OGH 10ObS76/21f

OGH10ObS76/21f25.1.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber, sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei H*, vertreten durch Klein, Wuntschek & Partner Rechtsanwälte GmbH in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Entziehung des Rehabilitationsgeldes, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 23. Februar 2021, GZ 7 Rs 86/20 a‑40, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 9. Juli 2020, GZ 29 Cgs 31/18b‑34, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00076.21F.0125.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben. Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts mit Ausnahme der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten der Revision binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Mit am 16. 3. 2017 im Verfahren AZ * des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits‑ und Sozialgericht (künftig: Vorverfahren) zwischen dem Kläger und der beklagten Pensionsversicherungsanstalt abgeschlossenen Vergleich wurde festgestellt, dass beim Kläger ab 1. 6. 2016 vorübergehende Invalidität zumindest im Ausmaß von sechs Monaten vorliegt; die Beklagte verpflichtete sich zur Leistung von Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung ab dem 1. 6. 2016 für die Dauer der vorübergehenden Invalidität.

[2] Nach den im Vorverfahren eingeholten Sachverständigengutachten waren aufgrund der orthopädischen Leiden des Klägers Krankenstände von vier Wochen pro Jahr, in Zusammenschau mit den zu erwartenden Krankenständen von drei Wochen aus dem neurologisch-psychiatrischen Fachgebiet und von einer Woche aus dem internen Fachgebiet insgesamt leidensbedingte Krankenstände von (medizinisch nur) sieben Wochen pro Jahr zu erwarten.

[3] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 8. 3. 2018 entzog die Beklagte das Rehabilitationsgeld mit Ablauf des 30. 4. 2018 mit der Begründung, vorübergehende Invalidität liege nicht mehr vor.

[4] Dagegen erhob der Kläger die auf Gewährung des Rehabilitationsgeldes über den 30. 4. 2018 hinaus gerichtete Klage.

[5] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren. Sie brachte vor, seit dem Gewährungszeitpunkt sei es zu einer wesentlichen Verbesserung des Gesundheitszustands des Klägers gekommen. Unter anderem seien die aus dem orthopädischen Fachgebiet zu erwartenden Krankenstände von vier auf zwei Wochen gesunken.

[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Auf Grundlage des von ihm festgestellten Sachverhalts erörterte es rechtlich, die im Vorprozess erstellte Krankenstandsprognose aus dem orthopädischen Fachgebiet sei unrichtig gewesen; die objektiven Grundlagen der Leistungsgewährung im Vorprozess hätten sich nicht wesentlich geändert. Daher komme eine Entziehung nicht in Betracht.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Es ließ die Revision nicht zu, weil Gründe dafür nicht zu erkennen seien.

[8] Aufgrund eines im Berufungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens aus dem Fachgebiet der Orthopädie traf es folgende Feststellungen zum Leistungskalkül des Klägers im Entziehungszeitpunkt und zu den gegenüber dem Gewährungszeitpunkt eingetretenen Veränderungen:

„Dem Kläger sind leichte und halbzeitig mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen unter Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Arbeitszeiten und Ruhepausen zumutbar. Es sind ihm auch leichte bis halbzeitig mittelschwere Hebe‑ und Tragearbeiten möglich. Wirbelsäulenbelastende Arbeiten in dynamischer und/oder statisch gebückter Körperhaltung und Überkopfarbeiten, die die linke obere Extremität betreffen, sind bei gerechter Verteilung je auf maximal ein Achtel eines Arbeitstages zu reduzieren. Arbeiten in kniender und hockender Körperhaltung sind im Wesentlichen zu vermeiden. Gegen ein gelegentliches 'Sich-Hinhocken bzw. Hinknien' (einige Male täglich) besteht kein Einwand.

Ununterbrochenes Arbeiten im Gehen und/oder Stehen soll die Dauer von maximal zwei Stunden nicht überschreiten und muss durch eine sitzende Arbeitshaltung in der Dauer einer Viertelstunde abgelöst werden. In Summe sollen Arbeiten im Gehen und/oder Stehen die Hälfte des Arbeitstages nicht überschreiten. Arbeiten an exponierten Stellen scheiden aus, Steighilfen können verwendet werden.

Mit Krankenständen aus unfallchirurgisch-orthopädischer Sicht von zwei Wochen je Jahr ist zu rechnen.

Grob gesehen hat sich im Zustand des Klägers im Vergleich zu 2017 keine Änderung ergeben, weil es sich bei seinen Veränderungen um einen medizinisch erreichten Endzustand der Beschwerdebilder handelt, wenn auch kleine Verbesserungen eingetreten sind. So war seinerzeit die Schulter gering bis mittelgradig bewegungseingeschränkt und ist nunmehr endgradig eingeschränkt, was sich auf die Fähigkeit zu Überkopfarbeiten auswirkt. Auch die Körperkraft stellte sich seinerzeit geringer dar, sodass Heben und Tragen von mittelschweren Lasten nunmehr halbzeitig möglich sind. Arbeiten im Sitzen sind nunmehr uneingeschränkt möglich. Jedenfalls kann von Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand ausgegangen werden.

