OGH 10ObS48/16f

OGH10ObS48/16f21.2.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Dr. Schramm als Vorsitzenden, den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr und die Hofrätin Dr. Fichtenau sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Karl Schmid (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch den Sachwalter Dr. Christian Burghardt, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 17. Februar 2016, GZ 10 Rs 94/15i‑34, womit das Urteil des Arbeits‑ und Sozialgerichts Wien vom 26. Juni 2015, GZ 10 Cgs 148/14y‑31, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:010OBS00048.16F.0221.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die am 24. Mai 1968 geborene Klägerin war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. Juni 2014) überwiegend als Küchenhilfe beschäftigt.

Mit Bescheid vom 13. August 2014 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin vom 12. Mai 2014 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab und sprach aus, dass vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege; ein Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation bestehe nicht; Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig.

Kurz nach Einbringung der Klage gegen diesen Bescheid ist die Klägerin nach Deutschland gezogen.

Das Erstgericht wies das auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. Juni 2014 gerichtete Klagebegehren ab und stellte fest, dass ab 1. Juni 2014 vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliege. Es sprach aus, dass ein Anspruch der Klägerin auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation insofern bestehe, als ihr die entsprechende Depotmedikamentation weiter zu gewähren sei; Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation seien nicht zweckmäßig; ab dem 1. Juni 2014 bestehe für die weitere Dauer der vorübergehenden Invalidität ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei nicht Folge und ließ die Revision zu.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Klägerin nicht beantwortete Revision der beklagten Partei ist mangels einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

1. Im Revisionsverfahren strittig ist nur noch die Frage der Exportfähigkeit des Rehabilitationsgeldes ins EU‑Ausland.

Der Oberste Gerichtshof hat zu dieser Frage in der am 20. Dezember 2016 zu AZ 10 ObS 133/15d (somit nach Einbringung der Revision) ergangenen Entscheidung ausführlich Stellung genommen.

Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte die dortige Klägerin in Österreich Versicherungszeiten erworben, dann von der beklagten Partei eine befristete Invaliditätspension bezogen, an die der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar anschließen sollte. Der Wohnsitz der Klägerin lag – jedenfalls bei Antragstellung auf Weitergewährung – im EU‑Ausland (in der Bundesrepublik Deutschland).

Der Oberste Gerichtshof kam zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:

1.1. Im Kontext der Sozialrechtskoordinierung stellt das Rehabilitationsgeld eine Geldleistung bei Krankheit im Sinne des Art 3 Abs 1 lit a der VO (EG) 883/2004 dar. Diese Einordnung als Geldleistung bei Krankheit hat Auswirkungen auf die unionsrechtliche Leistungs-zuständigkeit nach der VO 883/2004 .

1.2. Grundsatz der Koordinierungsregelungen der VO 883/2004 ist nach ihrem Artikel 11 Abs 1, dass Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegen.

1.3. Welche Rechtsvorschriften anwendbar sind, bestimmt sich zunächst nach den Sonderkollisionsnormen der Titel III und V der VO 883/2004 , dann nach den Bestimmungen in Art 12–16 und schließlich nach Art 11 Abs 3 der VO 883/2004 selbst.

2.1. Ist an sich der ausländische Wohnsitzmitgliedstaat für die Erbringung der Leistung bei Krankheit zuständig, ist allerdings der Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes zu beachten, das nicht eindeutig den Leistungen bei Krankheit bzw die Leistungen bei Invalidität zugeordnet werden kann (vgl EuGH 30. 6. 2011, C‑388/09, da Silva Martins Rz 48 zum deutschen Pflegegeld). Diese Charakterisierung kann zu einer Leistungspflicht (auch Exportpflicht) des nach den Bestimmungen der VO 883/2004 nicht leistungszuständigen Mitgliedstaats führen.

2.2. Die Annahme einer alleinigen Zuständigkeit des ausländischen Wohnsitzmitgliedstaats und der damit einhergehende Leistungsverlust trotz bereits im Inland erworbener Versicherungszeiten kann nämlich in bestimmten Fällen die primärrechtlich verbürgte unionsrechtliche Freizügigkeit beschränken. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um die Inanspruchnahme der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art 45 ff AEUV oder der allgemeinen Freizügigkeit von Unionsbürgern gemäß Art 18 ff AEUV handelt (EuGH 21. 7. 2011, C‑503/09, Stewart, Rz 77 ff).

