OGH 10ObS62/23z

OGH10ObS62/23z22.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, den Hofrat Mag. Ziegelbauer und die Hofrätin Dr. Faber und die fachkundigen Laienrichter Mag. Lena Steiger (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid‑Wilches (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S*, geboren * 2009, *, vertreten durch Dr. Elisabeth Humer-Rieger, M.B.L., Rechtsanwältin in Linz, als bestellte Verfahrenshelferin, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Pflegegeld, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. März 2023, GZ 11 Rs 20/23 z‑23, mit dem das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 29. August 2022, GZ 7 Cgs 180/22d‑11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00062.23Z.0822.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Anfechtungsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Die in der Ukraine geborene Klägerin kam am 28. 3. 2022 „aus dem ukrainischen Kriegsgebiet“ nach Österreich. Sie und ihre Mutter verfügen über einen vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ausgestellten Ausweis für Vertriebene.

[2] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob sie zum Kreis der – bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen – anspruchsberechtigten Personen nach § 3a Abs 2 BPGG gehört.

[3] Mit Bescheid vom 22. 6. 2022 wies die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 29. 4. 2022 auf Gewährung von Pflegegeld mit Verweis auf den von §§ 3, 3a BPGG erfassten Personenkreis ab.

[4] In ihrer dagegen erhobenen Klage bringt die Klägerin vor, sie sei hinsichtlich ihres Anspruchs auf Pflegegeld österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt.

[5] Die Beklagte beantragte die Klageabweisung mit der Begründung, die Klägerin verfüge über ein auf § 62 AsylG gegründetes befristetes Aufenthaltsrecht, das nicht unter die in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG genannten Aufenthaltstitel falle. Implizit ergibt sich aus ihrem Vorbringen weiters, dass sie eine Gleichstellung im Sinn des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG ablehnt.

[6] Das Erstgericht wies die Klage ab.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es ließ die Revision zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Gleichstellung von Vertriebenen gemäß § 3a Abs 2 BPGG – allenfalls analog – vorliege.

[8] Rechtlich erörterte es, eine zur analogen Anwendung berechtigende Gesetzeslücke in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG liege nicht vor.

[9] Die Klägerin sei auch nicht nach § 3a Abs 2 Z 1 BPGG österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt.

[10] Sie könne sich nicht auf § 29 der Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. 4. 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt dieses Schutzes, ABl L 304 vom 30. 9. 2004, künftig: StatusRL aF; es handelt sich um die Vorgängerbestimmung der StatusRL 2011/95/EU , dazu unten) stützen, weil sie als Vertriebene von deren Anwendungsbereich nicht erfasst sei. Maßgeblich sei die Richtlinie 2001/55/EG (Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. 7. 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, künftig: MassenzustromRL). Nach deren Art 13 Abs 2 Satz 2 erfasse die notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung nur die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten, wovon das Pflegegeld nicht erfasst sei. Auch Art 13 Abs 4 MassenzustromRL biete keine geeignete Anspruchsgrundlage, weil davon ein Geldanspruch für die häusliche Pflege nicht erfasst sei.

[11] Die Klägerin beantragte in ihrer Revision die Abänderung und Klagestattgebung; hilfsweise stellte sie einen Aufhebungsantrag.

[12] Die Beklagte beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Revision der Klägerin ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig, sie ist auch berechtigt.

[14] 1.1. § 3a Abs 1 BPGG gewährt Anspruch auf Pflegegeld auch ohne Grundleistung für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben.

[15] Nach § 3a Abs 2 BPGG sind den österreichischen Staatsbürgern (soweit im vorliegenden Fall relevant) gleichgestellt:

Z 1: Fremde, die nicht unter eine der folgenden Ziffern fallen, insoweit sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen oder Unionsrecht ergibt, oder

[...]

Z 4: Personen, die über einen Aufenthaltstitel

a) „Blaue Karte EU“ gemäß § 42 NAG,

b) „Daueraufenthalt-EG“ gemäß § 45 NAG,

c) „Daueraufenthalt-Familienangehöriger“ gemäß § 48 NAG,

d) „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs 2 NAG oder

e) gemäß § 49 NAG

verfügen.

