OGH 11Os136/06v

OGH11Os136/06v23.1.2007

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. Jänner 2007 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Ebner und Dr. Danek als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Westermayer als Schriftführer, in der Strafsache gegen Oguz Y***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens des Raubes nach §142 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 41 Hv 39/06f des Landesgerichtes Wiener Neustadt, über die Grundrechtsbeschwerde des Oguz Y***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Beschwerdegericht vom 19. Mai 2006, AZ 21 Bs 173/06d (ON 89 des Strafaktes), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Oguz Y***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Mit Beschluss der Vorsitzenden des Jugendschöffengerichtes des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 11. Mai 2006 (ON 89) wurde nach Durchführung einer Haftverhandlung die am 22. Jänner 2006 über den am 10. August 1991 geborenen Jugendlichen Oguz Y***** verhängte (ON 11), mehrmals verlängerte (ON 34, 51 und 79), durch die Abweisung einer Grundrechtsbeschwerde (11 Os 28/06m: ON 86) bestätigte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO iVm § 35 Abs 1 JGG fortgesetzt. Dieser Beschluss wurde dem Verteidiger am 30. Mai 2006 zugestellt (RS S 3p). Zuvor hatte der Jugendschöffensenat des Landesgerichtes Wiener Neustadt einen Enthaftungsantrag des Angeklagten in der Hauptverhandlung vom 16. Mai 2006 abgelehnt und die Untersuchungshaft aus dem nämlichen Haftgrund verlängert (ON 85). Der dagegen eingebrachten Beschwerde gab das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 2. Juni 2006, AZ 21 Bs 184/06x (ON 92) nicht Folge.

Nach der rechtskräftigen Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt vom 9. März 2006 (ON 60) lag dem Angeklagten zur Last, er habe

I am 19. Jänner 2006 in Felixdorf mit Ramazan Ö***** dem Christoph O***** dadurch, dass sie ihm Schläge und Stöße versetzten und dabei wiederholt Geld forderten, somit mit Gewalt gegen eine Person insgesamt 115 EUR mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz abgenötigt;

II mit Ramazan Ö***** und Tolga Ö*****

1) am 8. Jänner 2006 in Sollenau den Johannes S***** widerrechtlich gefangen gehalten, indem sie ihn über einen Zeitraum von mehr als zwei Stunden in der Wohnung der Familie Ö***** festhielten und ihm dabei - so auch am Verlassen der Wohnung hindernd - mehrmals ein Messer an Oberschenkel, Schläfe und Kehle ansetzten, ihn würgten und eine mit einem WC-Spray erzeugte Stichflamme gegen seinen Oberschenkel richteten, wobei sie die Freiheitsentziehung auf solche Weise begingen, dass sie dem Festgehaltenen besondere Qualen (intensive Angstzustände) bereiteten;

2) Nachgenannte durch Schläge bzw Würgen vorsätzlich am Körper verletzten, und zwar

a) den Johannes S*****

aa) zwischen September 2005 bis Anfang Jänner 2006 in Sollenau in wiederholten Angriffen, indem sie ihm jeweils Hämatome im Bereich der Arme, des Gesichtes und des Bauches zufügten;

bb) am 8. Jänner 2006 in Sollenau durch Beibringen eines Hämatoms am rechten Auge und am Bauch sowie einer Nasenschwellung;

b) im November 2006 den Alexander M*****, der Würgemale am Hals erlitt,

wobei sie mindestens drei selbständige Taten ohne begreiflichen Anlass und unter Anwendung erheblicher Gewalt begingen;

III …

IV allein am 8. Jänner 2006 in Sollenau den Johannes S***** durch die Äußerung, er bringe ihn ansonsten um, durch gefährliche Drohung zu einer Unterlassung, nämlich der Abstandnahme einer Anzeigenerstattung über die unter II 1 geschilderte Tat genötigt, wobei er die Nötigung beging, indem er mit dem Tod drohte,

womit er die Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs 1 StGB, der Freiheitsentziehung nach § 99 Abs 1 und Abs 2 zweiter Fall StGB und der schweren Nötigung nach § 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB sowie das Vergehen der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 3 StGB begangen habe.

Mittlerweile wurde Oguz Y***** mit Urteil des Jugendschöffengerichtes des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 13. Juni 2006 (ON 94) zu den Anklagefakten I, II 1 und 2 bb und IV rechtskräftig im Sinne der Anklage schuldig erkannt und zu einer zum Teil bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt; vom Anklagefaktum II 2 aa wurde er freigesprochen.

Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien der Beschwerde des Angeklagten gegen den Fortsetzungsbeschluss vom 11. Mai 2006 nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft aus dem dort angenommenen Haftgrund fort.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen rechtzeitig erhobenen, dem Obersten Gerichtshof jedoch erst am 30. November 2006 vorgelegten und hier am 12. Dezember 2006 eingelangten Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten, mit welcher die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Voraussetzung wiederholter oder fortgesetzter Tatbegehung für die Annahme des Haftgrundes nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO behauptet und die in Art 5 Abs 1 lit c MRK verlangte Notwendigkeit der Haft zur Hintanhaltung einer Tatbegehung bei der gegebenen Sachlage bestritten wird, kommt keine Berechtigung zu.

Der Einwand der Verfassungswidrigkeit des § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO geht fehl. Denn die Gerichte sind an Gesetze auch dann gebunden, wenn gegen ihre Verfassungsmäßigkeit Bedenken bestehen, die durch eine verfassungskonforme Interpretation der solchen Bedenken ausgesetzten Bestimmung nicht beseitigt werden können. Ein durch eine gerichtliche Entscheidung oder Verfügung bewirkter Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit kann daher mit der Behauptung, die maßgebenden Bestimmungen seien verfassungswidrig, im Grundrechtsbeschwerdeverfahren nicht angefochten werden. Allenfalls könnte sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sehen, gemäß Art 89 Abs 2 iVm 140 Abs 1 B-VG die Einleitung eines Normprüfungsverfahrens durch den Verfassungsgerichtshof zu beantragen. Verfahrensrelevant wäre der hier vorgebrachte Einwand somit nur, wenn damit den Gerichten vorgeworfen werden würde, die Bestimmung des § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO nicht verfassungskonform ausgelegt und deshalb den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr zu Unrecht angenommen zu haben. Dies wird jedoch vom Beschwerdeführer gar nicht behauptet. Bedenken an der Verfassungsgemäßheit des in Rede stehenden einfachgesetzlich normierten Haftgrundes vermag aber die Beschwerde nicht aufzuzeigen. Das Argument, die Voraussetzung wiederholter oder fortgesetzter Begehung strafbarer Handlungen für die Annahme dieses Haftgrundes verletze die (im Verfassungsrang stehende) Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK, weil darunter nur bereits durch einen rechtskräftigen Schuldspruch festgestellte Delinquenz verstanden werden könne, übergeht, worauf schon in der Grundrechtsbeschwerdeentscheidung zum AZ 11 Os 28/06m hingewiesen wurde, einerseits die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung zwischen strafbaren Handlungen, die bereits zu einer Verurteilung führten (Vortaten) und solchen, die dem Beschuldigten (als wiederholt oder fortgesetzt begangen) nunmehr angelastet werden (Anlasstaten) und welche daher gerade nicht Gegenstand eines Schuldspruches waren. Andererseits steht die Vermutung, dass der einer strafbaren Handlung Beschuldigte bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld unschuldig sei, einem nach den nationalen Gesetzen zulässigen Freiheitsentzug in den in Art 5 MRK angeführten Fällen nicht entgegen, daher auch dann nicht, wenn begründeter Anlass besteht, dass es notwendig ist, den Betreffenden an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern (Art 5 Abs 1 lit c MRK). Dass der Gesetzgeber in § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO den bloßen (dringenden) Verdacht wiederholter oder fortgesetzter Tatbegehung als eine der Voraussetzungen für die Annahme dieser Notwendigkeit normierte, begegnet daher aus Sicht einer möglichen Verletzung der Unschuldsvermutung keinerlei Bedenken. Soweit der Beschwerdeführer das Vorliegen des angenommenen Haftgrundes auch nach der konkreten Fallgestaltung bestreitet, vermag er den vom Oberlandesgericht aus den im angefochtenen Beschluss angeführten Tatsachen gezogenen Schluss, der Angeklagte werde ungeachtet des gegen ihn geführten Strafverfahrens eine gegen dasselbe Rechtsgut gerichtete strafbare Handlung mit nicht bloß leichten Folgen begehen wie die ihm nunmehr wiederholt angelasteten Handlungen, weder mit dem Hinweis auf „kindliche Bedürfnisse" des Angeklagten noch auf dessen Weinkrampf in der Hauptverhandlung zu entkräften.

Eine Grundrechtsverletzung liegt daher nicht vor, weshalb die Beschwerde ohne Kostenausspruch abzuweisen war.

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