OGH 12Os128/15p

OGH12Os128/15p19.11.2015

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. November 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Weißnar als Schriftführerin in der Strafsache gegen Andrei R***** und einen anderen Angeklagten wegen des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall StGB, AZ 51 Hv 20/15y des Landesgerichts Wiener Neustadt, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 25. August 2015, AZ 33 Bs 200/15a, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, des Verurteilten Andrei R***** und seiner Verteidigerin Dr. Romanek zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0120OS00128.15P.1119.000

 

Spruch:

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 25. August 2015, AZ 33 Bs 200/15a, verletzt soweit damit die dem Angeklagten Andrei R***** mit Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 27. Mai 2014, AZ 25 BE 108/14v, gewährte bedingte Entlassung widerrufen wurde, das Gesetz in §§ 89 Abs 2b letzter Satz und 494b StPO.

Der Beschluss wird im bezeichneten Umfang ersatzlos aufgehoben und der diesbezügliche Widerrufsantrag der Oberstaatsanwaltschaft Wien zurückgewiesen.

Gründe:

Andrei R***** wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 18. März 2014, GZ 35 Hv 12/14k‑37, des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls im Rahmen einer kriminellen Vereinigung nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster und zweiter Fall, 15 Abs 1 StGB (I./) und des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (II./) schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt, die nach § 43a Abs 3 StGB hinsichtlich eines Teils der Strafe von zehn Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Aus dem unbedingten Teil der Freiheitsstrafe wurde der Genannte mit Beschluss des Landesgerichts Ried im Innkreis vom 27. Mai 2014, AZ 25 BE 108/14v, am 5. Juni 2014 unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt entlassen (ON 47 des Akts AZ 35 Hv 12/14k des Landesgerichts für Strafsachen Wien und Strafregisterauskunft ON 42 im nunmehrigen Bezugsakt AZ 51 Hv 20/15y des Landesgerichts Wiener Neustadt).

Die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt erhob am 23. März 2015 gegen Andrei R***** und einen weiteren Beschuldigten einen Strafantrag (ON 32). Unter einem beantragte sie den Widerruf der Andrei R***** mit dem erwähnten Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien gewährten bedingten Strafnachsicht. Hinsichtlich der bezeichneten bedingten Entlassung erfolgte keine Antragstellung.

Mit Urteil der Einzelrichterin des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 22. Mai 2015 wurden die beiden Angeklagten jeweils des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 130 erster Fall StGB schuldig erkannt (ON 46). Über den Angeklagten Andrei R***** wurde eine (unbedingte) Freiheitsstrafe von 15 Monaten verhängt.

Gleichzeitig erging der Beschluss, vom Widerruf der dem Angeklagten Andrei R***** mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 18. März 2014, AZ 35 Hv 12/14k, gewährten bedingten Strafnachsicht abzusehen, doch die Probezeit auf fünf Jahre zu verlängern. Hinsichtlich der vom Landesgericht Ried im Innkreis verfügten bedingten Entlassung des Angeklagten Andrei R***** wurde kein Beschluss gefasst.

Während beide Angeklagten sogleich nach der Urteilsverkündung Rechtsmittelverzicht erklärten, gab die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft vorerst keine Erklärung ab (ON 45 S 20).

Mit Note vom 22. Mai 2015 meldete die Staatsanwaltschaft hinsichtlich des Angeklagten Andrei R***** Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe und Beschwerde gegen den Beschluss auf Absehen vom Widerruf der bedingten Strafnachsicht an (ON 49).

Mit der Berufung wurde von der Anklagebehörde auch die angemeldete Beschwerde ausgeführt, wobei der Widerruf der vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu AZ 35 Hv 12/14k gewährten bedingten Strafnachsicht beantragt wurde (ON 56).

In der am 25. August 2015 vom Oberlandesgericht Wien zu AZ 33 Bs 200/15a durchgeführten Berufungsverhandlung erweiterte die Sitzungsvertreterin der Oberstaatsanwaltschaft die Rechtsmittelanträge der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt um den Antrag auf Widerruf der vom Landesgericht Ried im Innkreis gewährten bedingten Entlassung (Protokoll über die Berufungsverhandlung S 2).

Mit Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 25. August 2015, AZ 33 Bs 200/15a, wurde in Stattgebung der Berufung der Staatsanwaltschaft die über den Angeklagten verhängte Freiheitsstrafe auf 20 Monate erhöht. Weiters wurde „der Beschwerde Folge“ gegeben und sowohl die vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu AZ 35 Hv 12/14k gewährte bedingte Strafnachsicht als auch die vom Landesgericht Ried im Innkreis zu AZ 25 BE 108/14v angeordnete bedingte Entlassung widerrufen. In der Entscheidungsausfertigung merkte das Oberlandesgericht Wien an, dass der Widerruf der bedingten Entlassung zu Unrecht erfolgt sei (BS 5 f).

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Wien über den Widerruf der dem Angeklagten Andrei R***** gewährten bedingten Entlassung entsprach ‑ wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt ‑ nicht dem Gesetz.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 33 Abs 1 Z 1 StPO obliegt dem Oberlandesgericht unter anderem die Entscheidung über Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Landesgerichts als Einzelrichter (§ 31 Abs 4 StPO).

Wird beim Oberlandesgericht eine Berufung erhoben, so entscheidet es auch über eine mit der Berufung verbundene Beschwerde betreffend die Beschlussfassung gemäß § 494a Abs 1 StPO (§ 498 Abs 3 letzter Satz StPO). In casu wurde aber mit der Berufung keine Beschwerde gegen das Unterbleiben einer Entscheidung in Bezug auf die bedingte Entlassung verknüpft.

Gemäß § 89 Abs 2b letzter Satz StPO ist das Rechtsmittelgericht zwar nicht an die geltend gemachten Beschwerdepunkte gebunden, doch darf es zum Nachteil des Angeklagten niemals Beschlüsse ändern, gegen die gar nicht Beschwerde erhoben wurde. Es hat sich auf jene Entscheidung zu beschränken, die von der Beschwerde betroffen ist (vgl RIS‑Justiz RS0089977 [T5, T12]).

Vorliegend hat die Staatsanwaltschaft das Unterlassen eines an sich möglichen Ausspruchs gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO durch das Landesgericht Wiener Neustadt in Bezug auf die vom Landesgericht Ried im Innkreis gewährte bedingte Entlassung nicht angefochten, obwohl die bedingte Entlassung aktenkundig war. Infolge dieser staatsanwaltschaftlichen Untätigkeit trat gemäß § 494b StPO Widerrufspräklusion ein. In einem solchen Fall darf ein Ausspruch gemäß § 494a Abs 1 StPO aus Anlass der neuen Verurteilung nicht mehr erfolgen.

Jener Teil der Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts Wien, mit dem die bedingte Entlassung des Verurteilten widerrufen wurde, war daher aufzuheben. Der Widerrufsantrag der Oberstaatsanwaltschaft war zurückzuweisen.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte