European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00060.21B.0729.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Strittig ist im Revisionsverfahren noch, ob Österreich für den Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld aus Anlass der Geburt ihres Sohnes V***** am 21. 6. 2017 für den Zeitraum von 30. 8. 2017 bis 20. 4. 2019 international zuständig ist (Standpunkt der Klägerin) oder ob diese Zuständigkeit aufgrund einer „Scheinkarenz“ der Klägerin nicht mehr gegeben war (Standpunkt der beklagten Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen).
[2] Die Klägerin verfügte seit 30. 11. 2009 über eine Gewerbeberechtigung als Personenbetreuerin und unterlag der Pflichtversicherung gemäß § 2 Abs 1 Z 1 GSVG. Ausgenommen von der Pflichtversicherung waren vor der Geburt ihres Sohnes lediglich die Zeiträume von 31. 3. bis 30. 5. 2010 und von 12. 10. bis 16. 12. 2010. Aus Anlass der Geburt ihres Sohnes bezog die Klägerin von 9. 5. 2017 bis 29. 8. 2017 Wochengeld, danach von 30. 8. 2017 bis 20. 4. 2019 pauschales Kinderbetreuungsgeld in Höhe von gesamt 3.048,73 EUR. In diesem Zeitraum übte die Klägerin keine kranken‑ und pensionsversicherungspflichtige selbständige Erwerbstätigkeit in Österreich aus.
[3] Am 31. 5. 2019 meldete die Klägerin rückwirkend per 30. 11. 2017 das Gewerbe als ruhend und zeigte gleichzeitig ab 1. 6. 2019 (nachträglich korrigiert auf 5. 6. 2019) den Wiederbetrieb an. Ab 5. 6. 2019 war die Klägerin in Österreich 14 Tage als Personenbetreuerin beschäftigt. Ab 30. 6. 2019 war die Gewerbeberechtigung der Klägerin nach dem unbestrittenen Vorbringen der Beklagten wieder ruhend gemeldet. Nach dem 30. 6. 2019 bestand keine Pflichtversicherung der Klägerin gemäß § 2 Abs 1 Z 1 GSVG.
[4] Das Erstgericht traf folgende Negativfeststellung:
[5] „Es kann nicht festgestellt werden, dass die Klägerin vor hatte, unmittelbar nach dem zweiten Geburtstag ihres Sohnes die Erwerbstätigkeit in Österreich wieder aufzunehmen.“
[6] Mit Bescheid vom 28. 2. 2020 widerrief die Beklagte das der Klägerin zuerkannte pauschale Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 30. 8. 2017 bis 20. 4. 2019 und forderte dessen Rückersatz in Höhe von 3.048,73 EUR.
[7] Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass der Rückersatzanspruch nicht zu Recht bestehe.
[8] Die Beklagte wandte dagegen im Wesentlichen ein, dass der Klägerin die Rückkehrabsicht gefehlt habe, sodass eine bloße Scheinkarenz vorliege, die gemäß § 24 Abs 3 KBGG keine Zuständigkeit Österreichs auslöse.
[9] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und verpflichtete die Klägerin zum Rückersatz des für den Zeitraum von 30. 8. 2017 bis 20. 4. 2019 zu Unrecht bezogenen pauschalen Kinderbetreuungsgeldes in Höhe von 3.048,73 EUR an die Beklagte. Aus den Feststellungen ergebe sich kein Wille der Klägerin, nach Ablauf des zweiten Lebensjahres ihres Kindes nach Österreich zurückzukehren und ihre Erwerbstätigkeit wieder aufzunehmen, sodass eine Scheinkarenz vorliege.
[10] Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil über Berufung der Klägerin im Umfang der im Revisionsverfahren noch strittigen Rückforderung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes für den Zeitraum von 30. 8. 2017 bis 20. 4. 2019 im klagestattgebenden Sinn ab. Es sei Sache der Beklagten, eine Scheinkarenz der Klägerin nicht nur zu behaupten, sondern auch zu beweisen. Dieser Beweis sei der Beklagten ausgehend von der vom Erstgericht getroffenen, oben wiedergegebenen Negativfeststellung nicht gelungen.
[11] In ihrer gegen dieses Urteil erhobenen außerordentlichen Revision zeigt die Beklagte keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:
Rechtliche Beurteilung
[12] 1. Den Begriff der „Scheinkarenz“ definiert der Gesetzgeber in § 24 Abs 3 KBGG nicht. Bei einer „Scheinkarenz“ wird nach der Rechtsprechung die vorübergehende Unterbrechung der Tätigkeit zum Zweck der Kindererziehung nur vorgetäuscht, obwohl realiter von einer Beendigung der Tätigkeit auszugehen ist (10 ObS 130/18t SSV‑NF 33/4). Ob eine Täuschung in diesem Sinn vorliegt, kann immer nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden (vgl RS0014790 [T4]). Einzelfallbezogene Fragen sind nur dann vom Obersten Gerichtshof aufzugreifen, wenn das Gericht zweiter Instanz von dem von der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung vorgegebenen Rahmen abgewichen ist. Das ist hier nicht der Fall.