[16] 1.2. Die in § 3a Abs 2 Z 4 BPGG genannten Fälle betreffen nur jene zusätzlichen Fälle, die nicht bereits durch das unmittelbar anwendbare Staatsvertragsrecht bzw Unionsrecht nach § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfasst werden (10 ObS 116/20m SSV‑NF 34/72; 10 ObS 81/18m).

[17] Im vorliegenden Fall ist daher zunächst zu prüfen, ob die Klägerin zum Personenkreis gemäß § 3a Abs 2 Z 1 BPGG gehört, der aufgrund des Unionsrechts österreichischen Staatsbürgern im Hinblick auf den Anspruch auf Pflegegeld gleichgestellt ist.

[18] 1.3. Zu betrachten sind im vorliegenden Fall im Rahmen der vorzunehmenden allseitigen rechtlichen Prüfung (vgl RS0043352) die MassenzustromRL in Verbindung mit dem im Sinn des Art 5 MassenzustromRL ergangenen Durchführungsbeschluss 2022/382/EU des Rates vom 4. 3. 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinn des Art 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (ABl L 71/1 vom 4. 3. 2022; künftig: Durchführungsbeschluss des Rates) sowie die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 12. 2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl L 337/9; künftig: StatusRL), durch die die vom Berufungsgericht herangezogene StatusRL aF (RL 2004/83/EG ) aufgehoben und neu gefasst wurde (Art 40 StatusRL; vgl 10 ObS 153/13t SSV‑NF 27/87 [ErwGr 2.2.]).

[19] 2.1. Die MassenzustromRL verfolgt das Ziel, Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes in Fällen eines Massenzustroms von Vertriebenen aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, festzulegen und eine ausgewogene Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten zu fördern (Art 1 MassenzustromRL; vgl allgemein zur MassenzustromRL: Feik, Die Ukraine-Vertriebenen-Verordnung, FABL 2022, 1 [7 ff]).

[20] Kern der MassenzustromRL ist die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Sinn ihres Art 2 lit a. Nach dieser Legaldefinition bezeichnet der Ausdruck „vorübergehender Schutz“ ein ausnahmehalber durchzuführendes Verfahren, das im Falle eines Massenzustroms oder eines bevorstehenden Massenzustroms von Vertriebenen aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, diesen Personen sofortigen, vorübergehenden Schutz garantiert, insbesondere wenn auch die Gefahr besteht, dass das Asylsystem diesen Zustrom nicht ohne die Beeinträchtigung seiner Funktionsweise und ohne Nachteile für die betroffenen Personen oder andere um Schutz nachsuchende Personen auffangen kann.

[21] 2.2. Der Inhalt des vorübergehenden Schutzes ergibt sich aus Kapitel III der MassenzustromRL („Pflichten der Mitgliedstaaten gegenüber Personen, die vorübergehenden Schutz genießen“). Vorgesehen sind die Schaffung eines Aufenthaltstitels und Ausstellung von Dokumenten (Art 8), Information (Art 9), Gestattung der Ausübung einer Erwerbstätigkeit (Art 12), soziale Rechte im Bereich der Wohnversorgung, Sozialleistungen und medizinischen Versorgung (Art 13, dazu unten) und Bildung (Art 14).

[22] 2.3. Der von der MassenzustromRL erfasste Personenkreis ist nicht in der Richtlinie selbst geregelt. Nach Art 5 Abs 1 MassenzustromRL wird das Vorliegen eines Massenzustroms vielmehr durch einen Beschluss des Rates festgestellt. Dieser Beschluss umschreibt den erfassten Personenkreis; darüber hinaus gestattet Art 7 MassenzustromRL den Mitgliedstaaten, den vorübergehenden Schutz weiteren, vom Beschluss des Rates nicht erfassten, Personengruppen zu gewähren.

