Spruch:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Linz vom 21. Juni 2010, AZ 10 Bs 176/10v (ON 68 in den Akten AZ 25 Hv 51/09f des Landesgerichts Wels), mit dem in Stattgebung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft die Manuel K***** mit Urteil des Bezirksgerichts Vöcklabruck vom 18. September 2007, GZ 4 U 249/07y-11, gewährte bedingte Strafnachsicht widerrufen wurde, verletzt § 494a Abs 3 StPO.
Dieser Beschluss wird aufgehoben und dem Bezirksgericht Vöcklabruck aufgetragen, im Verfahren AZ 4 U 249/07y über den Widerruf der Manuel K***** mit Urteil des genannten Gerichts vom 18. September 2007, GZ 4 U 249/07y-11, gewährten bedingten Strafnachsicht zu entscheiden.
Text
Gründe:
Mit Urteil des Bezirksgerichts Vöcklabruck vom 18. September 2007, GZ 4 U 249/07y-11, wurde Manuel K***** mehrerer Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB sowie des Vergehens des Raufhandels nach § 91 Abs 2 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Gemäß § 43a Abs 1 StGB wurde ein Teil davon unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.
Wegen während der Probezeit begangener zweier Vergehen des versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 StGB und dreier Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 1, Abs 2 Z 4, Abs 3 StGB erfolgte mit Urteil des Landesgerichts Wels vom 11. Februar 2010, GZ 25 Hv 51/09f-53, eine weitere Verurteilung des Manuel K***** zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe.
Im Zuge der Ausschreibung der letztlich zur genannten Verurteilung führenden Hauptverhandlung verfügte die Einzelrichterin des Landesgerichts Wels am 11. März 2009 die Beischaffung der Vorstrafakten des Bezirksgerichts Vöcklabruck (ON 1 S 1a in den Hv-Akten). Diesem Ersuchen wurde allerdings nicht entsprochen (das Aktenübersendungsersuchen des Landesgerichts Wels liegt unjournalisiert in den Akten AZ 4 U 249/07y des Bezirksgerichts Vöcklabruck). Eine Einsicht des erkennenden Landesgerichts Wels in die Vorstrafakten des Bezirksgerichts Vöcklabruck oder in eine Abschrift des dort ergangenen Urteils unterblieb demnach (vgl HV-Protokolle ON 11, ON 19, ON 42 und ON 52; Schreiben der Einzelrichterin an die Generalprokuratur vom 9. Juli 2010).
Die Staatsanwaltschaft erhob gegen das Urteil des Landesgerichts Wels rechtzeitig Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe (ON 58) und bekämpfte unter einem (ON 58 S 7) das Unterbleiben einer Entscheidung über ihren (bereits im Strafantrag ON 3 gestellten, in der Hauptverhandlung vorgetragenen [ON 11 S 2]) Widerrufsantrag. Sie begehrte neben der Verhängung einer höheren, unbedingten Freiheitsstrafe auch den Widerruf der bedingten Strafnachsicht im Verfahren 4 U 249/07y des Bezirksgerichts Vöcklabruck.
Nach den Akten 10 Bs 176/10v des Oberlandesgerichts Linz wurden die Akten 4 U 249/07y des Bezirksgerichts Vöcklabruck nicht beigeschafft und unterblieb somit auch vor dem Rechtsmittelgericht die Einsichtnahme in die genannten Akten oder zumindest in das bezughabende Urteil.
Das Oberlandesgericht Linz gab der Berufung der Staatsanwaltschaft mit Urteil vom 21. Juni 2010, AZ 10 Bs 176/10v (ON 68 in den Akten 25 Hv 51/09f des Landesgerichts Wels), teilweise Folge. In Stattgebung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft widerrief es gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO die mit Urteil des Bezirksgerichts Vöcklabruck vom 18. September 2007, GZ 4 U 249/07y-11, hinsichtlich eines Strafteils gewährte bedingte Strafnachsicht.
Rechtliche Beurteilung
Dieser Beschluss des Oberlandesgerichts Linz steht - wie die Generalprokuratur gemäß § 23 Abs 1 StPO zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht in Einklang.
Ein Ausspruch nach § 494a Abs 1 Z 4, Abs 4 StPO setzt gemäß Abs 3 leg cit ua die Einsicht in die Akten über die frühere Verurteilung oder zumindest in die Abschrift des früheren Urteils voraus.
Im Zeitpunkt der Urteilsfällung fehlte es dem erkennenden Landesgericht Wels an der Möglichkeit, dem in § 494a Abs 3 StPO zwingend vorgeschriebenen Formerfordernis der Einsichtnahme in die Vorstrafakten oder in eine Urteilsabschrift zu entsprechen. Mangels formeller Befugnis zur Entscheidung über den Widerruf der bedingten Strafnachsicht (vgl Jerabek, WK-StPO § 494a Rz 10; RIS-Justiz RS0111829 [T3] = 12 Os 103, 104, 105/00) unterblieb diese (im Ergebnis) zu Recht.
Das Oberlandesgericht Linz, dem zufolge Anfechtung des Strafausspruchs und des unterbliebenen Widerrufs durch die Staatsanwaltschaft die Kompetenz zum Widerruf der bedingten Strafnachsicht zukam (vgl Jerabek, WK-StPO § 498 Rz 8 f), unterließ es entgegen § 494a Abs 3 StPO, vor der Widerrufsentscheidung die Akten des Bezirksgerichts Vöcklabruck, AZ 4 U 249/07y, über die frühere Verurteilung beizuschaffen und in diese (allenfalls in eine Abschrift des früheren Urteils) Einsicht zu nehmen.
Diese Gesetzesverletzung kann sich zum Nachteil des Verurteilten ausgewirkt haben.
Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst (§ 292 letzter Satz StPO), den formell mangelhaften Beschluss aufzuheben, womit nunmehr dem Bezirksgericht Vöcklabruck im Stammverfahren die entsprechende Entscheidungskompetenz zukommt (§ 495 Abs 1 StPO).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)