OGH 11Os14/08f (11Os15/08b)

OGH11Os14/08f (11Os15/08b)1.4.2008

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. April 2008 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehenter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp, Dr. Danek, Dr. Schwab und Mag. Lendl als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters MMag. Klaus als Schriftführer, in der Strafsache gegen Jürgen K***** wegen Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über den Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde sowie über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 10. April 2007, GZ 024 Hv 112/06y-40, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung

I. den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Angeklagten Jürgen K***** wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt.

II. zu Recht erkannt:

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in seinem Ausspruch über die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB sowie im Strafausspruch aufgehoben und die Sache im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde im Übrigen und die Berufung gegen den Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche werden zurückgewiesen. Mit seiner Berufung gegen den Strafausspruch wird der Angeklagte auf die kassatorische Entscheidung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Angeklagte Jürgen K***** „des" (richtig: der) Verbrechen(s) des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (I.) und des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (II.) schuldig erkannt.

Danach hat er in Wien in wiederholten Angriffen

I. zwischen August 2005 und einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt im Jänner 2006 mit der am 13. Februar 2000 geborenen unmündigen Jessica K***** dadurch den Beischlaf oder eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternommen, dass er

1. sie wiederholt anleitete, seinen Penis bis zum Samenerguss in den Mund zu nehmen und ihn oral zu befriedigen;

  1. 2. seinen Penis bis zu ihrem Hymen in ihre Scheide einführte;
  2. 3. mehrfach seinen Finger in ihre Scheide einführte und ihre Genitalien betastete;

    II. zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt versucht, Jessica K***** durch gefährliche Drohung, nämlich die Äußerung „Du darfst das nicht sagen, sonst werde ich dich erst fesseln, dann dich töten, dann deine Tiere und dann deine Mama", zu einer Unterlassung, nämlich dazu zu nötigen, die unter Punkt I. beschriebenen Vorfällen nicht ihrer Mutter zu erzählen.

    Das Erstgericht verurteilte den Angeklagte hiefür zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und ordnete gemäß § 21 Abs 2 StGB die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher an. Gegen die Versäumung der vierwöchigen Frist für die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde (§ 285 Abs 1 StPO) richtet sich der Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten; die zugleich eingebrachte Nichtigkeitsbeschwerde stützt sich auf Z 5 und 11 des § 281 Abs 1 StPO.

Rechtliche Beurteilung

Zum Wiedereinsetzungsantrag:

Hiezu bringt der Wiedereinsetzungswerber inhaltlich vor, eine Ausfertigung des Urteils sei seinem Vertreter am 9. Oktober 2007 (Rückschein bei S 298) zugestellt und von dessen Mitarbeiterin Melanie S***** übernommen worden. Diese habe das Poststück der seit 5. Jänner 2004 dort beschäftigten Kanzleileiterin Astrid P***** zur Durchführung des Fristenvormerks sowie zur Zuordnung des Aktes und Vorlage an den Verteidiger übergeben. Diese Kanzleileiterin sei seit Jahren mit der Zuordnung der Eingangspost sowie der Vormerkung von Rechtsmittel- und anderen Fristen betraut und habe sich in der „langjährigen" Tätigkeit uneingeschränkt als zuverlässig erwiesen. Sie habe sich bis zum gegenständlichen Vorfall keine Fehleintragung oder ein sonstiges Versäumnis zu Schulden kommen lassen. Völlig unvorhersehbar habe Astrid P***** die Urteilsausfertigung verlegt, sodass in weiterer Folge ein Fristenvormerk und die Vorlage an den Verteidiger unterblieben seien. Diesen treffe im Hinblick auf die (bisherige) absolute Zuverlässigkeit der Kanzleileiterin kein Organisationsverschulden. Der Vertreter des Wiedereinsetzungswerbers habe von diesem Versehen erst durch Zustellung des Beschlusses auf Zurückweisung der rechtzeitig angemeldeten Nichtigkeitsbeschwerde (ON 48) am 11. Dezember 2007 (Rückschein bei S 300) erfahren. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass das Verschulden einer Kanzleiangestellten der Bewilligung der Wiedereinsetzung dann nicht entgegensteht, wenn es sich um ein einmaliges Versehen handelt, das angesichts der Verlässlichkeit und Bewährung der Kanzleikraft nicht zu erwarten war, sodass dem Verteidiger daher keine Verletzung der von ihm zu erwartenden Sorgfalts-, Organisations- und Kontrollpflichten zur Last fällt (RIS-Justiz RS0101310, zuletzt 13 Os 120/07g; Lewisch, WK-StPO § 364 Rz 39). Diesen Anforderungen entspricht das durch Vorlage einer eidesstättigen Erklärung der Kanzleileiterin bescheinigte (vgl Lewisch, WK-StPO § 364 Rz 43 f) Vorbringen des Wiedereinsetzungswerbers.