[23] Am 4. 3. 2023 fasste der Rat den hier gegenständlichen Durchführungsbeschluss nach Art 5 Abs 1 MassenzustromRL, mit dem er das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen in die Union feststellte, die infolge eines bewaffneten Konflikts die Ukraine verlassen mussten (Art 1 Durchführungsbeschluss).

[24] Nach Art 2 Abs 1 lit a des Durchführungsbeschlusses gilt der vorübergehende Schutz für ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24. 2. 2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten und am oder nach dem 24. 2. 2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte, die an diesem Tag begann, aus der Ukraine vertrieben wurden.

[25] Die Klägerin ist von dieser Personengruppe unstrittig erfasst.

[26] 2.4. Die MassenzustromRL findet ihre österreichische Entsprechung im Bereich des Aufenthaltsrechts in § 62 AsylG und der darin (Abs 1) enthaltenen Verordnungsermächtigung, nach der für Zeiten eines bewaffneten Konflikts oder sonstiger die Sicherheit ganzer Bevölkerungsgruppen gefährdender Umstände den davon unmittelbar betroffenen Gruppen von Fremden, die anderweitig keinen Schutz finden (Vertriebene), ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet gewährt werden kann. Auf dieser Grundlage wurde die Verordnung der Bundesregierung über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht für aus der Ukraine Vertriebene (VertriebenenV, BGBl II 2022/92 idF BGBl II 2023/27) erlassen, die ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht bis (derzeit) 4. 3. 2024 gewährt.

[27] Aus der Ukraine Vertriebene sind von der Grundversorgung erfasst (vgl Haller/Binder, Vertriebene aus der Ukraine und das österreichische Asylsystem – Einordnung und Vergleich, BlogAsyl, 9. 6. 2022, unter „3.3. Versorgung“). Im Bereich der Krankenversicherung wurden sie in die Verordnung über die Durchführung der Krankenversicherung für die gemäß § 9 ASVG in die Krankenversicherung einbezogenen Personen aufgenommen (BGBl II 2022/104). Darüber hinaus haben die im Sinn der VertriebenenV aus der Ukraine vertriebenen Personen für die Dauer des vorübergehenden Schutzes Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld (§ 2 Abs 1 Z 5 lit d KBGG) und Familienbeihilfe (§ 3 Abs 7 FLAG).

[28] 2.5. Das Berufungsgericht ging davon aus, dass die Klägerin als Vertriebene nicht vom Anwendungsbereich der StatusRL erfasst sei, weil (ausschließlich) die MassenzustromRL zur Anwendung komme.

[29] Diese Rechtsansicht war für seine Entscheidung deshalb von Bedeutung, weil die Rechtsprechung Personen, denen zuvor gemäß § 8 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden war, auf der Grundlage von Artt 28, 29 StatusRL aF (RL 2004/83/EG ) und Artt 29, 30 StatusRL 2011/95/EU als vom Personenkreis des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfasst beurteilt. Diese Personen haben daher bei Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen einen Anspruch auf Pflegegeld (10 ObS 153/13t SSV‑NF 27/87 [ErwGr 5]; 10 ObS 161/13v [ErwGr 5] DRdA 2014/44, 435 [Windisch-Graetz/Mrvosevic]; 10 ObS 1/14s [ErwGr 5]; vgl 10 ObS 3/14k).

[30] 2.6. Die StatusRL regelt die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz (wobei unter internationalem Schutz gemäß Art 2 lit a StatusRL die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus, jeweils im Sinn des Art 2 lit e und g zu verstehen ist), einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie den Inhalt des zu gewährenden Schutzes.

[31] Der (an Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz im Sinn des Art 2 lit f StatusRL) zuzuerkennende subsidiäre Schutzstatus (Art 2 lit g StatusRL) ist gegenüber der (materiellen) Qualifikation als Flüchtling (gemäß Art 2 lit d StatusRL) und der (bloß deklarativ, vgl ErwGr 21 StatusRL) zuerkannten Flüchtlingseigenschaft (Art 2 lit e StatusRL) subsidiär: Anspruch auf subsidiären Schutz haben Personen, die (zusammengefasst) die Voraussetzung für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllen, aber bei Rückkehr in ihr Herkunftsland Gefahr laufen, einen ernsthaften Schaden, worunter die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts fällt (Art 15 lit c StatusRL), zu erleiden (vgl Art 2 lit f StatusRL).

