OGH 10ObS75/16a

OGH10ObS75/16a21.2.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Schramm und Mag. Ziegelbauer, sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei K*****, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer und Dr. Martha Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Rehabilitationsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 22. März 2016, GZ 11 Rs 17/16y‑23, womit das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 14. Dezember 2015, GZ 7 Cgs 204/14x‑19, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00075.16A.0221.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 418,78 EUR (darin enthalten 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens zu ersetzen.

 

Begründung:

Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 Satz 4 ZPO).

Beim 1972 geborenen Kläger liegt vorübergehende Invalidität in der Dauer von zumindest sechs Monaten vor. Der Kläger wohnte von 1992 bis 1995 in Österreich und erwarb 57 Beitragsmonate in Österreich. Dann zog er nach Deutschland, wo er bei mehreren Unternehmen und in einer Pizzeria als Pizzabäcker beschäftigt war. Seit einer Operation im März 2012 übt der Kläger keine Erwerbstätigkeit mehr aus. Der Kläger bezog von 1. 5. 2012 bis 30. 4. 2014 eine befristete Invaliditätspension in Österreich. Aktuell bezieht der Kläger in Deutschland eine Rente von der Deutschen Rentenversicherung, die bis 31. 5. 2017 befristet ist.

Mit Bescheid vom 24. 6. 2014 lehnte die Beklagte die Weitergewährung der Invaliditätspension mit der Begründung ab, dass der Kläger nicht dauerhaft invalid sei. Ab 1. 5. 2014 liege jedoch weiterhin vorübergehende Invalidität vor, weshalb Anspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation (Therapiemaßnahmen) bestehe. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig. Aus der Bescheidbegründung ergibt sich, dass grundsätzlich Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der gesetzlichen österreichischen Krankenversicherung bestehe. Der Kläger unterliege aber nicht der österreichischen Krankenversicherung und solle sich an den zuständigen ausländischen Sozialversicherungsträger wenden.

Das Erstgericht sprach dem Kläger im zweiten Rechtsgang Rehabilitationsgeld im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1. 5. 2014 für die Dauer seiner vorübergehenden Invalidität zu.

Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten gegen dieses Urteil erhobenen Berufung nicht Folge. Es sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

In seiner Revisionsbeantwortung beantragt der Kläger, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist unzulässig.

1. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist im Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen. Eine zur Zeit der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich erhebliche Rechtsfrage fällt daher weg, wenn die bedeutsame Rechtsfrage durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs geklärt wird (RIS‑Justiz RS0112921 [T5]; RS0112769 [T11]).

2. Der Oberste Gerichtshof hat in der nach Einbringung der Revision ergangenen Entscheidung 10 ObS 133/15d zu den im Revisionsverfahren allein noch strittigen Fragen der Zuständigkeit Österreichs zur Zahlung und Verpflichtung zum Export von Rehabilitationsgeld ausführlich Stellung genommen.

Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die damalige Klägerin in Österreich Versicherungszeiten erworben und dann von der Beklagten eine befristete Invaliditätspension bezogen, an die der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar anschließen sollte. Der Wohnsitz der Klägerin lag – jedenfalls bei Antragstellung auf Weitergewährung – in der Bundesrepublik Deutschland.

Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:

3.1 Im Kontext der Sozialrechtskoordinierung stellt das Rehabilitationsgeld eine Geldleistung bei Krankheit im Sinn des Art 3 Abs 1 lit a der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in weiterer Folge: VO 883/2004 ) dar. Diese Einordnung als Geldleistung bei Krankheit hat Auswirkungen auf die unionsrechtliche Leistungszuständigkeit nach der VO 883/2004 .

3.2 Grundsatz der Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 ist nach ihrem Art 11 Abs 1, dass Personen für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegen.

3.3 Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich zunächst nach den Sonderkollisionsnormen der Titel III und V der VO 883/2004 , dann nach den Bestimmungen in Art 12–16 und schließlich nach Art 11 Abs 3 der VO 883/2004 .

3.4 Ist an sich der ausländische Wohnsitzmitgliedstaat für die Erbringung der Leistungen bei Krankheit zuständig, ist allerdings der Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes zu beachten, das nicht eindeutig den Leistungen bei Krankheit bzw den Leistungen bei Invalidität zugeordnet werden kann (vgl EuGH C‑388/09, da Silva Martins , Rz 48, zum deutschen Pflegegeld). Diese Charakterisierung kann zu einer primärrechtlichen begründeten Leistungspflicht (auch Exportpflicht) des nach den Bestimmungen der VO 883/2004 nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats führen.

