OGH 12Os162/10f

OGH12Os162/10f29.3.2011

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. März 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. T. Solé und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner‑Foregger und Mag. Michel als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Kunst als Schriftführer in der Strafsache gegen Roland M***** wegen des Vergehens der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 21. Juli 2010, GZ 13 Hv 75/10w-18, sowie dessen Beschwerde gegen den unter einem gefassten Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung und die Beschwerde werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen, auch einen Privatbeteiligtenzuspruch enthaltenden Urteil wurde Roland M***** ‑ abweichend von der wegen des Verbrechens des räuberischen Diebstahls nach §§ 127, 131 erster Fall StGB erhobenen Anklage ‑ der Vergehen der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB und der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er am 20. März 2010 in Graz

1.) Mimi J***** dadurch geschädigt, dass er fremde bewegliche Sachen (erg: nämlich ein Mobiltelefon und Wohnungsschlüssel; vgl US 4) aus deren Gewahrsam dauernd entzog, ohne die Sachen sich oder einem Dritten zuzueignen, indem er diese an sich nahm und damit die Wohnung verließ,

2.) Mimi J*****, mit Gewalt „zu einer Handlung, nämlich zum Vorbeilassen und der somit einhergehenden Fluchtermöglichung“, genötigt, indem er ihr mehrere Schläge gegen den Kopf und einen Stoß gegen den Oberkörper versetzte.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf Z 4 und 5 sowie dem Sinn nach auf Z 8 und 9 lit a des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

Durch die in der Verfahrensrüge (Z 4) monierte Abweisung des Antrags auf neuerliche Vernehmung von Mimi J***** zum Beweis dafür, „welche Stöße und Schläge welche Verletzungsfolgen nach sich zogen, da sich die bisherigen Angaben nicht mit den vergleichbaren Verletzungen aus dem Akt 7 Hv 1/10v decken“ (S 5 in ON 17), wurde der Angeklagte in seinen Verteidigungsrechten schon deshalb nicht verletzt, weil eine dem Tatopfer zugefügte Körperverletzung nicht Gegenstand des Schuldspruchs ist.

Auch die Abweisung des Begehrens „auf Einholung eines psychiatrischen Gutachtens der Mimi J***** zum Beweis dafür, dass die Zeugin krampfhaft versucht, den Angeklagten einer strafrechtlichen Verurteilung zuzuführen“ (S 6 in ON 17), erfolgte zu Recht, weil ihm nicht zu entnehmen ist, warum die beantragte Beweisaufnahme das vom Antragsteller behauptete Ergebnis erwarten lasse.

Das ‑ zum Teil mit dem am 24. Juni 2010 schriftlich gestellten, in der Hauptverhandlung jedoch nicht vorgetragenen, somit irrelevanten (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 310 ff) Beweisantrag idente ‑ in der Beschwerdeschrift zwecks Antragsfundierung nachgetragene Vorbringen verstößt gegen das für die Prüfung eines Zwischenerkenntnisses geltende Neuerungsverbot und ist daher unbeachtlich (RIS‑Justiz RS0099117).

Die exakte Beschreibung der gegen das Tatopfer gerichteten Schlagführung berührt weder eine entscheidende noch eine erhebliche Tatsache (vgl hiezu Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 399 ff, 409 ff). Die auf deren Fehlen gegründeten Einwände der Mängelrüge (Z 5) können daher auf sich beruhen.

Dass es dessen ungeachtet zur rechtsrichtigen Beurteilung des Sachverhalts weiterer Feststellungen bedurft hätte, „wie nunmehr die Schläge tatsächlich durchgeführt wurden“, wird von der Rechtsrüge (Z 9 [erg: lit a]) bloß begründungslos behauptet, nicht jedoch methodisch vertretbar aus dem Gesetz abgeleitet. Sie verfehlt damit den vom Gesetz geforderten Bezugspunkt (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 588; RIS‑Justiz RS0116565, RS0116569).

Den „Nichtigkeitsgrund gemäß MRK/§ 262 StPO“ (dem Sinn nach Z 8) macht der Beschwerdeführer geltend, weil die Anklage (ON 3) auf das Verbrechen des räuberischen Diebstahls nach §§ 127, 131 erster Fall StGB gerichtet gewesen und er von der geänderten rechtlichen Beurteilung nicht informiert worden sei.

Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt der Schutzzweck des Art 6 Abs 3 lit a und lit b MRK gerade darin, die Verteidigung des Angeklagten nicht zu behindern. Geleitet von dieser Zielsetzung können nach mittlerweile gefestigter Judikatur auch Abweichungen in der rechtlichen Beurteilung des von der Anklage erfassten Sachverhalts bei Nichtbeachtung des § 262 StPO aus Z 8 releviert werden. Stets dann, wenn solcherart ‑ ungeachtet der Identität von Anklage und Urteilsfaktum im prozessualen Sinn ‑ der Angeklagte einer gegenüber dem inkriminierten Sachverhalt anderen Tat (auch bloß) im materiellen Sinn schuldig erkannt wird, liegt nach grundrechtskonformer Auslegung der in Rede stehende Nichtigkeitsgrund vor. Ist das Tatbild der dem Schuldspruch zu Grunde liegenden Tat (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) von jenem des Anklagetenors (§ 211 Abs 1 Z 2 StPO) derart verschieden, dass sich die jeweils angenommenen äußeren Tatseiten nicht überdecken, unterstellt der Oberste Gerichtshof ohne weiteres das Erfordernis einer dem § 262 StPO entsprechenden Belehrung, ohne welche dem Grundrechtsgebot des Art 6 Abs 3 lit a oder lit b MRK nicht entsprochen wird (RIS‑Justiz RS0121419, RS0113755).

Im vorliegenden Fall wird aber die gewaltsam veranlasste Duldung der Sachwegnahme sowohl vom Tatbild des § 105 Abs 1 StGB als auch von jenem des § 131 StGB erfasst. Das dem Schuldspruch ebenfalls zu Grunde liegende Vergehen der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs 1 StGB unterscheidet sich von jenem des Diebstahls im Wesentlichen durch das Fehlen einer auf unrechtmäßige Bereicherung gerichteten Tendenz (vgl 15 Os 108/90; RIS‑Justiz RS0089637). Daher hätte es zur Darstellung des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes bei der vorliegenden, zu Gunsten des Beschwerdeführers erfolgten Abweichung zwischen den dem Schuldspruch und dem Anklagetenor zu Grunde liegenden, einander überdeckenden Tatbildern eines weiteren Vorbringens bedurft, das plausibel gemacht hätte, dass der den Vorfall insgesamt in Abrede stellende Beschwerdeführer mit Blick auf den veränderten rechtlichen Gesichtspunkt eine andere Verteidigungsstrategie gewählt hätte (vgl 14 Os 161/09x; 15 Os 46/07i).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Graz zur Entscheidung über die Berufung und die Beschwerde folgt (§§ 285i, 498 Abs 3 StPO).

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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