Die vierzehntägige Frist nach dem Aufhören des Hindernisses (§ 364 Abs 1 Z 2 StPO) wurde durch die Aufgabe des Wiedereinsetzungsantrages zur Post am 27. Dezember 2007 (S 303) gewahrt, die versäumte Verfahrenshandlung zugleich nachgeholt.

Zur Nichtigkeitsbeschwerde:

Der im Rahmen der Mängelrüge (Z 5) erhobene Einwand, das Erstgericht habe Aspekte ohnehin verwerteter Beweismittel - insbesondere der Verantwortung des Angeklagten (US 6 f) und des Gutachtens der Sachverständigen Dr. Angelika G***** (US 7) - nicht den Intentionen des Beschwerdeführers entsprechend berücksichtigt, vermag den behaupteten Begründungsmangel nicht aufzuzeigen, sondern bekämpft lediglich - in diesem Anfechtungsrahmen unzulässig - die tatrichterliche Beweiswürdigung.

Das Erstgericht hat formell einwandfrei begründet, weshalb es den Angaben des - mit Einschränkungen als glaubwürdig erachteten - Opfers folgte, wobei es auf den Umstand, dass dessen Angaben ohnehin mit der (weitgehend) geständigen Verantwortung des Angeklagten (S 205 ff, 247 f) übereinstimmten, besonders hinwies (US 6 f). Die im Rahmen der Beweiswürdigung wiedergegebene Gutachtenspassage, wonach die Aussagefähigkeit und -tüchtigkeit der Zeugin „nicht generell aufgehoben" sei, ist weder undeutlich noch betrifft sie eine entscheidende Tatsache. Weshalb „der logische Zusammenhang zwischen den Feststellungen nicht mehr gegeben" sein soll, vermag die Mängelrüge nicht darzulegen.

Zutreffend weist der Beschwerdeführer hingegen im Rahmen der Sanktionsrüge (Z 11) darauf hin, dass die vom Erstgericht angeordnete Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB Feststellungen zu einweisungsrelevanten Tatsachen vermissen lässt und daher mit Rechtsfehlern iSd § 281 Abs 1 Z 11 erster und zweiter Fall StPO behaftet ist.

So mangelt es insbesondere an Klarstellungen zu dem für diese Maßnahme essentiellen Zustand einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades und dessen Einfluss auf die Anlasstaten (RIS-Justiz RS0115054; Ratz in WK2 Vorbem zu §§ 21 bis 25 Rz 9). Auch die Ausführungen im Zusammenhang mit der Gefährlichkeitsprognose, es bestehe „die Gefahr, dass der Angeklagte gleichartig strafbare Handlungen mit anderen Kindern begehen wird, dazu bestehe eine Tendenz und eine Gefährdung sei durchaus gegeben" (US 8) und „dass bei ihm die Gefahr droht, dass er ohne entsprechende therapeutische Behandlung derartige Delikte, wegen derer er nunmehr verurteilt wurde, auch in Zukunft begeht" (US 10), bieten keine ausreichende Grundlage für eine verlässliche Beurteilung der gesetzlichen Prognosekriterien (vgl 13 Os 179/03; Fabrizy, StGB9 § 21 Rz 6; Ratz, WK-StPO § 21 Rz 24).

Der bloße Hinweis auf die eingeholten Sachverständigengutachten (US 10) vermag die fehlenden Konstatierungen nicht zu ersetzen (13 Os 20/06z), zumal die psychiatrische Sachverständige zur Frage des Vorliegens einer geistigen oder seelischen Abartigkeit höheren Grades überhaupt nicht explizit Stellung bezog (S 153 ff, 239 f und 253 f) und eine Erfüllung der Voraussetzungen für eine Einweisung gemäß § 21 Abs 2 StGB nach anfänglicher Verneinung (S 159) auch in weiterer Folge nur vage beantworten konnte (S 241 und 253 f). Die aufgezeigten Mängel machen die Kassation des die Maßnahme anordnenden Ausspruchs und - wegen des Zusammenhangs (§ 289 StPO) - auch die Aufhebung des Strafausspruchs erforderlich. Mit seiner Berufung gegen den Strafausspruch war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

Die Privatbeteiligte Jessica K***** wurde vom Erstgericht mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg verwiesen (US 5). Die vom Angeklagten gegen diesen Ausspruch angemeldete Berufung (ON 42) war zurückzuweisen, weil ein Rechtsmittel gegen die Verweisung auf den Zivilrechtsweg nur dem Privatbeteiligten und seinen Erben zusteht (§ 283 Abs 4 letzter Satz StPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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