3.5 Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitzmitgliedstaats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann nämlich in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 ff AEUV oder der allgemeinen Freizügigkeit von Unionsbürgern gemäß Art 18 ff AEUV handelt (EuGH C‑503/09, Stewart , Rz 77 ff).

3.6 Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt darauf ab, ob die Leistung mit Sondercharakter eine begünstigende Gegenleistung für die in einem bestimmten Mitgliedstaat (hier: Österreich) in ein separates Versicherungssystem eingezahlten Versicherungsbeiträge darstellt. Der Sondercharakter führt (nur) dann zur Leistungszuständigkeit dieses Mitgliedstaats, wenn die betroffene Person diese Vergünstigung deshalb verliert, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Eine Beschränkung der Freizügigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn der aktuelle Wohnsitzmitgliedstaat keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.

3.7 In diesem Sinn ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch gegeben ist. Das Rehabilitationsgeld ist eine Vergünstigung, die eine Gegenleistung für die vom Versicherten in Österreich entrichteten Pensionsversicherungsbeiträge darstellt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes ist im Zuständigkeitswechsel und im Leistungsverlust allein durch die Wohnsitzverlegung eine Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit zu sehen. Der Leistungsverlust wäre auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen. Der Wohnsitzmitgliedstaat Deutschland kennt keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Geldleistung. Die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit ist durch die erworbenen Versicherungszeiten sowie durch den Bezug einer befristeten Invaliditätspension dokumentiert.

3.8 Um die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist der Umstand, dass der Versicherte Versicherungszeiten in Österreich erworben hat, deretwegen überhaupt erst Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht, in die Beurteilung der Leistungszuständigkeit einzubeziehen. Da das Rehabilitationsgeld als Leistung zwischen Krankheit und Invalidität einzuordnen ist und die Anknüpfung an erworbene Versicherungszeiten den Bestimmungen über Leistungen bei Invalidität entsprechen, sind diese Bestimmungen bei der Prüfung der Zuständigkeit für die einzelnen Versicherungszeiten zu beachten.

3.9 Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, haben dem Versicherten die Regeln des Art 45 ff iVm Art 50 ff VO 883/2004 zugute zu kommen. Erfüllte er die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht, ist dieses nach Art 21 Abs 1 der VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

4.1 Diese Grundsätze, die das Berufungsgericht in seiner Entscheidung beachtet hat, treffen auch im vorliegenden Fall zu. Dass der Kläger – anders als im Fall 10 ObS 133/15d – eine deutsche Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, führt zu keinem anderen Ergebnis:

4.2 Im Hinblick auf die Stellung des Klägers als Rentner ergibt sich die Zuständigkeit für Geldleistungen bei Krankheit aus den Sonderkollisionsnormen des Titels III, Kapitel I der VO 883/2004 . Nach Art 29 VO 883/2004 werden Geldleistungen einer Person, die eine Rente oder Renten nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten erhält, vom zuständigen Träger des Mitgliedstaats gewährt, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat, der die Kosten für die dem Rentner in dessen Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen zu tragen hat. Für Sachleistungen aus Krankheit und Mutter‑/Vaterschaft ist gemäß Art 23 der Wohnsitzstaat für einen Rentner zuständig, der (Teil‑)Renten aus mehreren Staaten, inklusive des Wohnsitzstaats, bezieht.

4.3 Demnach ist auch im vorliegenden Fall für den Kläger die Zuständigkeit seines im EU‑Ausland gelegenen Wohnsitzstaats (Deutschlands) für Geldleistungen bei Krankheit gegeben, sodass grundsätzlich kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld gegeben wäre. Im Hinblick auf den Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes kann aber auf die in der Entscheidung 10 ObS 133/15d enthaltenen Aussagen verwiesen werden. Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist unter Anwendung der Art 45 ff iVm Kapitel 5 der VO 883/2004 an die in Österreich erworbenen Versicherungszeiten anzuknüpfen. Da der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht erfüllt, ist dieses nach Art 21 Abs 1 VO 883/2004 nach Deutschland zu exportieren.

Ausgehend davon war die Revision zurückzuweisen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Dass der Kläger in der Revisionsbeantwortung nicht auf die Entscheidung 10 ObS 133/15d hingewiesen hat, schadet nicht, weil diese Entscheidung erst nach Erstattung der Revisionsbeantwortung veröffentlicht wurde (RIS‑Justiz RS0123861).

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