Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.
Text
Begründung
Mit Bescheid vom 14.2.1994 gewährte die beklagte Partei dem Kläger ab 1.7.1993 Pflegegeld in Höhe der Stufe 2 nach dem Wiener Pflegegeldgesetz (WPGG) LGBl 1993/42.
Das Erstgericht wies die auf Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 gerichtete Klage wegen Unzulässigkeit des Rechtsweges zurück.
Das Rekursgericht wies den Antrag des Klägers, beim Verfassungsgerichtshof die Aufhebung des § 4 WPGG wegen Verfassungswidrigkeit zu beantragen, zurück und gab dem Rekurs des Klägers nicht Folge.
Im Revisionsrekurs macht der Kläger unrichtige rechtliche Beurteilung geltend. Er regt an, beim Verfassungsgerichtshof die Überprüfung der Verfassungsgemäßheit des § 4 WPGG zu beantragen. Weiters beantragt er, den angefochtenen Beschluß dahin abzuändern, daß der erstgerichtliche Zurückweisungsbeschluß aufgehoben und dem Erstgericht die Einleitung des Verfahrens aufgetragen wird; hilfsweise möge der angefochtene Beschluß aufgehoben werden.
Der nach § 47 Abs 2 ASGG zulässige Revisionsrekurs ist nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Die rechtliche Beurteilung des Rekursgerichtes ist richtig (§ 48 ASGG).
Der erkennende Senat hat sich in der E 20.9.1994, 10 Ob S 126/94 unter eingehender Darstellung der Materialien und der Literatur ausführlich mit der Verfassungsgemäßheit des § 4 Abs 4 Bundespflegegeldgesetz (BPGG) auseinandergesetzt und dazu ua ausgeführt:
"Nach § 19 ABGB steht es jedem, der sich in seinem Rechte gekränkt zu sein erachtet, frei, seine Beschwerde vor der durch die Gesetze bestimmten Behörde anzubringen. Gemäß Art 83 Abs 2 B-VG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Laut Art 6 Abs 1 Satz 1 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 4.11.1950 BGBl 1958/210 (MRK) hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen... zu entscheiden hat. Nach Art 7 Abs 1 B-VG sind alle Bundesbürger vor dem Gesetz gleich.
Diese Grundsätze werden durch § 4 Abs 4 BPGG nicht verletzt. Daß es jedem, der sich in seinem Rechte gekränkt zu sein erachtet, nach § 19 ABGB freisteht, seine Beschwerde vor der durch die Gesetze bestimmten Behörde anzubringen, bedeutet nur, daß jedes (behauptete) Recht grundsätzlich behördlich geltend gemacht werden kann, aber nicht notwendig, daß es klagbar sein muß. Nach österreichischem Recht bedarf es daher im Gegensatz zum römischen Recht nicht einer besonderen actio, damit man es geltend machen kann. Es bedarf vielmehr einer besonderen gesetzlichen Bestimmung, um die Geltendmachung auszuschließen (Wolff in Klang2 I/1, 141f). Nach österreichischem Recht sind nicht alle Schulden mit der Möglichkeit zwangsweiser Durchsetzung ausgestattet. Es gibt sog natürliche oder unvollkommene Verbindlichkeiten (Naturalobligationen), die nicht erzwungen werden können. Der Mangel der Durchsetzbarkeit ändert aber nichts daran, daß der Naturalschuldner wirklich schuldet. Erbringt er die Leistung, dann hat er seine Verbindlichkeit erfüllt und kann das Geleistete nicht etwa mit der Begründung zurückverlangen, der Gläubiger hätte keinen Anspruch gehabt. Das ergibt sich aus § 1432 ABGB, nach dem Zahlungen..., zu deren Eintreibung das Gesetz bloß das Klagerecht versagt, ebensowenig zurückgefordert werden können, "als wenn jemand eine Zahlung leistet, von der er weiß, daß er sie nicht schuldig ist". Da der Naturalschuldner mit der Leistung seine Schuld tilgt, ist im Erfüllungsakt auch keine Schenkung zu erblicken. Als Beispiel einer Naturalobligation nach dem ABGB seien Wett- und Spielschulden genannt. Redliche und sonst erlaubte Wetten und Spiele sind nach den §§ 1271 und 1272 ABGB nämlich insoweit verbindlich, als der bedungene Preis nicht bloß versprochen, sondern wirklich entrichtet oder hinterlegt worden ist. "Gerichtlich kann der Preis (aber) nicht gefordert werden".(Zur Frage der Naturalobligationen vgl zB Koziol-Welser, Grundriß des bürgerlichen Rechts9 I 200f; Rummel in Rummel, ABGB2 I, Rz 12 zu § 859 mwN; Krejci in Rummel II, Rz 69 und 73 zu den §§ 1267-1274; Rummel in Rummel II Rz 1 und 2 zu § 1432).