Die im Vorverfahren abgegebene orthopädische Krankenstandsprognose von vier Wochen je Jahr ist nicht nachvollziehbar. Die Gesamtkrankenstandsprognose betrug bzw beträgt fünf Wochen je Jahr.“

[9] Rechtlich erörterte es, im Vorverfahren habe die unrichtige Einschätzung der zu erwartenden leidensbedingten Krankenstände des Klägers im orthopädischen Bereich von vier Wochen pro Jahr in Kombination mit den aus dem nervenärztlichen Fachgebiet zu erwartenden Krankenständen von drei Wochen und einem sehr eingeschränkten Leistungskalkül zum Vergleichsabschluss geführt. Zum Entziehungszeitpunkt hätten sich geringe Verbesserungen des Leistungskalküls ergeben. „Hätte“ der Kläger Rehabilitationsgeld im Gewährungszeitpunkt zu Recht erhalten, weil auch die Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit bei Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen die vorübergehende Invalidität (mit‑)begründet „hätten“, so „hätte“ die Verbesserung seines Gesundheitszustands in diesem Bereich sowie die Gewöhnung und Anpassung an die Einschränkungen und die dadurch wiedererlangte Arbeitsfähigkeit die Entziehung des Rehabilitationsgeldes gerechtfertigt. Die Verbesserungen seines Gesundheitszustands und des medizinischen Leistungskalküls des Klägers sowie die Gewöhnung und Anpassung führten zur Entziehung des Rehabilitationsgeldes.

[10] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers, mit der er die Abänderung und Klagestattgebung anstrebt.

[11] Er bringt vor, die Entziehung sei nur gerechtfertigt, wenn sich die Verbesserungen des Gesundheitszustands auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen beziehe, die im Gewährungszeitpunkt die unrichtige Einschätzung der Invalidität begründet hätten. Die Krankenstandsprognose, die die unrichtige Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität begründet habe, habe sich im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt aber nicht gebessert.

[12] Die Beklagte beantragt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision des Klägers zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision ist zulässig, weil die Anwendung der Grundsätze der Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall durch die Vorinstanzen korrekturbedürftig ist. Sie ist auch berechtigt.

[14] 1.1. Mit der Schaffung des Rehabilitationsgeldes ist der Gesetzgeber des Sozialrechts‑Änderungsgesetzes  2012 (SRÄG 2012, BGBl I 2013/3) vom Konzept der grundsätzlichen Befristung von Leistungen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit wieder abgegangen, indem er das Rehabilitationsgeld als unbefristete Dauerleistung ausgestaltet hat (ErläutRV 321 BlgNR 25. GP  4). Es ist durch Bescheid des Pensionsversicherungsträgers gemäß § 99 ASVG zu entziehen (§ 143a Abs 1 ASVG; ErläutRV 321 BlgNR 25. GP  5; 10 ObS 65/18h SSV‑NF 32/62).

[15] 1.2. Nach dem – vom SVAG 2015 unberührt gebliebenen – Grundtatbestand des § 99 Abs 1 ASVG ist die laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruchs nicht mehr vorhanden sind. Darüber hinaus wurde in § 99 Abs 1a ASVG der neue Rückforderungstatbestand der Verletzung von Mitwirkungspflichten geschaffen. Bei den weiteren Entziehungstatbeständen – Besserung des Gesundheitszustands, Zumutbarkeit der beruflichen Rehabilitierbarkeit, Eintritt voraussichtlich dauernder Invalidität/Berufsunfähigkeit – handelt es sich aber jeweils um Fälle des Wegfalls einer ursprünglich vorhandenen Leistungsvoraussetzung im Sinn des Grundtatbestands des § 99 Abs 1 ASVG (Atria in Sonntag, ASVG12 § 99 Rz 23; 10 ObS 65/18h SSV‑NF 32/62).

[16] 1.3. In allen diesen Fällen kann (auch) das Rehabilitationsgeld nach § 99 Abs 1 ASVG nur entzogen werden, wenn eine wesentliche, entscheidende Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung eingetreten ist (10 ObS 65/18h SSV‑NF 32/62; RIS‑Justiz RS0083884); ansonsten steht die materielle Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung entgegen (RS0106704; RS0083941 [T1]). Zeitpunkt der ursprünglichen Leistungszuerkennung ist die Erlassung des Gewährungsbescheids, bei einer gerichtlichen Entscheidung der Schluss der mündlichen Verhandlung oder der Zeitpunkt des Abschlusses eines Vergleichs über die Leistungsgewährung in einem gerichtlichen Verfahren (10 ObS 330/92 SSV‑NF 7/2; 10 ObS 233/01i; Schramm in SV‑Komm [299. Lfg] § 99 ASVG Rz 6). Es ist der Zustand in diesem Zeitpunkt dem Zustand im Zeitpunkt der Entziehung gegenüberzustellen (RS0083876; Schramm in SV‑Komm [299. Lfg] § 99 ASVG Rz 6 mzwN).