[32] Art 29 StatusRL verpflichtet die Mitgliedstaaten, Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde, die „notwendige Sozialhilfe“ wie Staatsangehörigen des Mitgliedstaats zu gewährleisten, wobei die Leistung für Personen, denen (nur) der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde, auf Kernleistungen beschränkt werden kann (ebenso Art 28 StatusRL aF). Nach Art 30 StatusRL haben die Mitgliedstaaten zugunsten von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde, für den Zugang zu medizinischer Versorgung zu denselben Bedingungen wie die eigenen Staatsangehörigen Sorge zu tragen. Nach Art 29 Abs 2 StatusRL aF bestand auch in diesem Bereich die Möglichkeit der Einschränkung auf Kernleistungen gegenüber Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde; diese Möglichkeit ist mit der Neufassung der StatusRL entfallen.

[33] 2.7. Zum Verhältnis der StatusRL zur MassenzustromRL ist klarzustellen, dass der vorübergehende Schutz nach der MassenzustromRL nicht die Anerkennung des Flüchtlingsstatus im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention berührt (Art 3 MassenzustromRL). Vertriebene im Sinn der MassenzustromRL können auch in den Anwendungsbereich von „sonstigen internationalen oder nationalen Instrumenten, die internationalen Schutz gewähren“, fallen. Dies gilt insbesondere für Personen, die aus Gebieten geflohen sind, in denen ein bewaffneter Konflikt oder dauernde Gewalt herrscht (Art 2 lit c MassenzustromRL). Nach Art 17 Abs 1 MassenzustromRL ist zu gewährleisten, dass Personen, die vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießen, jederzeit einen Asylantrag stellen können.

[34] Aus all dem folgt, dass von der MassenzustromRL erfasste Personen bei Erfüllung der materiellen Voraussetzungen auch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (im österreichischen Recht gemäß § 8 AsylG) erlangen können. Das AsylG normiert lediglich eine Hemmung der Verfahrensfristen für Vertriebene im Sinn der MassenzustromRL und der Verordnung nach § 62 AsylG (§ 22 Abs 8 AsylG; vgl Frik, Zugang zum Asylverfahren für Vertriebene aus der Ukraine, juridikum 2023, 12 ff). Eine Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 AsylG an Vertriebene im Sinn der MassenzustromRL bzw der VertriebenenV ist daher auch während der Dauer des vorläufigen Schutzes möglich (vgl etwa BVerwG 17. 3. 2023, W196 2218435-1).

[35] 2.8. Allerdings gelten die in Artt 28, 29 StatusRL normierten Rechte nur für Personen, denen aufgrund des materiellen Vorliegens der einen oder anderen Schutzform (als Flüchtling oder Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz) internationaler Schutz zuerkannt, denen also ein Status verliehen wurde (vgl Frühwirth, Temporärer und internationaler Schutz – Ein Überblick am Beispiel von Schutzsuchenden aus der Ukraine, BlogAsyl, 2. Mai 2022, unter „Individualisiertes Verfahren“). Die weiteren Rechte knüpfen demnach nicht nur hinsichtlich der subsidiär Schutzberechtigten, sondern auch hinsichtlich der Konventionsflüchtlinge an die Zuerkennung eines Status an, auch wenn die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus aufgrund der Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention nur deklarativ erfolgt (vgl ErwGr 21 StatusRL).

[36] 2.9. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Akteninhalt keine Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 AsylG an die Klägerin.

[37] Die Frage der Erforderlichkeit einer förmlichen Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus muss im vorliegenden Fall allerdings nicht näher erörtert werden, weil die Einbeziehung der Klägerin in den Personenkreis gemäß § 3a Abs 2 Z 1 BPGG bereits aus der MassenzustromRL zu gewinnen ist.

