeschränkten Beweiswert seines Gutachtens hin, indem er bedauert, dass ihm einige Datenquellen verschlossen blieben (S 445/II). Die Problematik seiner ihm mittelbar eröffneten Beurteilsgrundlagen erhellt zwanglos aus der ihm zugegangenen schriftlichen Information des Verurteilten, der Anlassfall sei "wie in einem Hexenprozess ohne Beweise in drei Stunden abgeurteilt worden" (S 177/II).
Was letztlich Prof. Dr. Burkhard S***** zur Problematisierung des vom gerichtlichen bestellten Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Max F***** erstatteten Gutachtens ins Treffen führt, vernachlässigt, dass die dabei kritisierte Beurteilung der Glaubhaftigkeit der tatbetroffenen Kinder (S 23 der Beilage A zu ON 94), gar nicht Gegenstand des dem gerichtlichen Gutachter erteilten Auftrags war. Dass es in die Kompetenz der Tatrichter fällt, die nach den Verfahrensergebnissen (auch durch den gerichtlich beauftragten Sachverständigen wie auch durch Privatgutachter) aktualisierten Feststellungsvarianten abschließend zu sondieren, versteht sich von selbst.
Die geltend gemachte Gesetzesverletzung liegt demnach nicht vor, weshalb die zur Wahrung des Gesetzes erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zu verwerfen war.
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