[17] 1.4. Die Änderung kann im Fall einer Leistung aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit etwa in der Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder in der Wiederherstellung oder Besserung seiner Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an die Leiden bestehen (vgl RS0083884). Ist der Leistungsbezieher durch diese Änderung auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist die Entziehung der Leistung sachlich gerechtfertigt (vgl RS0083884 [T5]).

[18] 1.5. Hingegen ist ein Leistungsentzug nicht gerechtfertigt, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben sich nämlich die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung nicht wesentlich geändert, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung der Leistung entgegen. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (10 ObS 20/92 SSV‑NF 6/17 mwH; RS0106704; RS0083941 [T6]). Auch die Rechtswirksamkeit eines gerichtlichen Vergleichs steht einer Entziehung der Leistung ohne wesentliche Änderung der objektiven Grundlagen der Leistungsgewährung entgegen (RS0083941 [T7] = 10 ObS 233/01i).

[19] 1.6. Ist im Fall eines aufgrund der irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG zuerkannten Rehabilitationsgeldes eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt feststellbar und bezieht sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität im Sinn des § 255b ASVG begründet haben, so ist eine Entziehung des Rehabilitationsgeldes gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann gerechtfertigt, wenn im Entziehungszeitpunkt vorübergehende Invalidität nicht vorliegt (RS0133202 = 10 ObS 40/20k, DRdA 2021/23, 242 [Naderhirn]).

[20] 1.7. Mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende leidensbedingte Krankenstände von jährlich sieben Wochen und darüber schließen einen Versicherten vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus (RS0113471 [T1]). Auch in der Verringerung der Dauer der zu erwartenden leidensbedingten Krankenstände aufgrund einer Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten oder einer Gewöhnung und Anpassung an die Leiden kann daher eine nach § 99 Abs 1, Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG beachtliche Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zuerkennung gelegen sein.

[21] 2.1. Im vorliegenden Fall ergab sich die Annahme der Invalidität des Klägers im Gewährungszeitpunkt bereits aus den im Vorverfahren unrichtig prognostizierten leidensbedingten Krankenständen von sieben Wochen pro Jahr. Diese (unzutreffende) Krankenstandsprognose bildete sohin die Grundlage der Leistungsgewährung. Ob der Kläger bei Außer-Acht-Lassung dieser Krankenstandprognose auch aufgrund seines eingeschränkten Leistungskalküls als invalid im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG oder des vom Kläger in Anspruch genommenen § 255 Abs 1 ASVG zu beurteilen gewesen wäre, war daher im Zeitpunkt der Gewährung von Rehabilitationsgeld nicht entscheidend.

[22] 2.2. Nach den Feststellungen lagen im Entziehungszeitpunkt – also mit Ablauf des 30. 4. 2018 – Verbesserungen des Gesundheitszustands sowie eine Gewöhnung und Anpassung des Klägers an seine Leiden vor, die zu einer Verbesserung seiner Fähigkeit zur Erbringung von Überkopfarbeiten, seiner Hebe‑ und Trageleistungen und seiner Fähigkeit zur Ausübung von Arbeiten im Sitzen führten. Hingegen führten die gesundheitlichen Verbesserungen sowie die Gewöhnung und Anpassung nicht zu einer Änderung der prognostizierten leidensbedingten Krankenstände. Derartige Krankenstände waren vielmehr im Gewährungs‑ ebenso wie im Entziehungszeitpunkt mit jeweils fünf Wochen pro Jahr zu erwarten.

[23] 2.3. Damit liegt in den für die Gewährung des Rehabilitationsgeldes maßgeblichen objektiven Grundlagen – der Dauer der jährlich zu erwartenden leidensbedingten Krankenstände – keine Änderung vor. Die Rechtswirksamkeit des Vergleichs vom 16. 3. 2017 steht daher der Entziehung des Rehabilitationsgeldes mit Ablauf des 30. 4. 2018 entgegen.

[24] Der außerordentlichen Revision des Klägers ist daher dahin Folge zu geben, dass die klagestattgebende Entscheidung des Erstgerichts in der Sache wiederhergestellt wird.

[25] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG. Eine Entscheidung über die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz war nicht zu treffen, da keine Kosten verzeichnet wurden.

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