2.3. Der EuGH stellt darauf ab, ob die Leistung mit Sondercharakter eine begünstigende Gegenleistung für die in einem bestimmten Mitgliedstaat (hier: Österreich) in ein separates Versicherungssystem eingezahlten Versicherungs-beiträge darstellt. Der Sondercharakter führt (nur) dann zur Leistungszuständigkeit dieses Mitgliedstaats, wenn die betroffene Person diese Vergünstigung deshalb verliert, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, indem sie ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt. Eine Beschränkung der Freizügigkeit wird insbesondere dann vorliegen, wenn der aktuelle Wohnsitzmitgliedstaat keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Leistung kennt.

3. In diesem Sinn ist im Einzelfall zu prüfen, ob ein primärrechtlich fundierter Exportanspruch gegeben ist.

3.1. Das Rehabilitationsgeld ist eine Vergünstigung, die eine Gegenleistung für die vom Versicherten in Österreich entrichteten Pensions-versicherungsbeiträge darstellt. Aufgrund des Sondercharakters des Rehabilitationsgeldes ist im Zuständigkeitswechsel und Leistungsverlust allein durch die Wohnsitzverlegung eine Beschränkung der primärrechtlichen Freizügigkeit zu sehen. Der Leistungsverlust wäre auf die Inanspruchnahme der Freizügigkeit zurückzuführen. Der Wohnsitzmitgliedstaat Deutschland kennt keine dem Rehabilitationsgeld entsprechende Geldleistung. Die Nahebeziehung zum österreichischen System der sozialen Sicherheit ist durch die erworbenen Versicherungszeiten sowie durch den Bezug einer befristeten Invaliditätspension dokumentiert.

3.2. Um die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist der Umstand, dass der Versicherte Versicherungszeiten in Österreich erworben hat, deretwegen überhaupt erst Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht, in die Beurteilung der Leistungszuständigkeit einzubeziehen. Da das Rehabilitationsgeld als Leistung zwischen Krankheit und Invalidität einzuordnen ist und die Anknüpfung an erworbene Versicherungszeiten den Bestimmungen über Leistungen bei Invalidität entspricht, sind diese Bestimmungen bei der Prüfung der Zuständigkeit für die einzelnen Versicherungszeiten zu beachten.

3.3. Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, haben dem Versicherten die Regeln der Art 45 ff iVm Art 50 ff VO 883/2004 zugute zu kommen. Erfüllt er die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht, ist dieses nach Art 21 Abs 1 der VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

4. Diese Aussagen treffen auch auf den vorliegenden Fall zu.

Im Vergleich zur Entscheidung 10 ObS 133/15d ist der vorliegende Fall dadurch gekennzeichnet, dass der Rehabilitationsgeldbezug unmittelbar an eine Zeit ohne Leistungsbezug oder aufrechtem Versicherungsverhältnis in Österreich anschließen soll (nach den Feststellungen ist unklar, ob die Klägerin knapp zwei Monate zuvor in Österreich Notstandshilfe und Krankengeld bezogen hatte).

Im Hinblick auf den Sondercharakter des Rehabilitationsgeldes kann aber auf die in der Entscheidung 10 ObS 133/15d enthaltenen Aussagen verwiesen werden. Durch Inanspruchnahme der Freizügigkeit durch die Klägerin würde es – folgte man der Rechtsansicht der beklagtenPartei – zu einem Leistungsverlust kommen, obwohl die Klägerin österreichische Versicherungszeiten erworben hat, wie sie für den Anspruch auf Rehabilitationsgeld vorausgesetzt werden. Um den Leistungsverlust zu verhindern und die Vereinbarkeit mit dem Primärrecht herzustellen, ist unter Anwendung der Art 45 ff iVm Kapitel 5 der VO 883/2004 an die in Österreich erworbenen Versicherungszeiten anzuknüpfen.

5. Da die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen für das Rehabilitationsgeld nach nationalem Recht erfüllt, ist dieses nach Art 21 Abs 1 VO 883/2004 in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren.

6. Eine zur Zeit der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich erhebliche Rechtsfrage fällt weg, wenn sie durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs – hier durch die Entscheidung 10 ObS 133/15d – mittlerweile geklärt wurde (RIS‑Justiz RS0112921 [T5]).

Die Revision war daher zurückzuweisen.

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Dass der Kläger in der Revisionsbeantwortung nicht auf die Entscheidung 10 ObS 133/15d hingewiesen hat, schadet nicht, weil diese Entscheidung erst nach Erstattung der Revisionsbeantwortung veröffentlicht wurde (RIS‑Justiz RS0123861).

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