OGH 10ObS82/01h

OGH10ObS82/01h24.4.2001

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Steinbauer und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Christoph Kainz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Hans Herold (aus dem Kreis der Arbeitnehmer als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Stefanie T*****, vertreten durch die Sachwalterin Monika H*****, diese vertreten durch Dr. Martina Schweiger-Apfelthaler, Rechtsanwältin in Wien, wider die beklagte Partei Bundessozialamt für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Babenbergerstraße 5, 1010 Wien, vertreten durch die Finanzprokuratur, wegen Pflegegeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Juli 2000, GZ 7 Rs 183/00h-15, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 16. März 2000, GZ 6 Cgs 93/99d-9, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 4.058,88 (darin enthalten S 676,48 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Rechtliche Beurteilung

Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegt nicht vor. Obgleich diese Beurteilung nach § 510 Abs 3 dritter Satz ZPO keiner Begründung bedürfte, ist den Ausführungen zu Punkt 1. der Revision, die ausdrücklich den Vorwurf der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen Beweiswürdigung "aufrecht erhalten" kurz zu erwidern:

Die Feststellung oder Nichtfeststellung bestimmter Tatsachen aufgrund der aufgenommenen Beweise resultiert aus der freien Beweiswürdigung der Vorinstanzen, die vom Obersten Gerichtshof nicht überprüft werden kann. Gleiches gilt für die angeblichen Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die schon in der Berufung geltend gemacht, vom Berufungsgericht aber - mit der in der Revision wiedergegebenen Begründung (vgl auch Seite 9 der Berufungsentscheidung) - verneint wurden. Nach der seit der Entscheidung SSV-NF 1/32 ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates können derartige Mängel nämlich - auch im Verfahren nach dem ASGG - nicht mehr in der Revision gerügt werden (Kodek in Rechberger**2 Rz 1 und 3 Abs 2 zu § 503 ZPO mwN; zuletzt 10 ObS 41/01d).

Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin die Voraussetzung für die Gewährung des Pflegegeldes der Pflegestufe 7 erfüllt, ist zutreffend; es kann daher auf dessen Ausführungen verwiesen werden (§ 510 Abs 3 ZPO). Ergänzend ist noch Folgendes festzuhalten:

Mit 1. 1. 1999 ist das Bundesgesetz über die Änderung des Pflegegeldgesetzes (BGBl I 1998/111) in Kraft getreten. Ab 1. 1. 1999 sind daher die Bestimmungen des BPGG in der novellierten Fassung anzuwenden. Die Anwendung der neuen Rechtslage (§ 4 Abs 2 BPGG nF) führt jedoch zu keinem anderen Ergebnis, weil die gesetzlichen neuen Definitionen in Anlehnung an die Judikatur des Obersten Gerichtshofes (RV 1168 BlgNR 20. GP 11) erfolgten (SSV-NF 13/19).

Anspruch auf Pflegegeld für Personen, deren Pflegebedarf durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt besteht demnach nunmehr in Höhe der Stufe 7, wenn 1. keine zielgerichteten Bewegungen der vier Extremitäten mit funktioneller Umsetzung möglich sind oder 2. ein gleichzuachtender Zustand vorliegt. Anspruchsvoraussetzung ist nach stRsp ein Zustand, der in den funktionellen Auswirkungen einer vollständigen Bewegungsunfähigkeit gleichkommt, wobei es auf zielgerichtete Bewegungen der vier Extremitäten ankommt, wie dies im geltenden Gesetzestext des § 4 Abs 2 BPGG nF klargestellt ist (RIS-Justiz RS0106363 [T10]).

Die Revisionswerberin beruft sich nun darauf, dass die Klägerin diese Voraussetzung infolge der noch möglichen "Massebewegungen" nicht erfülle. Diese "Abwehrbewegungen" seien als "gezielte Bewegungen" zu verstehen, weil sie - auch wenn sie objektiv betrachtet keine sinnhaften Aktivitäten darstellten - mit Sicherheit das Ziel erreichten, eine exakte Untersuchung der Klägerin zu verhindern. Anders als bei anderen dementen Personen, die sich im Sinne der totalen Verweigerung nicht mehr aktiv bewegten, liege bei der Klägerin ein Zustand vor, in dem sie sehr wohl noch aktive und zielgerichtete Bewegungen zur Abwehr setze.

Der behauptete Unterschied ist jedoch nicht zu erkennen:

Nach den unstrittigen Feststellungen besitzt die Klägerin im Bereich der unteren Extremitäten keinerlei Bewegungsfähigkeit, während ihr mit den oberen Extremitäten lediglich "Massebewegungen" möglich sind. Dabei handelt es sich um primitive, frühkindliche Reflexe (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch255, 1029 [dort allerdings: "Massenbewegungen"]), wozu - dem Sachverständigengutachten folgend - nachstehende Feststellungen getroffen wurden:

"Sie [die Klägerin] kann mit den Armen zwar Abwehrbewegungen durchführen, die jedoch nicht zielgerichtet sind. Sie umklammert alles, was sie erwischt, beispielsweise auch das Stethoskop der untersuchenden Sachverständigen und will bzw kann es nicht mehr loslassen. Aufforderungen kann sie nicht nachkommen, da sie diese nicht versteht" (S 5 des Ersturteils bzw S 4 der Berufungsentscheidung; vgl auch S 3 unten des Gutachtens ON 5 = AS 17).

Auf dieser Grundlage haben die Vorinstanzen festgehalten, dass die noch möglichen Massebewegungen (allenfalls) zu einer Abwehr und Aggressivumklammerung führen (können); das Berufungsgericht spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Massebewegungen "zufällig ihr Ziel erreichen" (S 5 der Berufungsentscheidung). Mangels "willentlicher Steuerung" der noch möglichen Bewegungsabläufe wurden die Voraussetzungen der Pflegestufe 7 somit zu Recht als erfüllt beurteilt. Wenn die Revision in den dargestellten Reflexen zielgerichtete Bewegungen mit funktioneller Umsetzung iSd § 4 Abs 2 Stufe 7 BPGG nF erblicken will, entfernt sie sich (auch) in ihrer Rechtsrüge von der Tatsachengrundlage der angefochtenen Entscheidung.

Der Revision war daher ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a und Abs 2 ASGG. Die Klägerin war mit ihrer Revisionsbeantwortung erfolgreich und hat daher Anspruch auf Ersatz ihrer Kosten im Umfang der im § 77 Abs 2 ASGG dafür vorgesehenen Kostenbemessungsgrundlage. Die weitere - inhaltsgleiche - Revisionsbeantwortung (die nach Zustellung der verbesserten Revision erstattet wurde) war zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung hingegen nicht notwendig.

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