3.1. Art 13 MassenzustromRL lautet:

„Abs 1 […]

Abs 2: Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, die notwendige Hilfe in Form von Sozialleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie im Hinblick auf die medizinische Versorgung erhalten, sofern sie nicht über ausreichende Mittel verfügen. Unbeschadet des Absatzes 4 umfasst die notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung mindestens die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten.

Abs 3: Üben die Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, eine abhängige oder selbständige Erwerbstätigkeit aus, so ist bei der Festlegung der beabsichtigten Unterstützung ihrer Fähigkeit, selbst für ihren Unterhalt aufzukommen, Rechnung zu tragen.

Abs 4: Die Mitgliedstaaten gewähren Personen, die vorübergehenden Schutz genießen und besondere Bedürfnisse haben, beispielsweise unbegleitete Minderjährige oder Personen, die Opfer von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schwerwiegenden Formen psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt geworden sind, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe.“

[38] Nach ErwGr 15 MassenzustromRL sollen die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Aufnahme und den Aufenthalt von Personen, die im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen durch den vorübergehenden Schutz begünstigt werden, „angemessen sein und den betreffenden Personen ein adäquates Schutzniveau bieten“.

[39] 3.2. Das Berufungsgericht erachtete im vorliegenden Fall die „notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung“ gemäß Art 13 Abs 2 MassenzustromRL als einschlägig. Das Pflegegeld sah es als von der Verpflichtung des Schutz gewährenden Mitgliedstaats nicht erfasst an, weil die notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung – als Mindeststandard – nur die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten zu umfassen hat (Art 13 Abs 2 Satz 2 MassenzustromRL), worunter es das Pflegegeld nicht subsumierte. Auch von der „erforderlichen medizinischen oder sonstigen Hilfe“ gemäß Art 13 Abs 4 MassenzustromRL sah es das Pflegegeld nicht als erfasst an.

[40] 3.3. Es trifft zu, dass der EuGH in den Rs Jauch (EuGH C‑215/99 vom 8. 3. 2001) und Hosse (C‑286/03 vom 21. 2. 2006) das (Bundes- ebenso wie das Landes-)Pflegegeld unter die Kategorie der Leistungen bei Krankheit im Sinn der damals noch geltenden Wanderarbeit-nehmerVO (EWG) 1408/71 (aktuell VO 883/2004 ) einreihte. Diese Auslegung erfolgte ausgehend von den in Art 4 Abs 1 VO 1408/71 (aktuell Art 3 Abs 1 VO 883/2004 ) aufgezählten Zweigen der sozialen Sicherheit. Daraus ist aber noch nicht zwingend abzuleiten, dass das Pflegegeld bei der Auslegung anderer Unionsrechtsakte, die nicht der Sozialrechtskoordinierung, sondern der Festlegung bestimmter Leistungspflichten dienen, die anders als nach dem Zweig der sozialen Sicherheit, dem sie zugehören, umschrieben sind, zwingend als „medizinische Versorgung“ (vgl Art 13 Abs 2 MassenzustromRL) im Gegensatz zu anders definierten Kategorien von Leistungen zu qualifizieren wäre.

[41] So prüfte der Oberste Gerichtshof in den zu ErwGr 3.6. zitierten Entscheidungen die Frage, ob Personen mit subsidiärem Schutzstatus vom Personenkreis gemäß § 3a Abs 2 lit a BPGG erfasst sind und daher bei Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen einen Anspruch auf Pflegegeld haben, in der Zusammenschau der Art 28 („Sozialhilfeleistungen“) und Art 29 („Medizinische Versorgung“) der StatusRL aF (RL 2004/83/EG ).

[42] 3.4. Im vorliegenden Fall kommt es aber gar nicht darauf an, ob das Pflegegeld von der „notwendige[n] Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung“ oder der „notwendige[n] Hilfe in Form von Sozialleistungen“ gemäß Art 13 Abs 2 MassenzustromRL erfasst ist, weil Art 13 Abs 4 MassenzustromRL eine Sonderregelung für Personen enthält, die vorübergehenden Schutz genießen und besondere Bedürfnisse haben: Diese Personen haben nach Art 13 Abs 4 MassenzustromRL einen Anspruch auf „die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe“, die nach der ausdrücklichen Anordnung des Art 13 Abs 2 Satz 2 MassenzustromRL jedenfalls über den Mindeststandard der „notwendige[n] Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung“ hinausgeht.