[13] 2. Die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts, dass eine Zuständigkeit Österreichs nach der hier anwendbaren Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für die Auszahlung von Familienleistungen nur besteht, wenn in Österreich eine selbständige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt wurde, oder eine gleichgestellte Situation im Sinn des § 24 Abs 2 KBGG vorliegt, und dass eine Scheinkarenz im Sinn des § 24 Abs 3 KBGG keine österreichische Zuständigkeit auslöst, wurde von den Parteien bereits im Berufungsverfahren nicht in Frage gestellt. Die Revisionswerberin stellt auch die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen einer bloßen Scheinkarenz im Sinn des § 24 Abs 3 KBGG nach den allgemeinen Beweislastregeln die Beklagte trifft (vgl RS0018084), nicht in Frage.
[14] 3.1 Die Revisionswerberin führt aus, dass das maßgebliche Kriterium für das Vorliegen einer Scheinkarenz der fehlende Rückkehrwille sei. Unter Beachtung sämtlicher – wenn auch teilweise dislozierter – Feststellungen des Erstgerichts ergebe sich im vorliegenden Fall, dass der Klägerin ein Rückkehrwille von Vornherein gefehlt habe, sodass ihr Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht zu Recht bestehe. Das Berufungsgericht sei jedoch in mangelhafter, aktenwidriger und rechtswidriger Weise nur von einer Negativfeststellung, nicht aber von sämtlichen vom Erstgericht getroffenen Feststellungen ausgegangen, sodass es den Rückersatzanspruch der Beklagten zu Unrecht verneint habe.
[15] 3.2 Mit diesen Ausführungen wendet sich die Beklagte gegen die vom sBerufungsgericht vorgenommene Auslegung der Feststellungen des Erstgerichts. Die Auslegung der in einer gerichtlichen Entscheidung enthaltenen Feststellungen ist aber jeweils einzelfallbezogen und bildet regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage (RS0118891 [T4]). Dies betrifft auch die Frage, ob eine einzelne Ausführung in einem Urteil eine Tatsachenfeststellung ist, oder nicht: Die Zuordnung einzelner Teile eines Urteils zu den Feststellungen hängt nicht von seinem Aufbau ab (RS0043110). Auch in der Beweiswürdigung oder in der rechtlichen Beurteilung enthaltene, aber eindeutig dem Tatsachenbereich zuzuordnende Ausführungen sind als Tatsachenfeststellungen zu behandeln (sogenannte „dislozierte Feststellungen“, RS0043110 [T2; T3]). Für die Beurteilung, ob es sich bei außerhalb der Feststellungen vorzufindenden Urteilsausführungen um Tatsachenfeststellungen handelt, kommt es – wiederum im konkreten Einzelfall – auf die Qualität der Aussage in den Entscheidungsgründen eines Urteils an (10 ObS 67/17a mwH).
[16] 3.3 Anders als die von der Revisionswerberin für ihren Standpunkt genannten Ausführungen des Erstgerichts in der Beweiswürdigung und in seiner rechtlichen Beurteilung, hat das Erstgericht die oben wiedergegebene Negativfeststellung zum Rückkehrwillen der Klägerin ausdrücklich in seine – als solche auch bezeichneten – Feststellungen aufgenommen. Die Klägerin hat in ihrer Berufung (auch) eine gesetzmäßige Rechtsrüge ausgeführt (§ 468 Abs 2 Satz 2 ZPO). In einem solchen Fall ist der Berufungsgegner nach § 468 Abs 2 ZPO gehalten, bereits in der Berufungsbeantwortung ihm vermeintlich nachteilige Feststellungen zu bekämpfen und allfällige erstinstanzliche Verfahrensfehler bei der Ermittlung der für ihn nachteiligen Tatsachenfeststellungen zu rügen (RS0112020 [T9]). Die Beklagte hat jedoch in der Berufungsbeantwortung die genannte Negativfeststellung nicht angefochten.
[17] 3.4 Die von der Beklagten für ihren Standpunkt ins Treffen geführten Ausführungen in der Beweiswürdigung und in der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts hat das Berufungsgericht nicht übergangen, was schon daraus erkennbar ist, dass es die in der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts enthaltenen Ausführungen in seiner Entscheidung wiedergegeben hat. Die Ausführungen des Erstgerichts in seiner Beweiswürdigung und rechtlichen Beurteilung sprechen auch nicht mit der geforderten Eindeutigkeit gegen einen Rückkehrwillen der Klägerin, weil das Erstgericht in anderen Passagen seiner Beweiswürdigung auf fehlende oder unrichtige Informationen der Klägerin hinweist, woraus sich aber nicht ein (absichtliches) Vortäuschen einer karenzähnlichen Situation, sondern lediglich ein (irrtümliches) Agieren der Klägerin ergäbe.
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