Daß nach § 4 Abs 4 2. Halbsatz BPGG in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 bei Vorliegen der Voraussetzungen der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe vom zuständigen Entscheidungsträger zu gewähren ist, auf den Differenzbetrag nach dem
2. Satz dieses Abs aber kein Rechtsanspruch besteht und nach dem 3. Satz dieses Abs die Bestimmungen des BPGG mit der Maßgabe anzuwenden sind, daß keine Bescheide, sondern lediglich Mitteilungen zu ergehen haben und der Rechtsweg ausgeschlossen ist, steht miteinander weder in einem Widerspruch, noch verstoßen sie gegen verfassungsrechtliche Grundsätze.
Aus der "eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers" (§ 6 ABGB) ist § 4 Abs 4 BPGG vielmehr so auszulegen, daß in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 bei Vorliegen der Voraussetzungen der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe vom Entscheidungsträger nur als Naturalobligation im oben dargelegten Sinn zu gewähren ist, über die keine Bescheide, sondern lediglich Mitteilungen zu ergehen haben und der Rechtsweg ausgeschlossen ist. Unter Rechtsanspruch iS der auszulegenden Gesetzesstelle ist hingegen in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 ein Anspruch auf Pflegegeld in Höhe der Stufen 1 und 2 und ab dem 1.1.1997 auch auf das Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7 zu verstehen, über den (dann) Bescheide zu ergehen haben werden und der Rechtsweg zulässig sein wird.
Dadurch, daß der Rechtsweg hinsichtlich eines Differenzbetrages zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 gesetzlich ausgeschlossen ist, wird niemand seinem gesetzlichen Richter iS des Art 83 Abs 2 B-VG entzogen. Der verfügte Ausschluß des Rechtsweges im genannten Zeitraum verstieße aber - selbst wenn es sich bei dem erwähnten Differenzbetrag um einen zivilrechtlichen Anspruch oder eine solche Verpflichtung ("civil rights and obligations" bzw "droits et obligationes de caractere civil") iS dieses Art handelte - auch nicht gegen Art 6 Abs 1 MRK. Dieser Art will nämlich keine neuen Rechte schaffen, sondern nur jenen Rechten einen Verfahrensschutz erhalten, die bereits innerstaatlich als Recht anerkannt werden. Die Anwendung dieser Bestimmung setzt also voraus, daß das Recht innerstaatlich gewährt wird. Ein solches Recht besteht aber nicht, wenn generell in einem Bereich die gerichtliche Durchsetzung ausgeschlossen wird (Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (1993) 225f mit Entscheidungsnachweisen in den FN 13ff, Pfeil, Pflegebedürftigkeit als Rechtsproblem, Dritter Teil 2.2.3 in Druck).
Abschließend ist zu betonen, daß es sich bei den Bestimmungen des § 4 Abs 4 BPGG über den Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe in der Zeit ab 1.7.1993 bis zum 31.12.1996 um Übergangsbestimmungen handelt, die zur Vermeidung einer nicht zu verantwortenden Überlastung der Arbeits- und Sozialgerichte aller Instanzen getroffen wurden und dazu auch geeignet sind. Daß Personen, denen ein Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und einer höheren Stufe zu gewähren ist, während des Zeitraumes von 3,5 Jahren darauf keinen Rechtsanspruch haben und den Rechtsweg nicht beschreiten können, macht diese sachgerechte und maßvolle Übergangsregelung nicht verfassungswidrig (vgl Kuras, Das neue Pflegeleistungssystem, ZAS 1993, 161 [165] und die in der FN 37 zit Rsp des Verfassungsgerichtshofes; Pfeil, Pflegebedürftigkeit aaO 2.2.2). Der Gesetzgeber hätte den ihm von Verfassungs wegen eingeräumten rechtspolitischen Spielraum selbst dann nicht überschritten, wenn er Pflegegeld in Höhe der Stufen 3 bis 7 überhaupt erst ab 1.1.1997 eingeführt hätte. Deshalb kann es auch nicht verfassungswidrig sein, wenn er für eine Übergangszeit diesbezüglich nur einen nichtklagbaren Anspruch einräumt."
Da § 4 WPGG mit § 4 BPGG - abgesehen von hier nicht wesentlichen Ausnahmen - wörtlich übereinstimmt, gelten die obigen Ausführungen auch für ihn.
Der angefochtene Beschluß, der der verfassungsrechtlich unbedenklichen und daher anzuwendenden Gesetzeslage entspricht, ist daher zu bestätigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
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