[43] 3.5. Die Aufzählung der Personen mit besonderen Bedürfnissen in Art 13 Abs 4 MassenzustromRL ist demonstrativ ausgestaltet („beispielsweise“). Sie unterstellt den darin aufgezählten Personengruppen – unbegleiteten Minderjährigen sowie Personen, die besondere Formen von Gewalt erlebt haben – typisiert einen gesteigerten Hilfsbedarf. Ein besonderer Hilfsbedarf besteht aber – unabhängig von den diesem Bedarf zugrunde liegenden Gründen – auch bei Personen, die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung einen ständigen Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) im Sinn des § 4 Abs 1 BPGG haben. Diese Personengruppe ist daher von Art 13 Abs 4 MassenzustromRL erfasst.

[44] 3.6. Für die Beurteilung der Frage, ob es sich beim Pflegegeld um eine im Sinn des Art 13 Abs 4 MassenzustromRL „erforderliche“ Hilfe handelt, ist auf die Wertungen zurückzugreifen, die der Rechtsprechung zur Einbeziehung von subsidiär Schutzberechtigten in den anspruchsberechtigten Personenkreis gemäß § 3a BPGG zugrunde liegen (10 ObS 153/13t SSV-NF 27/87; 10 ObS 161/13v DRdA 2014/44, 435 [Windisch-Graetz/ Mrvosevic]; 10 ObS 1/14s; 10 ObS 3/14k). Danach zählt das Pflegegeld zu den „Kernleistungen“ bei Krankheit im Sinn des Art 29 Abs 2 StatusRL aF (RL 2004/83/EG ).

[45] Diese Wertung als „Kernleistung“ ist auch ausschlaggebend dafür, das Pflegegeld im vorliegenden Zusammenhang als Leistung anzusehen, die für die Gruppe der pflegebedürftigen Personen als „erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe“ im Sinn des Art 13 Abs 4 MassenzustromRL zu qualifizieren ist.

[46] 3.7. Dies gebietet eine Auslegung des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG, die dem durch das Unionsrecht gebotenen Ergebnis gerecht wird; die definierte Personengruppe ist daher im Hinblick auf den Anspruch auf Pflegegeld aufgrund unionsrechtlicher Erwägungen den österreichischen Staatsbürgern gleichzustellen.

[47] Die zur Gewährung von Pflegegeld an Personen mit subsidiärem Schutzstatus geäußerten methodischen Bedenken gegen eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG bei Fehlen einer ausdrücklichen Gleichstellung mit österreichischen Staatsbürgern in der relevanten unionsrechtlichen Bestimmung (Windisch-Graetz/Mrvosevic, Anm zu 10 ObS 161/13v DRdA 2014/44, 436 f, die allerdings aufgrund der Annahme einer unmittelbaren Richtlinien-Wirkung zum selben Ergebnis kommen) stehen einer solchen Auslegung angesichts des Gebots, der Wirksamkeit des Unionsrechts zum Durchbruch zu verhelfen, nicht entgegen.

[48] 4.1. Ergebnis: Personen, die vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießen, zählen zu dem gemäß § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis und haben daher bei Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen einen Anspruch auf Pflegegeld.

[49] 4.2. Auf § 3a Abs 2 Z 4 BPGG ist daher im vorliegenden Fall nicht einzugehen.

[50] 4.3. Da die Klägerin zu dem von § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis gehört, kommt eine Klageabweisung aus dem von den Vorinstanzen herangezogenen Grund nicht in Betracht. Das Verfahren erweist sich vielmehr als ergänzungsbedürftig, weil keine Feststellungen zum Pflegebedarf der Klägerin getroffen wurden.

[51] Die Revision ist daher im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[52] 5. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

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